Bach-Rheinberger-Reger: Goldberg-Variationen

Die Rheinberger-Reger-Fassung der Bachschen Goldberg-Variationen für zwei Klaviere  – eine  exemplarische Transkription

Zur Geschichtlichkeit von Musik als Kulturleistung gehört die Überlieferung – dass Neues aus dem Alten erwächst – einvernehmlich oder im Widerspruch. Das Überkommene kann fortgesetzt oder überschrieben oder anverwandelt werden. In einer umfassenden besonderen Weise kann das an den sogenannten Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach dargelegt werden: 1741 der vom Komponisten selbst veranlasste Erstdruck – 1883 eine intervenierende Fassung für zwei Klaviere von Josef Gabriel -Rheinberger (1839-1901) – 1913 die praktische Zubereitung von Max Reger (1873-1916) ohne wesentliche Hinzufügungen. An den drei Stationen lassen sich die Entwicklungsschritte sowohl der Tasteninstrumente als auch der Stand der pianistischen Spieltechnik ablesen. Denn zur Zeit der ersten Transkription war das Cembalo aus der Mode gekommen, vergessen und aus der musikalischen Praxis verschwunden.

Was Rheinberger utopisch erschien, nämlich auf einer Klaviatur zu spielen, was für zwei Manuale komponiert war, galt nur wenige Jahrzehnte später als pianistischer Standard. Und ein Klavier von um 1880 klang nach rasanter Weiterentwicklung der Mechanik nach 1900 wiederum vollkommen anders.  Der Transkriptionen hätte es aus heutiger Sicht also nicht bedurft, um das Werk nachvollziehbar und bekannt zu machen. Vielmehr entstand eine Komposition aus eigenem Daseinsrecht.

Was trieb sie an, die beiden ungleichen Brüder im Geiste und aus zwei verschiedenen Generationen? Wie unterschiedlich sind ihre Motivationen? War es pädagogisches, kompositionstechnisches oder das Interesse des Klaviervirtuosen, der nach brillantem Futter und der Expansion des Klavierklangs durch dessen Verdopplung suchte?

Rheinberger hat seine Motive im Vorwort vom Mai 1883 dargelegt:

Zu dem Bedeutendsten, was J. S. Bach für Klavier geschrieben, zählen die „Goldbergschen Variationen“ – Aria mit 30 Veränderungen. Wenn dieses großartige Werk bis auf den heutigen Tag mehr nur theoretisch gewürdigt als gespielt wurde, so hat dies seinen triftigen Grund in dem Umstande, daß es für ein Klavier mit zwei Manualen geschrieben ist – ein Instrument, das man längst nicht mehr kennt. Möge nun vorliegende pietätvolle Bearbeitung für zwei Klaviere dazu dienen, Musiker und Musikfreunde mit diesem Schatze der Hausmusik bekannt und vertraut zu machen.

Die „Aria mit 30 Variationen“ geisterte als legendäres Gipfelwerk des Kontrapunkts durch die Epoche der Romantik, 1814 ausgelöst und verklärt durch E. T. A. Hoffmann. In „Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden“ entlarvte der fiktive Kapellmeister die Unfähigkeit einer bürgerlich-biedermeierlichen Gesellschaft, große Kunst und Musik zu erfassen, indem er ihr die „Johann Sebastian Bachschen Variationen für das Klavier“ vorspielte. Alleine mit seinem musikverständigen Diener und rotem Burgunder lässt er sich vom Quodlibet zum Fantasieren anregen: „[…] aber diese Nro. 30, das Thema, riß mich unaufhaltsam fort. Die Quartblätter dehnten sich plötzlich aus zu einem Riesenfolio, wo tausend Imitationen und Ausführungen jenes Themas geschrieben standen, die ich abspielen mußte. Die Noten wurden lebendig und flimmerten und hüpften um mich her – elektrisches Feuer fuhr durch die Fingerspitzen in die Tasten – der Geist, von dem es ausströmte, überflügelte die Gedanken […] “

Damit waren die Goldberg-Variationen in die Literatur eingeführt, und das Wissen um sie gelangte auf diesem Wege zu Robert Schumann und Johannes Brahms. Auch Hans von Bülow, wenig älter als Rheinberger und in den 1880-er Jahren dessen Münchner Kollege und weltweit gefeierter Klaviervirtuose, war interessiert: „… Zudem sehe ich noch immer der versprochenen Digiteralisierung (d. h. den Fingern ermöglichend) von Bachs 30 Goldberg-Variationen entgegen …“

Rheinbergers Übertragung, ein Unikat in seinem Oeuvre,  war einerseits als pädagogische Hilfestellung für die Hausmusik gedacht, um die Gesellschaft mit Bach vertraut zu machen, andererseits näherte er sich dem Werk als Komponist und Orgelvirtuose, der Bachs große Orgelwerke im katholischen München zu einer Zeit spielte, als dessen Name aus dem Musikleben der Metropolen verschwunden war. Bachs Musik ergriff ihn, seit er erst 12-jährig bei Johann Georg Herzog Orgelunterricht erhielt, der aus der protestantischen Leipziger Schule kam.

Rheinberger 1888: „Der moderne Kontrapunktist muss die Bachsche Schule in sich aufgenommen haben … nur jene Schulung bildet und stählt das musikalische Combinationsvermögen in der Weise, daß das Starre des Kontrapunkts sich jedem Gedanken, jeder Norm frei und ungezwungen fügt.“

Und warum und wie Max Reger eine Generation später?

Regers Retouchen und Spielanweisungen zeigen die Interessen und Handschrift des konzertierenden Pianisten. Unisono-Stellen sind vermieden, Akzente zugeschärft. Zahlreiche Oktavierungen und wuchtige Akkordgriffe und dynamischen Zutaten sind dem Zeitgeist geschuldet, der vom Klavier eine Virtuosität erwartete, die zu Rheinbergers Zeit noch nicht in Mode war. Sein Anteil am Ganzen wird überschätzt; seine Vorschläge zur Phrasierung und Agogik bewegen sich im Rahmen dessen, wie jeder Interpret mit dem Notentext verfährt.

Als er Rheinbergers Fassung nach dessen Tod auf der Suche nach Literatur für zwei Klaviere kennenlernte, hatte er seit 1893 bereits unzählige Transkriptionen von Bachs Werken angefertigt – von Orgel auf Klavier und umgekehrt – nicht nur zum eigenen Gebrauch, sondern als Anregung für das Musikleben jener Zeit. Mit seinen Bearbeitungen wollte er „den Widerspruch der trockenen Holzköpfe oder höflicher gesagt: der phantasiearmen Buchstabengelehrten herausfordern … Ich habe da drei Bachsche Orgel-Präludien & Fugen für Klavier arrangiert – zum Konzertgebrauch […]. Ja, miserabel schwer, aber ich habe eine schon gespielt.

Für die Bach-Rezeption um 1900 hatte Max Reger mit seiner spätromantischen Interpretation eine eigenwillige Rolle fern des Historismus inne. Sie dokumentiert eine lebenslange Auseinandersetzung mit Bach, der ihm „Anfang und Ende aller Musik“ bedeutete und als Grundlage des musikalischen Fortschritts galt: „Alles, alles verdanke ich Joh. Seb. Bach!“.

… So hat denn Max Reger, der den Kollegen Bach exzentrisch tief und virtuos bewunderte und ihn in seine moderne Klangwelt hineinlotste, den Pianisten bis heute Freude bereitet… Regers Beherrschung des polyphonen barocken Stils … ist enorm. Und seine Fähigkeit, das Geflecht tönender Linien durchsichtig zu machen, mitreißend.  Für Reger zählte allein der strukturelle Durchblick durch die Klangtexturen, seine Lust, ›die Bearbeitung unserem modernen dynamischen Gefühl näher zu rücken‹.“ (Wolfgang Schreiber in SZ vom 27. September 2019)

Regers Name dem Werk hinzuzufügen war wichtig für die Vermarktung. Denn er galt an der Schwelle zur neuen Zeit als Draufgänger, gleichermaßen berühmt als Komponist wie als Pianist. Hingegen war das von katholischer Kirchenmusik geprägte Ansehen Rheinbergers in seiner konservativen klassizistischen Stilistik zu Beginn 20. Jahrhundert bereits verblasst.

Transkription ist ein Movens menschlichen Schaffens, Ausweis der Geschichtlichkeit gesellschaftlicher Arbeit. Nachahmung ist der Grundstrom der Entwicklung, selbst der Evolution. Auch Erfindungen, die als Leuchtpunkte hervorstechen, sind als Überschreibungen des latent Vorhandenen zu erkennen.  So auch in der Geschichte der Musik: der Komponist vernimmt und erfindet nicht nur neue Klänge, die aus seiner und der umgebenden Natur hervortreten, sondern anverwandelt sich gelegentlich die Werke seiner Vorläufer. Die Spannbreite der Transkriptionen reicht von Plagiat über die Reduktion bis zur Metamorphose, wenn aus dem Fremden sich etwas Eigenes entwickelt. Transkriptionen können auch aus dem Mangel entstehen, wenn Besetzungen aus Not oder wegen des Fehlens adäquater Instrumente reduziert werden müssen; sie ändern dann nur das Gewand bei gleich gebliebener Textur. Das Klavier musste das vergessene Cembalo einstweilen ersetzen.

Und wie ist nun dieses hybride Monument heute zu bewerten? Als eine durchaus eigenständige Gestalt von großer Wirkung. Die verdoppelte Fassung der Goldberg-Variationen vermittelt dem aufmerksamen Hörer einen Blick in die Geschichte der Musik, ihrer Interpretation und ihrer Instrumentarien über drei Jahrhunderte.  Der verstehende Nachvollzug der drei Schichten des Werks erhält eine zusätzliche Dimension im Nachvollzug durch zwei Individuen an zwei Instrumenten – deutlich hörbar gemacht durch eine raffinierte und intelligente Mikrofonierung dieser Live-Aufzeichnung im Konzert.


Erläuterungen zur 2022 bei Note&Ton erscheinenden CD:
ARIA mit 30 Veränderungen (die Goldbergschen Variationen) von Joh. Seb. Bach
für zwei Klaviere bearbeitet von Josef Rheinberger, revidiert von Max Reger,
Konzert-Aufzeichnung mit Johannes Roloff und Ulrich Eckhardt