Die Orgel – eine Zeit-Maschine

Zu allen Zeiten – vom Mittelalter bis zur Gegenwart – sind Mystiker am Werk, wenn sie mit ihren Kompositionen für die Orgel die Klänge des Jenseits nachbilden wollen – nach Transzendenz strebend. Die Erweiterung der Klangräume soll ihnen dazu dienen, das Universums erahnen zu lassen – so utopisch das auch sein mag.

Die Orgel ist – wie kein anderes Musikinstrument – dazu geeignet, die metaphysischen Anlagen der Musik wiederzugeben. Wie sie durch permanenten Luftstrom farbige Klangwelten erzeugt, hat einen hohen Grad an Abstraktion – als Simulation oder Symbolisierung des Ewigen. Wohl deshalb holten die Mönche des Mittelalters die Orgel aus den Kunstkammern der Fürsten in die Kirchen der Klöster. Dieser Genealogie entspricht ein universelles Repertoire an Orgelliteratur, das von der Gegenwart bis ins Mittelalter zurückreicht.

Als Organist – so sehr ich mich auch bemühte – kann ich meine subjektiven Empfindungen nicht unmittelbar in der Dynamik des Körpers, der Hände und Finger ausdrücken. Mir bleibt nur das wirksame Mittel abwechslungsreicher Phrasierung, um Emotionen auszudrücken und auszulösen; dieses scheinbare Defizit wird wett gemacht durch höheren Schalldruck und Mischung opulenter, differenzierter Klangfarben aus unterschiedlichen Registern.

Die Orgel ist eine Maschine, und als Spieler löse ich einen naturgesetzlichen Vorgang aus: Über die Tastatur steuere ich Luft aus dem Blasebalg in die Orgelpfeifen. Durch permanenten Luftstrom erwacht das Instrument zum Leben und wird zum atmenden Organismus – daher sein Name: Orgel. Der Organist spielt mit Luft und schlägt nicht auf Saiten aus Stahl.

Der Orgelbauer bestimmt durch das Wunderwerk der mechanischen Trakturen und des Pfeifenbaus die Qualität des Instruments. Es handelt sich um die größtmögliche Umwandlung von Materie in Geist. Jede Orgel ist ein Unikat mit eigenem Charakter. Keine Orgel gleicht einer anderen; folglich führen auch Konzerte stets zu unterschiedlichen Hörerlebnissen. Eine Orgel will aufgrund ihres solitären Charakters vom Spieler erobert werden, manche widersetzen sich, manche kommen ihm entgegen.

Als Organist empfinde ich Ehrfurcht vor dem Instrument und großen Respekt für den Orgelbauer. Von seiner Kunstfertigkeit beziehe ich die von mir ausgewählten Mittel der Klangerzeugung. Während ich mich als Pianist ans Klavier setze und loslege, muss ich den Spieltisch der Orgel besteigen und – ehe der erste Ton erklingt – den Apparat mit seinen vielen technischen Details organisieren – nicht ohne vorher die Schuhe zu wechseln – ein Ritual wie beim Eintritt in ein Heiligtum. Vorher hatte ich die Wohnstube verlassen, um einen sakralen Kulturraum aufzusuchen. Wenn dann innere Ruhe einkehrt – spirituelle Versenkung statt Exaltation – gelingt das Spiel mit der Unendlichkeit.

Die Klangwellen einer Orgel berühren den Hörer nicht nur psychisch, sondern in starkem Maße auch physisch. Die Orgel deckt das gesamte für den Menschen hörbare Frequenzspektrum ab. Im Konzert strebe ich an, die ganze Bandbreite auszuschöpfen und in Werken aus allen Epochen den orgelspezifischen Reichtum an Klangfarben zur Geltung zu bringen – vom monastischen stillen Organum über eine virtuose venezianische Toccata, eine symphonisch dichte Bach-Fantasie, bis zu meditativen  und narrativen Werken der jüngeren Geschichte. Als Epilog erklingt eine portugiesische Batalha aus dem 17. Jahrhundert mit strahlend jubilierenden spanischen Trompeten, verfügt doch die Emil-Hammer-Orgel  über die dafür erforderliche, jedoch seltene Batterie von Horizontalregistern.

Ulrich Eckhardt


Erläuterungen zur bei Note&Ton erschienenen CD KLANG ZEIT 1200-2014