Sie schafft heimlich Technik in den Osten und zeigt die Kunst im Westen
Geboren wird sie als Gisela Hansen, eine von vier Töchtern des Dorflehrers von Bexten im Emsland. Der ist mehr als ein Lehrer. Mit homöopathischen Globuli heilt er die Krankheiten der Landleute. Die Bezeichnung Dorf dagegen ist für die Ansammlung von zwölf Gehöften eher hoch gegriffen. Nicht einmal Strom haben sie dort. Nach dem Abitur besucht Gisela die Pädagogische Hochschule in Münster. Bei einem Konzert im Kloster Bentlage verliebt sie sich in den Pianisten. Für die nächsten 55 Jahre wird Ulrich Eckhardt ihr Begleiter auf großer Tandemfahrt durchs Leben.
1958 tritt sie ihre erste Stelle als Grundschullehrerin an, merkt aber rasch, dass sie das Unterrichten von Schönschreiben und Grundrechenarten nicht ausfüllt. Sie möchte etwas mit den Händen gestalten, die Natur unter den Fingern. Sie will Bildhauerin werden und ist der Meinung, das könne am besten in West-Berlin gelingen. 1959 zieht sie in die kriegslädierte, noch nicht ummauerte Halbstadt. In dieser Zeit drängt es nicht viele dorthin. Ulrich muss nachkommen. Er brauche keine Angst zu haben, versichert sie ihm.
Fortan nennt Gisela sich Johanna – oder besser, weil einfacher: Jo. Das ist ihr Kampfruf für den Aufbruch. An der Hochschule für Bildende Künste ist sie die einzige Frau in der Steinbildhauerklasse von Paul Dierkes, dessen goldenes Kreuz den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ziert. Nach der Meisterprüfung gibt sie sich den Künstlernamen Johanna Ems – die aus dem Emsland eben.
Jo lebt am Puls der Zeit. In ihrer WG wohnt Eberhard Roters, der später die Berlinische Galerie aufbauen wird. Stammgast ist sie in der avantgardistischen Galerie Diogenes, gegründet vom Schauspieler Günter Meisner.
Mitte der Sechziger bekommt sie zwei Kinder, und weil Ulrich eine Stelle in Münster antritt, zieht die ganze junge Familie dorthin. Später geht es weiter nach Bonn. Noch in Münster findet Jo einen Mäzen, der ihr ein Atelier zur Verfügung stellt. Wären da nur nicht ihre Zweifel am eigenen Talent. Bald wird sie es sich zur Aufgabe machen, vermeintlich Bessere zu fördern.
Pionierarbeit für Videokunst
Als ihr Mann Intendant der Berliner Festspiele wird, kehren sie zurück in die Stadt. Die Leiterin des Neuen Berliner Kunstvereins, kurz NBK, lädt Jo zur Mitarbeit in der Artothek ein. Video ist ein neues Medium in der Kunst, aber noch nimmt kaum jemand die Möglichkeiten der elektronischen Bilder ernst. Fünf oder sechs Videokassetten groß ist die Sammlung beim NBK. Jo wird 1977 Leiterin des Video-Forums und leistet Pionierarbeit. Sie macht Deutschlands älteste Sammlung internationaler Videokunst zur größten Europas. Kein leichtes Unterfangen in einer Zeit der Renaissance expressiver Malerei.
Liebenswürdig wie sie ist, gelingt es ihr, an wichtige Werke zu gelangen. Gleichzeitig kümmert sie sich um neue Projekte. In die Künstler setzt sie hohes Vertrauen. Ein Drehbuchentwurf genügt ihr, um per Handschlag die Finanzierung zuzusagen. Die Arbeiten begleitet sie dann kritisch, manchmal auch undiplomatisch, aber immer konstruktiv.
Wechselwirkung von Fantasie und Kalkül
Seit Mitte der Achtziger regt sie den Austausch von Künstlern aus Ost und West an. In der DDR gilt Videokunst als staatsgefährdend. Jo schafft heimlich Technik nach drüben und zeigt das dort Entstandene im Westen. Im folgenden Jahrzehnt setzt sich die Kunstform mehr und mehr durch. Kein zeitgenössisches Museum, kein Festival von Rang kommt mehr ohne die bewegten Bildschirmbilder aus. Jo hat ihren Teil dazu beigetragen. Nach 24 Jahren im Video-Forum wird sie pensioniert und kann sich neuen Projekten widmen. So auch einer Kabinettgalerie, die sie 2008 eröffnet und „Abakus“ nennt. Das Rechengerät, sagt sie, symbolisiere „im Spiel mit Zahlen die Wechselwirkung von Fantasie und Kalkül“. Sie wohnt in Zehlendorf, die Galerie befindet sich am Weißen See. Dort leben nämlich viele junge Künstler, die es bekannt zu machen gilt, auch wenn sie Dinge tun, die mit aktuellen Moden auf dem Kunstmarkt nichts zu tun haben. Legendär ist ihr selbst gebackener Vernissagekuchen.
Jo bekommt eine Krebsdiagnose – und arbeitet zwischen den Operationen weiter wie gehabt, bereitet drei Ausstellungen für 2012 vor und spricht im November auf ihrer letzten Eröffnung. Zur Finissage kann sie nicht mehr erscheinen. Fünf Tage später ist sie tot. Beerdigt wird sie unweit der Ems neben den Eltern und einer Schwester. Die Gedenkveranstaltung im NBK besuchen viele.
Thilo Bock, Der Tagesspiegel, Berlin, 3. 2. 2012
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