Es war einmal eine Zeit, da in Berlin noch nicht Kultur produziert wurde wie andernorts Patentklebstoffe oder Einspritzdüsen. West-Berlin war eingemauert und entwickelte Spleens und Stile ganz eigener Art, im Stillen eher, jedenfalls meist ziemlich im Abseits. Um zu verhindern, dass die Frontstadt kulturell allzu verschroben und eigensinnig wurde, gründete man 1967 die GmbH „Berliner Festspiele“, die durch Festivals und Gastspiele aller Art für eine enge geistige Anbindung an Westdeutschland und Westeuropa sorgen sollten. Kulturelle Nabelschnur sollten sie sein und vor allem ein „Schaufenster des Westens im vorgeschobenen östlichen Raum“.
Dass sie mehr wurden, ist neben den politischen Mentalitätswechseln vor allem einem zu verdanken: Ulrich Eckhardt, dem Intendanten der Festspiele von 1973 bis 2000. Der gelernte Jurist und Dirigent, leidenschaftliche Orgelspieler und bis dahin Kulturreferent der Stadt Bonn krempelte die Festspiele um. Er machte sie von einer bloßen Gastspielagentur zu einer Veranstaltungsinstitution mit programmatischem Profil. „Schönberg und der Beginn des 20. Jahrhunderts“ und „Mare Nostrum – Kultur des Mittelmeers“ hießen die ersten von ihm verantworteten Festwochen. Neben dem obligatorischen Glanz großer Solistennamen und Orchester kam nun die intellektuelle Herausforderung hinzu. Der Austausch mit Westdeutschland reichte ihm schon lange nicht mehr: Die Horizonte-Festivals wurden zu ideellen Vorläufern des Hauses der Kulturen der Welt. Aber auch das Nahe rückte ins Augenmerk der Festspiele: Bald nahm Eckhardt auch Berliner Themen ins Programm auf und eröffnete damit eine Perspektive, die zum zweiten Großauftrag der Festspiele wurden: die Beschäftigung der Stadt mit sich selbst, die Entwicklung eines kritischen Selbstbewusstseins, die offene Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Ulrich Eckhardt wirkt immer eine Spur belustigt, wenn er große Worte in den Mund nehmen muss. Er ist gern selbstironisch und liebt die Geschichte der kleinen Leute mehr als die der großen Politik. Gerade deswegen sind ihm die großen Geschichts- und Jubiläumsprojekte, die er verantwortete, so gut gelungen. Es ist ihm zu verdanken, dass die in der Vorbereitungsphase zunächst ungeliebten Veranstaltungen zu 750 Jahren Berlin (das Wort „Feier“ vermied er ohne Ausnahme) nicht nur nicht peinlich wurden, sondern erste Manifestationen eines entspannten Lebensgefühls, für das man Berlin derzeit so gerne lobt.
Entspannt hat er auch das Verhältnis zu Preußen. In dem maßgeblich auf sein Betreiben hin zugänglich gemachten Martin-Gropius-Bau leitete 1981 die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ eine Neubewertung und differenziertere Betrachtung Preußens ein. Dazu trug die herbe Poesie des Ortes bei. In dem notdürftig wiederhergestellten und gerade deshalb überwältigenden Bau, an der Mauer gelegen neben der Ruine des Preußischen Herrenhauses, heute Sitz des Bundesrates, ließ sich Preußens Geschichte auf sinnfälligen Trümmern erleben – in einem Ausstellungsessay, der für viele Folgeprojekte dieses Genres vorbildlich wurde.
Bis zur feierlichen Absolvierung des kalendarischen Wechsels vom 20. ins 21. Jahrhundert blieb Ulrich Eckhardt Berlins oberster Zeremonienmeister. Er hatte eine Gestaltungsmacht wie kein Intendant mehr nach ihm und wusste sie gegen politische Vereinnahmung klug einzusetzen. Einheitsfeiern, Zeitwende, Stadtjubiläum – wie peinlich hätte das alles werden können. Aber mit Eckhardts heiterer Nachdenklichkeit, seinem feinen Gespür für die Schönheit der kleinen Gesten und mit seinem Sinn für Melancholie rettete er stets die großen Töne vor dem schalen Beigeschmack.
Harald Jähner, für die Berliner Zeitung zum 28. Mai 2014