Zum künstlerischen Werk von Johanna Ems
Jo Eckhardt (1934 – 2011) gab sich den Künstlernamen Johanna Ems. Ems steht für ihre Herkunft aus dem Emsland, jener klar geprägten Landschaft im Norden. Weitgehend im Verborgenen schuf sie über fünf Jahrzehnte Bilder und Skulpturen von starker emotionaler Energie. Mit kraftvollen Farblandschaften und Raumbildungen hinterließ sie eindrucksvolle Spiegelungen eines reichen Lebens, die auch als Botschaften aus tiefen Schichten des Daseins zu lesen sind. In Ausstellungen kann zwar nur ein Ausschnitt ihres umfangreichen Werkes gezeigt werden, der es aber ermöglicht, uns auf ihre Bilder und Skulpturen mit dem Auge und mit dem Herzen einzulassen.
Sie hat sich immer für andere Künstlerinnen und Künstler, für Ausstellungen und Projekte eingesetzt und diese oft selbst initiiert; sie hat eine langjährige, mühevolle und bewunderungswürdige Arbeit nicht nur für die Berliner, sondern auch für die deutsche und internationale Kunst geleistet, indem sie ein Videoforum leitete und eine Sammlung der Video-Kunst aus Ost und West zusammentrug.
Dafür hat sie ihre eigene schöpferische Tätigkeit in die zweite Reihe gestellt, vor den Augen anderer verborgen. Sie hat sich einen Rückzugsort geschaffen, um dort ihr persönliches Werk zu entwickeln. Man könnte annehmen, dass die Zeit dafür bei allen anderen Aufgaben, die sie ausübte, nicht ausreichend gewesen sein mag, aber im Gegenteil, ihr nachgelassenes Werk ist nicht nur umfangreich, sondern auch vielfältig und vielschichtig.
So ist sie uns in ihren Skulpturen, Zeichnungen und Collagen unmittelbar gegenwärtig und nahe. Die Bewegungen ihrer Hand, die behutsame und zielsichere Führung der Werkzeuge an den hölzernen Skulpturen sind ablesbar, die Form- und Farbentscheidungen in den Gouachen sind nachzuempfinden, die Farb- und Papierwahl in den Collagen können wir beim aufmerksamen Hinsehen genau verfolgen. Man meint sogar, den Arbeiten und ihrem Entstehungsprozess die damals vorherrschende augenblickliche Befindlichkeit des Tages und der Stunde ablesen und erspüren zu können.
Zum Frühwerk von Johanna Ems gehören Pinselzeichnungen in quellenden Grau- und Blautönen aus den Jahren 1962 bis 1965, die schwellende körperhafte, voluminöse Wachstumsformen festhalten, ähnlich wie wir sie in einer Bronzeskulptur beobachten können, wo Wölbungen miteinander zu einem wuchernden Organismus verschmelzen. Zeichnungen mit filigranen Liniennetzen über frei fließenden landschaftlich anmutenden Hintergründen in hellem Blau, Rosé und Ocker.
Die Versponnenheit des Linienspiels, der Linienführung erinnert an Wols, den Ahnherrn des Informel in den der 50er Jahren. Sein Werk lernte Johanna Ems in ihrer Pariser Zeit kennen. Die Federzeichnungen „Illumination I und II“ entstanden 1963 als eine Hommage an Rimbaud. Die dicht oder locker geführten Linienverästelungen in schwarzer Tusche werden durchfunkelt, ja durchsprüht von der Farbigkeit der Gründe, die Farbinseln gleichen, über denen die Linien sich verzweigen Diese leidenschaftlich und vehement niedergeschriebenen Linien sind als sensible Spuren einer inneren Bewegung zu deuten.
Zum Frühwerk gehören auch zwei Holzstelen. Aus Obstbaumholz gehauen, geschnitten und geschnitzt, geritzt, gekerbt und gefurcht und zu neuen Wachstumsformen ausgebildet und ausgeformt, sprechen sie von einer tiefen Beziehung zwischen Material und Form. Die Konzentration auf Organisches oder die Reduktion auf einfache Grundformen hat Johanna Ems wohl von ihrem Lehrer Paul Dierkes übernommen, um Figuratives zum Zeichen stilisieren, zum Symbol reduzieren zu können. Die Sprache des Holzes war ihr wichtig, sie entnahm ihre bildnerische Intuition dem gegebenen Material. Sie hat die Arbeitsspuren des Hohleisens, der Schnitzmesser und Raspeln der Holzart angepasst, dadurch vermochte sie die Schwingungen des Wuchses, die Dichte des Holzes und den Verlauf der Maserung, einschließlich der Risse und Astlöcher, wahrnehmbar zu machen. Kleinere oder größere Höhlungen wechseln mit Wölbungen, glatte Holzpartien folgen Auflockerungen und Überlagerungen, Flächiges breitet sich neben Linearem aus. Nicht abrupt finden diese Wechsel und Übergänge statt, sondern im Fließen wächst und entwickelt sich Zentimeter um Zentimeter eine Form aus der anderen, so dass man den Eindruck von Wachstum und Bewegung gewinnt. Wenn wir die Holzstelen mit unseren Augen genau abtasten, wenn wir den Wechsel oder die Gegenüberstellung von konkaven und konvexen Formen, von negativer und positiver Struktur, von Bewegtheit und Ruhe, von Volumen und Kargheit, Rundem und Kantigem, von Sperrigem und Fließendem verfolgen, aus denen die Künstlerin aus dem Holz heraus ein neues „Gewächs“, eine neue Gestalt entwickelte, in der wir eine menschliche Figur assoziieren, die zugleich Vegetatives und zeichenhaft Abstraktes verkörpert, dann erleben wir die Imagination ihrer plastischen Vorstellung. Johanna Ems schuf in den letzten Jahren Objekte und Gestaltungen aus Papier und Pappe sowie Collage-Skulpturen aus Restpapieren und Weggeworfenem.
Vielfalt ausdrucksstarker Arbeiten ist zu bewundern. Farbräume und Durchblicke bilden imaginäre Landschaften, die die innere Befindlichkeit der Künstlerin expressiv widerspiegeln. Strich und Farbfeld stehen zueinander im Kontrapost, Spontaneität und Vehemenz der Pinsel- und Strichführung gewinnen in diesen Blättern Dominanz.
Ihre Pinselzeichnungen sind in Mischtechnik ausgeführt. Neben Gouachefarben sind auch Kreiden, Kohle und collagierte Papierteile verwendet und integriert worden, sogar vertrocknete Rosenblätter sind zu entdecken. In allen Arbeiten scheint ihr vielseitiges Formenrepertoire auf, das zeichnerisch, malerisch oder auch collagiert verwendet wird: es ist der Aus- und der Durchblick, der Ein- und der Überblick, der in den oft architektonisch oder körperhaft gebauten Farbkompositionen Dominanz gewinnt. Man assoziiert Wege und Tore, Treppen, Dächer und Häuser, Öffnungen und Auffaltungen, Figur und Kopf, Vegetabilisches und Landschaftliches, Stillebenhaftes, Körperhaftes und Skulpturales, Wasser und Himmel, Fels und Berg. Nicht nur mit den Formen und Flächen, sondern insbesondere auch mit den Farben vermag die Künstlerin Raum und Tiefe, Nähe und Ferne zu entwickeln. Diese phantastischen Bildräume sind nicht näher definiert, sicherlich resultieren sie aus gespeicherten optischen Erlebnissen und verarbeiten unterschiedliche Blicksequenzen. Durch Überlagerung und Schichtung, Überlappung und Abgrenzung der Farbfelder und Farbformen schafft sie Spannung oder Beruhigung, Expressivität oder Harmonie. Unruhige Formen und gestischer Duktus breiten sich oft über farbig beruhigtem Hintergrund aus. Sensibel und ausgewogen oder kontrapunktisch hart setzt die Künstlerin die Farbe ein, aus der sie Räumlichkeit und Form gewinnt. Die Farbübergänge können dabei fließend sein, wie im Aquarell, oder sie werden durch schwarze Konturen begrenzt und schroff von einander abgesetzt.
Die von der Bildhauerei beeinflussten Kompositionen und Bildstrukturen der Gouachen, in denen Voluminöses oder Karges, Sperriges, Kantiges, Rundes oder Fließendes in Balance gebracht werden, wo Ruhe und Dramatik sich ergänzen, wo kühle Farbigkeit und energievoll geladene Farbpracht zu Ausgewogenheit führen, entsteht ein vor allem auf Spannung oder energiegeladene Ruhe ausgerichtetes Bildganzes.
Da Johanna Ems ihren Arbeiten – mit wenigen frühen Ausnahmen – nie Titel gegeben hat, wird der Betrachter seiner freien Assoziation, seiner Phantasie und seinem Vorstellungsvermögen überlassen, das war ihr wohl wichtig.
Neben der Verwendung collagierter Papiere in den Zeichnungen sind auch „reine“ Collagen vertreten. Nicht nur die Reihe der postkartengroßen Formate, sondern auch die spitz geformte Silberpapiercollagen zeigen neue Bildräume auf, die während des Arbeitsprozesses entstanden. Kein Blatt wiederholt sich, keine Routine stellt sich ein. Die Collagen zeichnen sich durch reiche Farbvaleurs, durch große Formenvielfalt und durch unterschiedliche rhythmische Flächengliederung und Raumtiefe aus, so dass sie auch verschiedenartige Ausdrucks- und Stimmungswerte hervorzurufen vermögen. Neben Buntpapieren werden Abfallpapiere, Reste, Weggeworfenes verwendet, um neue Bildqualitäten zu gewinnen und verblasste Erinnerungen zu bannen. Klar gebaute Blätter wechseln mit undurchdringlich dichten Kompositionen, starke Farbigkeit wechselt mit zurückhaltenden Farbtönen. Auch hier spürt der Betrachter die Faszination der Künstlerin, die sie bei der Arbeit beherrscht haben muss. Er wird von ihrer Bildwelt gefangen genommen, und bewundernd steht man vor ihrer handwerklichen Sorgfalt, vor ihrem sublimen Farb- und Formempfinden und der Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten.
Sibylle Badstübner-Gröger, im Katalog „Lebenslinien“
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