Der Anreger

Eine Portrait-Skizze von Rainer Höynck (1997)

Foto Efraim Habermann

Warum erwähne ich gleich im ersten Satz, daß ich Ulrich Eckhardt 1972 kennenlernte, am 12. Dezember als Interviewer zur Begrüßung des neuen Festwochen-Chefs in der Berliner Abendschau? Weil deutlich werden soll, daß der folgende Text nicht dem Thema Berliner Festspiele gilt, sondern einer besonderen Person.

Im Regionalfernsehen sagte Ulrich Eckhardt damals, daß Festspiele weniger Repräsentation brauchen als vielmehr Werkstatt und Erprobung und Reflexion. Von Jahr zu Jahr deutlicher entwickelten sich nun die Festwochen zu dramaturgisch konzipierten, Zusammenhänge vermittelnden Veranstaltungen, weit entfernt von anderen europäischen Festivals. Bewährt hat sich dabei das Prinzip, für jedes Jahr ein Leitthema zu wählen und Reihen zu konzipieren, aber dabei nicht auf einzelne sinnvoll erscheinende Angebote zu verzichten, die nicht zum Schwerpunkt gehören. Auch ist die Terminierung im September nicht zwingend, wenn sich davor oder danach bedeutende Gastspiele nach Berlin holen lassen oder wenn besondere Ereignisse bedacht werden wollen. Auch weiß Eckhardt weiß natürlich, welche Trends angesagt sind. Und das Publikum ist ihm ein ernstzunehmender Partner.

Bei Eckhardts Amtsantritt war der Kalte Krieg noch längst nicht überwunden, und Berlin war ein Hauptschauplatz. Als „leidenschaftlichen Horchposten“ an der Grenze zwischen westlicher und östlicher Weltsicht hat Eckhardt Berlin einmal bezeichnet. Er sah die Stadt nicht als Manifestation eines dauerhaften Antagonismus, sondern als Seismographen der sich anbahnenden Veränderungen und zugleich als deren Impulsgeber. „Vorahnungen künftiger, sorgsam entwickelter Zusammenarbeit“ hat er aufgespürt und gebündelt, zugleich aber auch hart daran gearbeitet, Vertrauen für eine solche Zusammenarbeit aufzubauen, Vorurteile zu entkräften und Klischees aufzulösen. „Berlins eigene Zukunft wird davon abhängen“, schrieb er drei Jahre vor dem Fall der Mauer, „ob es seine europäische Mittellage als Ort des Austauschs wieder aufnehmen kann“.

Die GmbH-Konstruktion der von Bund und Land betriebenen Institution, ersonnen, um Fesseln kameralistischer Haushalts-Ordnungen zu lockern, schuf Probleme von weltpolitischen Dimensionen. Die sowjetischen Vorstellungen von einer „selbständigen Einheit Westberlins“ (ohne Bindestrich) stießen sich an einer Bundespräsenz in Institutionen, die sich um Kulturaustausch bemühten. „Kulturpolitik ist insoweit nicht autonom, sondern muß sich mit der Außenpolitik der Bundesrepublik abstimmen“, sagte Eckhardt 1972. Im Rahmen dieser Vorgaben entwickelte er schrittweise die Voraussetzungen zur Öffnung, mit einer Mischung aus Behutsamkeit und Beharrlichkeit, die schließlich zum Erfolg führte. Diese Mischung entsprach gewissermaßen seinem Wesen: Zurückhaltung und Bescheidenheit anstelle von Machtdemonstration und Muskelspielen.

Nach jahrzehntelangem Widerstand der DDR gelang es schon vor dem Fall der Mauer, DDR-Bühnen, die man bereits lange im Blick hatte, auch tatsächlich nach West-Berlin zu holen. Zuerst kam das Staatsschauspiel Dresden mit Hebbels „Die Nibelungen“ 1988 zu den Festwochen. Im Jahr drauf nahmen DDR-Inszenierungen am Theatertreffen selbst mit offizieller Juryauswahl teil. Die typisch Berliner Mischung von Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn, die Ahnung eigener Provinzialität und die Einbildung von Weltstadt-Niveau (nach dem Mauerfall kaum verändert, jedoch komplizierter) gilt nicht für die Festspiele. Hier werden Internationalität, Qualität und kritische Standortbestimmung selbstverständlich praktiziert und nicht nur behauptet.

Dem wachsenden Sog zu Events statt zur Kontinuität, zu Highlights statt zur Bildungsarbeit, zu Glamour-Extensivität statt zur Werkstatt-Intensivität ist schwer zu widerstehen. Die Festwochen würden ihrem Publikum natürlich nicht die Star-Dirigenten und Spitzen-Orchester verweigern, nicht die weltweit führenden Truppen von Brook, Mnouchkine, Strehler und so weiter – aber die Programme spiegeln eine Prioritäts-Setzung jenseits des immer neuen Rummels um das immer wieder Gerühmte. Rücksicht auf PR-Interessen privater Geldgeber wird (vorerst?) nicht genommen, wenn sich auch in den letzten Jahren immer häufiger Notstände, besonders finanzielle, ergeben, gegen die Strategien von Sponsorship halfen. Ein Blick auf die wachsende Zahl von Firmenlogos auf Programmheften, Pressenotizen, Journalen, Eintrittskarten spricht Bände, doch gelang es bisher immer, inhaltliche Einflußnahmen zu vermeiden.

Manchen Berliner Höhepunkt hat Ulrich Eckhardt mehr oder weniger in Personal-Union verwirklicht, darunter als Beauftragter des Senats für das Stadt-Jubiläum 1987.Auch hier ist es ihm zu danken, daß er den Verlockungen zu einer folgenlosen Selbstfeier nicht erlag, sondern aus seinem kritischen Kulturverständnis heraus manches Element der Selbstbefragung ins Programm nahm. „Berlin ist keine zum Historisieren neigende Stadt, keine Stadt der Feiertage“, schrieb Eckhardt; „in Berlin ist eine Geschichtsfeier recht eigentlich ein Anachronismus“. Und nun auf ins neue Jahrtausend. Wer ist dafür der Beauftragte des Landes? Richtig: Ulrich Eckhardt. Der „Normalbetrieb“ der Festspiele ist offensichtlich ein zu enger Rahmen für die Vielfalt und Intensität seiner Ideen und Energien in der Auseinandersetzung mit der sich wandelnden Rolle der Metropole. Also wieder eine Gewähr für den Anspruch, den „Blick zurück“ mit dem „Blick in die Zukunft“ zu verbinden. Das „geistige Abenteuer des Experiments“, ein von Eckhardt 1977 für die Ausstellung „Tendenzen der Zwanziger Jahre“ geprägtes Wort, könnte auch als Leitmotiv für die 2000-Jahr-Programme gelten, sofern die nicht kaputtgespart werden.

Viele Etappen der jüngeren Geschichte wurden im Lauf der Jahre ins Blickfeld gerückt. Im Vordergrund stand jedoch immer wieder die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Eckhardts Engagement für die Wiederentdeckung des Gestapo-Geländes, für die „Topographie des Terrors“ war in der Sache selbst begründet. Zugleich hat er diese Aktivitäten jedoch im konstruktiven Sinne „instrumentalisiert“. Erst die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit, „ohne Verschulden und Verluste zu verschweigen“, gibt uns die Freiheit, Zukunftsplanungen und Utopien zu entwickeln. In dem anfangs erwähnten Interview zu seinem Amtsantritt 1972 sprach Ulrich Eckhardt davon, daß es ihm zu wenig sei, wenn nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung vom Kulturangebot erreicht werden. Er wolle weitere Bevölkerungsgruppen ansprechen, zum Beispiel Kinder und Ausländer. „Ich sehe Kultur als Bestandteil eines gesellschaftlichen Systems, in dem die kulturellen Möglichkeiten eingesetzt werden für die Zwecke der Bildung und der sozialen Betreuung. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, daß der Beitrag, den Kunst da leisten kann, in seinem Wert bis jetzt noch gar nicht recht erkannt worden ist …“

Rainer Höynck, in: „Die Berliner Festwochen – eine kommentierte Chronik 1951-1997“