Kultur ist kein Luxus, sondern der geistige Boden, der unsere Überlebensfähigkeit sichert.

Richard von Weizsäcker am 11. September 1991
bei der Entgegennahme der Denkschrift „Kultur in Berlin“

Hat Kultur eine Aufgabe in Zeiten von Regression, Atavismus, Gewaltzunahme sowie individuellen, kollektiven, globalen Konflikten? Ja, wenn überkommene, erarbeitete Werte zu scheitern drohen: Liberalität, Religionsfreiheit, Aufklärung, Humanismus, Emanzipation, Toleranz, demokratische Partizipation. Wenn destruktive Energie zunimmt, Menschen zu lebenden Bomben werden und ein Klima der Angst entsteht. Aus der Beschäftigung mit Künsten ist zu gewinnen und zu lernen: Höflichkeit, Empathie, die Fähigkeit zu differenzieren, zu schattieren, zu relativieren, Distanz zu sich selbst zu gewinnen, Reflexion über Ich, Selbst und Welt, sich nicht allein zum Maß zu nehmen, Werte anzuerkennen und daraus eine Haltung zu gewinnen, Traditionen, Überlieferungen zu bewahren.


Wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte kreist das kulturelle Leben Berlin um sich selbst, achtet nicht auf die Erwartungen und Bedürfnisse jenseits der Grenzen. Schaut doch endlich hin und hört hinüber! Wo bleiben die Partnerschaften, die gegen Mauern und Grenzen wirksam sind? Die gut alimentierten und kulturpolitisch gesicherten Institutionen der Berliner Kultur könnten aus ihren regelmäßig und auskömmlich fließenden Mitteln ohne Not den ärmeren und bedrohten Partnern etwas abgeben. Systematische Verknüpfungen von Institutionen können zum beiderseitigen Nutzen künstlerische Kräfte freisetzen und wechselseitiges Vertrauen kräftigen. Ganz praktische Beispiele: Eine kulturelle Kooperation mit kulturellen Kräften der Zivilgesellschaft in Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei, auch Israel und anderswo, wo demokratische Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte bedroht sind, wäre eine konkrete Hilfe und ein wirksames Mittel gegen Verlust der Vielfalt und das Hochziehen von Abgrenzungen, gegen revisionistische Geschichtsbilder und Denkverbote, gegen Nationalismus und autokratische Einschüchterungsversuche. Partnerschaftlich organisierte kulturelle Parallelaktionen dienen der Überwindung trennender geistiger wie physischer Mauern.

Ulrich Eckhardt, aus dem Vorwort und dem Nachwort zu „Über Mauern geschaut“


Foto oben: Maike Edda Raack