Scarlatti – vivi felice – Sonaten

Domenico Scarlatti (1685-1757)
vivi felice

Ulrich Eckhardt spielt ausgewählte Sonaten und Fugen
an einem historischen Bösendorfer-Konzertflügel

K. 87 in h
K. 1 Allegro in d
K. 92 in d
K. 41 Fuga Andante moderato in d
K. 52 Andante moderato in d
K. 8 Allegro in g
K. 30 Fuga Moderato in g
K. 93 Fuga in g
K. 58 Fuga in c
K. 554 Allegretto in F
K. 468 Allegro in F
K. 82 Toccata Allegro in F
K. 69 in f
K. 555 Allegro in f
K. 466 Andante moderato in f


Zu Beginn erklingt die einzige in h-Moll komponierte Sonate – eine deutliche Hommage an den gleichaltrigen Johann Sebastian Bach, dessen Werk er offensichtlich über Abschriften gut kannte. Wiederum Spuren von Scarlattis Musiksprache finden sich bei Bach (z. B. in den Fantasien und in den Goldberg-Variationen). Scarlatti und Bach verband das Interesse an technischen Entwicklungen. Beide waren virtuose Spieler – und immer auf der Suche nach neuen Klängen und Instrumenten. Sie kannten Cristoforis und Silbermanns innovative Fortepianos, die Vorläufer des Hammerflügels. Den starren Clavieren (Gravicembali) sollte Singen, Flexibilität und Eleganz abgetrotzt werden – durch Dynamik und Legato-Spiel. Virtuosität sollte sich mit Emotion verbinden, Chromatik den Ausdrucksgehalt steigern. Sie waren neugierige Klangforscher und traditionsbewusste Revolutionäre, die sich einengenden Ordnungen und Konventionen nicht unterwerfen wollten.

Eigentlich wissen wir bis heute nicht genau, wer Scarlatti wirklich war: Sonderling, Einzelgänger – auch Glücksspieler. Seine Biographie gibt mehr Rätsel auf, als dass sie etwas erklären könnte. Äußerlich war alles wohl geordnet: Ehemann und Vater, Ausbildung und Beruf – in der Nachfolge seines berühmten Vaters Allessandro. Zwischen 1703 und 1718 komponierte er 12 Opern, war 1701 mit 16 Jahren Organist der Hofkapelle in Neapel, machte Karriere in Rom. Dann der radikale Schnitt und Bruch im Leben und Werk: 1719 kündigt er 33-jährig das höchste kirchenmusikalische Amt Italiens – die Leitung der Capella Giulia im Vatikan, um 1720 nach Portugal auszuwandern. Zunächst war er Hoforganist und -kapellmeister in Lissabon.

Die Befassung mit Kirchenmusik gibt er auf, als er 1729 im Gefolge seiner polnischen Schülerin Maria Barbara, der portugiesischen Infantin und designierten spanischen Königin, erst einige Jahre nach Sevilla und 1733 schließlich endgültig für den Rest seines Lebens nach Madrid übersiedelte. Bis zu seinem Tode 1757 wirkte er ausschließlich als Privatcembalist der Königin.

Von nun an komponierte er ausschließlich „Essercizi per gravicembalo“ – eine in dieser Konsequenz einzigartige Beschränkung des Repertoires. Zu keiner dieser biografischen Entscheidungen, die von einer souveränen Verachtung aller nur denkbaren Konventionen des 18. Jahrhunderts zeugen, gibt es Dokumente – nur Gerüchte, Legenden, Mutmaßungen. Sein Erfolg und Ruhm in der europäischen Musikwelt stellte sich erst ein, nachdem 1739 in London für Maria Barbara komponierte 30 Essercizi erschienen waren. Zu ihr hatte er möglicherweise eine enge und innige Beziehung. Manche Sonaten lassen sich als komponierte Liebesbriefe lesen.

Die Sonaten, Fugen und Toccaten komponierte er für alle Arten seinerzeit bekannter und am Hof vorhandener Tasteninstrumente (= Claviere): Cembali aller Art, auch Hausorgel – vorauseilend für ein imaginiertes, in Ansätzen bereits entwickeltes, noch nicht ausgereiftes Hammerklavier.

Insgesamt sind 555 (seit einem Zufallsfund in 2006: 556) einsätzige Sonaten erhalten; sie existieren nur als Abschriften aus späterer Zeit. Was noch in Lissabon entstand, ging mit dem großen Erdbeben 1755 verloren. Selbst hatte er sich nie um deren Veröffentlichung gekümmert, waren sie doch allesamt seiner (Herzens-)Königin gewidmet. Gleichwohl gehören diese genialen Werke der kleinen Form in ihrem lapidaren Charakter zum wegweisenden – nur zu einem Bruchteil bekannten – Schatz der Musikgeschichte – stilistisch weit über die Entstehungszeit hinauswirkend.

Die Gründe für die langanhaltende Unterschätzung Domenico Scarlattis haben mit den Geheimnissen um seine Persönlichkeit ebenso zu tun wie mit den Provokationen seiner Musik. Vor dem 20. Jahrhundert hat kein anderer Komponist es gewagt, sich derart radikal von seinen kulturellen Traditionen abzuwenden. Im Zentrum der Gegenreformation entstand ein Werk von radikaler Diesseitigkeit, eine profane Kunstmusik, die sich an keiner Stelle zu Repräsentationszwecken herbeilässt, die nichts und niemanden feiert außer der schieren Freude am Dasein. Sie changiert zwischen Kalkül und Spontaneität, Ironie und Pathos, macht exzessiven Gebrauch von Repetitionen und harmonischen Wechseln und Überlagerungen.

Das frei polyphone Sonatenwerk bietet ein unerschöpfliches Kompendium der Klavierkunst. Radikaler als seine Zeitgenossen emanzipiert Scarlatti das Spiel auf Tasteninstrumenten; in der Freiheit seiner Stimmenführung ist er der musikalischen Entwicklung um ein Jahrhundert voraus. Seine am Klang orientierten, aus kontrollierter Improvisation heraus entstandenen Kompositionen dynamisieren das Tastenspiel mit Accaciaturen, Sprüngen, Arpeggi und Glissandi; die Tempi haben motorische Verve. Archaisierende Modi und insistierenden Figuren verleihen den Klängen hochfliegendes Pathos.

Scarlattis Musik ist filigran, vital, enthusiastisch, kühn, pittoresk, tänzerisch, poetisch und immer stark rhythmisch; sie weist überraschende harmonische Kontraste auf und sollte in fließenden Bewegungen gespielt werden. Der Interpret möge bedenken, dass diese Sonaten für ein Tasteninstrument der Zukunft gedacht sind – das Hammerklavier. Der Klang des auf dieser CD zu hörenden, um 1900 gebauten Bösendorfer-Konzertflügels aus dem Besitz des Wiener Musikvereins kommt dem besonderen Charakter des Hammerflügels ziemlich nahe.


Scarlattis Vorwort zu den »Essercizi« 1738

Lettore,
Non aspettarti, o Dilettante o Professor che tu sia, in questi Componimenti il profondo Intendimento, ma bensi lo scherzo ingegnoso dell‘ Arte, per addestrarti alla Franchezza sul Gravicembalo. Nè Viste d’ Interesse, nè Mire d’ Ambizione, ma Ubidienzia mossemi a publicarli. Forse ti saranno aggradevoli, e più volentieri allora ubidirò ad altri Comandi di compiacerti in più facile e variato stile: Mostrati dunque più umano, che critico;  e si accrescerai Le proprie Dilettazioni. …
Vivi felice

Spieler,
ob Liebhaber oder Profi, erwarte in diesen Kompositionen keine Tiefgründigkeit, sondern vielmehr eine geistreiche Lust an der Freiheit auf dem Cembalo. Nicht wegen eigener Interessen oder ehrgeiziger Ziele, sondern aus Hingabe ließ ich sie veröffentlichen. Vielleicht gefallen sie dir – dann werde ich umso mehr bestrebt sein, weiterhin einem leichten, abwechslungsreichen Stil zu folgen. Erweise dich eher wohlgesonnen als kritisch; so wirst du das eigene Vergnügen nur vermehren. … Sei glücklich!


Domenico Scarlatti
vivi felice
Ulrich Eckhardt an einem historischen Bösendorfer-Konzertflügel
Live-Mitschnitt: Reiner Wirth, 3. Juni 2017
Großer Saal des Gemeindehauses der Ev. Kirchengemeinde Berlin-Dahlem
Spieldauer 57 Minuten / Cover: Iwona Mickiewicz
℗ + © 2021 Note&Ton | Best. Nr. NTW 2103 | € 15,- + € 2,- Versandkosten
Bestellungen: Note&Ton