St. Michael Orgelsommer 2023
Freitag, 27. Oktober 2023, 17 Uhr
Kirche St. Michael am Engelbecken, Kreuzberg
Ulrich Eckhardt an der Sauer-Orgel
Der Triumph der Sekunde
Lili Boulanger (1893-1918)
Hymne au Soleil (1912) (für Orgelsolo adaptiert)
Prélude in Des (1911) (für Orgel transkribiert)
Max Reger (1873-1916)
„Komm, süßer Tod“ WoO IV/3 (1893)
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Choral „Komm, süßer Tod“ BWV 478 (1724)
Chromatische Fantasie in d-Moll BWV 903 (1720)
Fassung für Orgel (ca. 1902) von Max Reger (1873-1916)
… ins Offene:
Lili Boulanger – Max Reger – Johann Sebastian Bach
An der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert treten Lili Boulanger (im Widerspruch zu ihrer älteren Schwester Nadia) und Max Reger – beide kaum 20 Jahre alt – heraus aus der überlieferten Tradition der späten Romantik und wagen experimentelle neue Klänge und Konstellationen. Im Falle Regers stützt sich der Komponist auf die Wiederentdeckung und neue Deutung des Bach‘schen Oeuvres, das er sich in symbiotischer Weise anverwandelt hat. Was die Chromatik und Komplexität betrifft, war Bach seiner Zeit weit voraus, was gewiss auch zu seiner Sonderrolle und zu seinem vorübergehenden Vergessen beitrug.
Die beiden experimentellen Kompositionen Lili Boulangers zu Beginn des Programms lassen an Erik Satie denken in ihrer radikalen und elementaren Unbekümmertheit. Sie assoziieren kubistische Malerei in der Verwendung von Bauelementen, die unvermittelt aneinandergereiht sind.
Regers Arbeit an Bachs Erbe tritt schon früh und besonders deutlich hervor in den beiden frühen, der Fachwelt als Anspruch auf Anerkennung in Verlagsbeilagen präsentierten Werken ohne Opuszahl. In „Komm süßer Tod“ stößt Reger unvermittelt zur Zwölftonkomposition vor, was Schönbergs Wertschätzung und Interesse hervorrief. Die minutiöse Kompositionstechnik findet ihre farbige Entsprechung im Expressionismus der bildenden Kunst der Epoche.
Auch die Chromatische Fantasie ist Experimentalmusik, die Grenzen überschritt. Der improvisatorische, expressive und alle Tonarten einbeziehende Stil der Komposition fällt aus dem Strom der Zeit heraus. Entstanden in Köthen, als auch die Chaconne komponiert wurde, erlauben Zeit und Ort die Deutung als Trauermusik. Insofern ist es zu einfach und fahrlässig, das singuläre Werk als Beleg für Virtuosität zu interpretieren und zu missbrauchen. Max Reger nennt es in seinem Manuskript ein „Tombeau“!
Angesichts der Nachricht über den Tod seiner Frau Maria Barbara 1720 komponierte Bachseine berühmte Chaconne für Violine. Dafür wählte er die Tonart d-Moll. Es ist die Tonart der großen Themen: über Tod und Leid, Transzendenz und das Jenseitige. Es ist auffällig und bedeutsam, dass Bach für die Chromatische Fantasie ebenfalls die Tonart d-Moll wählte. Immer sind es die großen spirituellen Themen, die Bach herausforderten zu unerhört neuen Klängen.