Die Tragödie des Menschen unter Menschen

Anmerkungen zu Komponisten

Juan Allende-Blin


Foto Jan Rothstein

Wenn bedenkliche kulturelle Fehlentwicklungen zu beklagen sind, kommt es auf die Widerstandskraft des Einzelnen an, wie er ohne Kompromisse mit Mut und Entschiedenheit ein ethisch fundiertes, humanistisch geprägtes Ideal musikalischer Praxis verteidigt. Juan Allende-Blin gehört heute zu den hervorstechenden Persönlichkeiten, die durch Anregungen, Entwürfe und ihre sorgfältige Ausführung das kulturelle Leben vor Verarmung und Verflachung schützen wollen. Das gilt für den Komponisten ebenso wie für den Entdecker, der aus dem aktiven Musikleben verdrängte, verfemte, exilierte Komponisten dem Vergessen entreißt und in das Repertoire zurückführt.

Da kam ein junger Musiker und Forscher aus Chile nach Westdeutschland, um festzustellen und nicht zu akzeptieren, daß die ästhetische Diktatur der Nazizeit anhaltend wirksam war daß das Unrecht der Vertreibung und Auslöschung nicht beseitigt wurde, daß ein notwendiger radikaler Neubeginn ausblieb. So verschrieb er sich dieser geistigen und künstlerischen Mission. Wir verdanken ihm zahlreiche Impulse zur Bereicherung des Repertoires entgegen dem allgemeinen Trend zur Einengung: von Debussys „La Chute de la maison Usher“ über „Musik um 1900“ zum russischen Symbolismus und Futurismus und zu aktuellen Wiederentdeckungen wie beispielsweise Erich Itor Kahn.

Und noch etwas zeichnet den Künstler Juan Allende-Blin aus: Er versteht die Musik als Teil der geistigen Welt, als Mittel der Aneignung, weit über das Ästhetische hinaus, als Ausdruck von Humanität, von Leidensfähigkeit ebenso wie von Visionen für eine bessere Welt. Diese Einstellung lehrt ihn, Musik stets als Ausdruck gesellschaftlicher Realität und als Widerschein historischer Abläufe zu verstehen. Höchster Anspruch in der Ausführung und Interpretation von Kompositionen ist da nur selbstverständlich, wenn solcher Eros die Arbeit bestimmt. (…)

Nicht ohne Bewunderung für diesen Inspirator und Humanisten blicke ich zurück auf eine bis ins Jahr 1974 zurück reichende Zusammenarbeit; die Berliner Festwochen verdanken ihm wesentliche Impulse für ihre Programmatik im Dienste der Rehabilitierung verfemter, verdrängter, ins Exil getriebener und weiterhin nicht im Kulturleben präsenter Künstler. Meine hohe persönliche Wertschätzung gilt einem bedeutenden Musiker, einer umfassend gebildeten, historisch und gesellschaftlich bewussten Persönlichkeit und darüber hinaus einem liebenswerten, hochgebildeten, feinsinnigen Menschen.

Ulrich Eckhardt, 1998 / 2017

Landschaft für Goldmann


In aktuellen Konzerten haben wir uns oft getroffen; aber in meiner Erinnerung haftet sein Bild aus einer zufälligen Begegnung im Wald. Lesend unterm Laubdach saß er allein auf einer Bank fernab vom lärmenden Getriebe kultureller Ereignisse und musikalischen Streits; ich radelte vorbei, hielt an, störte ihn, was er mit seiner unnachahmlichen Witzigkeit quittierte. Ich war mit letzten Formulierungen zu Hans Pischners Biographie befasst;  die Rede kam auf  „HOT“ 1977 im Apollosaal der Staatsoper. Er sprach mit Hochachtung von dem Mann, der als (wie wir heute wissen) bespitzelter Intendant so unerschrocken war, den damals noch unbekannten jungen Peter Konwitschny, Regieassistent der Ruth Berghaus am Berliner Ensemble, mit der Inszenierung zu beauftragen – gegen den Rat seiner linientreuen Dramaturgie. Friedrich Goldmann war 36 Jahre alt und wurde trotz fachlicher Anerkennung von der offiziellen Kulturpolitik als rhetorisch begabter freier Geist misstrauisch beäugt.

Noch eine andere Reminiszenz aus dem Jahre 1985: Selbst durch die Philharmonie verwöhnte West-Berliner Musikfreunde schalteten Radio DDR II ein und spitzten die Ohren, wenn Friedrich Goldmann das Rundfunk-Sinfonieorchester dirigierte. Seine Interpretationen von Mozarts Sinfonien gegen jede Routine durchdrangen detailgetreu die kompositorische Struktur der Werke und öffneten neue Wege des verstehenden Hörens.

Ulrich Eckhardt, 2019

Liebe, Kraft und Witz

Gubaidulina, Rihm und Ligeti bei den Wittener Musiktagen


Komponieren heute: Selten nur erscheint in den ausgeklügelten Tonfluten, die uns überrollen, die Musik als personal beglaubigte Notwendigkeit zur Zeit- und Welterfahrung. Selten nur stellt sich eine so erhellende Konstellation ein, wie jüngst auf den 20. Wittener Tagen für neue Kammermusik. Wolfgang Rihm, Sofia Gubaidulina und György Ligeti standen in diesem Jahr für West-, Ost-, Mitteleuropa, für drei Generationen, für drei unterschiedliche Wege zur Entwicklung aktueller Musiksprache. Drei großformatige Kompositionen, Rihms „Chiffre-Zyklus“ von 1982/88, Gubaidulinas „Sieben letzte Worte“ von 1982 sowie Ligetis Klavierkonzert von 1985/88, standen zusammen, so verschieden sie sind, für eine Musik am Rande des Schweigens, jenseits des Materials.

Zum Erstem Wolfgang Rihm und seine „Chiffren“, fast ein vielsätziges Klavierkonzert. Heterogene, sich jedoch erstaunlich zueinander fügende Kammermusiken, mustergültig interpretiert vom Ensemble 13 unter Manfred Reichert, machen Rihms Stärke und Gefährdung deutlich. Einen wesentlich stärkeren Eindruck als die jüngsten Hinzufügungen hinterließ der erste Teil, bestehend aus den fünf vor 1985 komponierten „Chiffren“: körperliche, vegetative Nervenmusik in instrumentalen Mixturen am Grenzbereich zwischen Klang und Verstummen. Rihm spricht vom Materialwiderstand, vom Leiden des Komponisten am Mangel der Rückantwort aus dem Material, wie sie der bildende Künstler erfährt.

Zum Zweiten: Sofia Gubaidulina, geprägt von den längeren Kriegs- und Lebenserfahrungen, von stärkerer Traditionsgebundenheit, klanglich von Schostakowitsch, geistig von der orthodox-christlichen Gläubigkeit angeregt. Doch ist ein überraschender Gleichklang mit Rihm hinsichtlich der kompositorischen Bestrebungen vorhanden: Emotionalität, besessene Klangsuche aus dem Ostinato und der Repetition, Musik am Rande des Schweigens. Gubaidulina beherrscht sicher große Klangräume und lange musikalische Strecken. Ihre Musik ist schmerzlich betroffen machende Nerven- und Sinnenmusik, visionäre Musik des Schmerzes und der Trauer aus verwehten Klängen, utopische Musik, die alle modernen und postmodernen Floskeln der Sprachlosigkeit hinter sich läßt, komponiert aus Liebe, aus der religiösen Versenkung. Die Stille, mit der das Publikum das Werk aufnahm, bezeugte die Fähigkeit der Komponistin zur emotionalen Ansprache. Das Collegium Instrumentale Köln, einstudiert und geleitet von Wolfgang Trommer, ließ einen Streichersatz aufblühen, wie ihn heute kaum ein anderer Komponist zu schreiben vermag. David Geringas (Cello) und Elsbeth Moser (Akkordeon) waren phänomenale Solisten des antiphonisch angelegten Werks.

Zum Dritten: György Ligeti und sein zunächst drei-, später fünfsätziges Klavierkonzert mit der kuriosen, langwierigen Entstehungsgeschichte aus dem Auftrag der uraufführenden Brüder Anthony und Mario di Bonaventura, die auch in Witten zusammen mit der Deutschen Kammerakademie Neuss die Interpreten der Deutschen Erstaufführung waren. György Ligeti ist ein Meister der Klangfarbenmischungen, der Obertonmixturen. Er will den Hörer nicht emotional bedrängen, er läßt ihn frei, macht ihm rationale Angebote, damit er selbst sich feinen Erlebnisraum schaffe. Auch seine Musik kommt aus dem Schweigen, auch seine Mitte ist die Stille, aus der die Klänge herausgeschlagen werden – wie bei Rihm und Gubaidulina rhythmisierte Zeit am Rande des Verstummens. Als mißtraue der Komponist selbst der schmerzend verstörenden Schönheit im ersten Teil, insbesondere im langsamen zweiten Satz, fügt der aufgeklärte Skeptiker ein virtuoses Satyrspiel hinzu, mit Anklängen an mechanische Musik, an Musikmaschinen des Jahrmarkts, eine musikalische Maskerade voller Witz und Schärfe, schrill und vulgär, mit burlesken, folkloristischen Klangfetzen. Selbst in der anfechtbaren Wiedergabe durch die Auftraggeber wurde deutlich, daß Ligeti ein Werk reifster Meisterschaft gelungen ist.

Ligeti will, daß das rhythmische Geschehen in einen Schwebezustand übergeht. Dieser qualitative Umschlag fehlte der Interpretation ebenso wie der Stachel; das vom Komponisten erwartete „take-off“ seiner Musik fand noch nicht statt. Die Schärfe des Witzes, wie sie dem sensationellen Chor Groupe Vocal de France mit der Wiedergabe von Chorwerken Ligetis im selben Konzert gelang, wurde im Klavierkonzert nicht erreicht. Die bei den diesjährigen Berliner Festwochen im Rahmen eines Ligeti gewidmeten Komponistenporträts anstehende erste Aufführung des Werkes ohne ihre Besteller wird aufschlußreich sein, um den Rang des Werkes innerhalb der neueren Musikgeschichte zu bestimmen.

Ligeti schreibt nach eigener Auskunft objektartige Musik. Sie sei Ausdruck gefrorener Zeit, das Einschließen in den Augenblick, Gegenstand im imaginären Raum. Ligeti richtet sich an den wissenden Hörer. Rihm will Klangzeichen setzen, Klangschrift aus syntaktischen Prozessen entwickeln, „muskuläre“ Anspannung erreichen. Gubaidulina bittet den Hörer um eine Beziehung der Liebe und macht betroffen auch dort, wo sich scheinbar nichts Neues ereignet. Sie geht den direkten Weg ohne Scheu vor Gefühl und Sinnlichkeit ohne Angst vor klanglicher Verführung und Klangverzauberung.

Dreimal große europäische Musik: Als in Berlin laut und bunt die Feierlichkeiten zur Kulturstadt Europas eröffnet wurden, geschah und gelang im kleinen, fernen Witten auf ganz konzentrierte Weise die eindringliche Konstellation einer dreifachen Begegnung anderer Art. Aus den ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Ableitungen von drei europäischen Komponisten wuchs die Überzeugung von der Notwendigkeit der Musik zum Verständnis von menschlicher Existenz heute und morgen.

Ulrich Eckhardt, Der Tagesspiegel, 22. Mai 1988

Anmerkungen zu Helmut Lachenmann


Geistesverwandt mit seinem Lehrer und Freund Luigi Nono hat er mit außerordentlicher Konsequenz ein dichtes kompositorisches Werk geschaffen, das mit wegweisenden Klangerfindungen zum reflektierten Hören herausfordert. Kennzeichnend sind der Mut zur polemischen Attacke gegen Bequemlichkeit und eine radikale Analyse tradierter Wahrnehmung. Ungewöhnliche Spieltechniken erweitern das Klangspektrum. Hinter scheinbarer Aggression und Provo­kation verbirgt sich überzeugte Humanität. Lachenmann ist nicht Revoluzzer oder Zerstörer von Traditionen, sondern wertkonservativer Neuerer, der an die Entwicklungsfähigkeit der Musik glaubt. In seinen theoretischen Beiträgen zur Ästhetik aktualisiert er die Kategorie des Schonen als Ineinander von Expression und Konstruktion: „Musik, die sich auf das Abenteuer einläßt, den Begriff Schönheit unter veränderten Bedingungen nochmals zu fassen in der altbekannten Hoffnung, daß was von Herzen kommt trotz aller Sprachlosigkeit auch wieder zu Herzen gehe,“ Am Ende des Orchesterwerks „Harmonica“ (1981-83) erscheint das Zitat von Ernst Toller „Mensch, erkenn dich doch, das bist du“.

Helmut Lachenmann definiert das Hineinhören (im Sinne von Nonos „Ascolta!“) in Werke expressiver Klangerweiterung als Konzentration des Geistes, als Erfahrung des Ein­dringens in die Welt, welche zugleich Selbsterfahrung ist. Erfordert vom Hörer die entdeckende Wahrnehmung. Die Künste haben einen „geistigen Widerstand dort zu mobili­sieren, wo wir im Genuß kultureller Dienstleistungen unsere wahren und falschen Sehnsüchte provisorisch befriedigen, d.h. betrügen“. Das Geistige in der Kunst setzt die Wahrnehmung der Welt frei. Hören ist „Konzen­tration des Geistes, also Arbeit“. Mit dieser Entschieden­heit im Widerstand gegen Zeitgeist und Oberflächlichkeit übt Lachenmann enormen Einfluß auf die jüngere Kompo­nistengeneration aus, ebenso mit seinem Mut, in seinem Schaffen bis an die Grenze der Dekonstruktion sich vorzu­wagen. Er fordert künstlerische Verantwortung. Die große Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, komponiert zwischen 1990 und 1996, brachte mit der Urauf­führung 1997 in Hamburg (und einer konzertanten Aufführung in Japan) den internationalen Durchbruch für den nicht angepaßten und nicht anpassungsbereiten Komponisten. Seine Kompromißlosigkeit findet Beachtung als Schritt­macher für unerhörte Klänge, seine Intensität und sein hoher Anspruch an sein Publikum überzeugen. Eine radikale strukturelle Kraft verbindet sich mit sinnlichem Farben­reichtum. Aus dieser Synthese kommt die Sogkraft.

In der Begründung für den Siemens-Musikpreis 1997 heißt es zutreffend: Schönheit, die nicht aus dem wieder­holten Gebrauch bereits verbrauchter Gesten gespeist ist, sondern frei und unverbraucht zu den Menschen spricht, charakterisiere sein Schaffen.

Ulrich Eckhardt, Votum für Richard von Weizsäcker als (erfolgloser) Vorschlag zum „Praemium Imperiale“ 2002

Aribert Reimann


Der Künstler und sein Ort: Aribert Reimann und Berlin. In Herkunft und Geist ist der Kom­ponist von der Stadt geprägt, in der er geboren wurde und die er nicht verlassen hat. Eine ra­dikale Wahrhaftigkeit, die Spiegelung der Wirklichkeit schließen Routine aus und halten von Dogmen und Moden fern. Jede Zeile seiner Musik singt, schreit, flüstert und beschreibt menschliche Existenz, interpretiert Leben auch in seinen Abgründen. Sein inneres Ohr nimmt wahr, wo Schönheit gestört wird und der Mensch gefährdet ist. Seit dem „Traum­spiel“, dem frühen Geniestreich, gehört der Name Aribert Reimanns zur Operngeschichte im 20. Jahrhundert. Zwischen dramatischer und lyrischer Schreibweise folgt seine Musik nur den eigenen Impulsen und Gesetzen. Die Reinheit der Empfindung macht jede überflüssige Floskel entbehrlich. Jedes Werk erscheint als ein notwendiges, niemals eine Nebensache. Unbeirrt durch den diffus schwankenden Zeitgeist geht Aribert Reimann seinen Weg ohne Kompromisse im Widerstand gegen Gefälligkeit und Beliebigkeit. Seine konsequente künst­lerische Position ist nicht bequem. Indes hat ihm die Lauterkeit seines liebenswerten Charakters zahlreiche Freunde zugeführt. Seine Schüler lehrt er Genauigkeit, Geduld und Hingabe. Seine Hörer zwingt er zur Präsenz. Geburtstage sind nicht wichtig und keine Zäsur in der Kontinuität des Schaffens. Aber ein willkommener äußerer Anlaß ist gegeben, zu danken in der Erwartung vieler Aufführungen früherer und neuer Werke.

Ulrich Eckhardt, Grußwort zum 60. Geburtstag von Aribert Reimann, am 4. März 1996 im Hebbeltheater

Notiz zu Wolfgang Rihm


Wolfgang Rihm, geboren 1952 in Karlsruhe (Baden), gilt unter Kennern und Liebhabern der zeitgenössischen Musik – nach Hans Werner Henze und Karlheinz Stockhausen, zusammen mit Helmut Lachenmann – als der einflußreichste und angesehenste deutsche Komponist in den letzten dreißig Jahren. Seine besondere Bedeutung resultiert aus der Tatsache, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als junger Komponist die Ideologisierung des Avantgardebegriffs in der Neuen Musik durchbrochen und sich entgegen ihrer Ghettoisierung mit einer anderen, eigenständigen Musik durchgesetzt zu haben. Er hat dem Primat des Werks wieder zu konstitutiver Wirkung verhelfen und sein kompositorisches Schaffen bewußt in einen bis zu Johann Sebastian Bach zurückreichenden Traditionszusammenhang gestellt. Er wollte musikalisches Denken aus einseitiger Bindung an rationale Ordnungssysteme befreien und das künstlerische Subjekt in seine vollen Rechte wieder einsetzen. Für ihn ist Musik Ausdruck und Bekenntnis des individuellen Willens zur Freiheit. Gestalt und Formung des Klangs sollen sinnenhaft und emotional zu begreifen sein. Wolfgang Rihms schöpferische Kraft ist einzigartig; seine Produktivität ist ungewöhnlich. Sein Oeuvre umfaßt bereits über 400 Werke aller Gattungen. Opern und Werke des experimentellen Musiktheaters stehen neben oratorischen, Orchester-, Ensemble-, Kammermusik- und Solo-Kompositionen. Vokalwerke, insbesondere die Liedkompositionen, stehen durch ihre Textbezüge für Rihms spezifisches Musikdenken: Die Identität des künstlerischen Ichs wird aus dem Dialog mit dem Anderen und der unablässige Korrespondenz mit den Phänomenen der Vergangenheit und geschichtlichen Erfahrung gewonnen. Kompositorische Methodik und Mittel sind geprägt von Offenheit und Vielseitigkeit, so daß sein Schaffen stilistisch oder begrifflich kaum festzulegen ist Der Komponist Rihm nimmt sich jederzeit die Freiheit, durch neue Ansätze zu überraschen, seine Hörer durch veränderte Zugänge zu verblüffen, sich in allen (auch historischen) Räumen zu bewegen – und dies immer in einer verantwortungsvollen persönlichen Einstellung, kompositorische Entscheidungen niemals aus einer abstrakte Instanz abzuleiten oder an ein systematisches Ordnungsprinzip abzutreten.

Wolfgang Rihm ist als Künstlerpersönlichkeit auch in anderen Bereichen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens aktiv und einflußreich. Seine Affinität zur zeitgenössischen bildenden Kunst und Literatur ist auffallend stark ausgeprägt. Er pflegt einen intensiven Gedankenaustausch mit Philosophen, Natur- und Geisteswissenschaftlern; er war Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin (Institute for Advanced Studies). Zahllose Texte, Aufsätze, Reden, Vorträge, Interviews und Kommentare zur Musik, Kulturpolitik und zum Zeitgeschehen belegen eindrucksvoll seine weitgespannten Interessen, seine analytische Starke und sein kritisches Urteil. Stets bestechen seine nachdenkliche Originalität und sein Engagement für die Sache des nationalen und internationalen Kulturlebens.

Ulrich Eckhardt, Votum für Richard von Weizsäcker als (erfolgloser) Vorschlag zum „Praemium Imperiale“ 2003

Hanning Schröder (1896-1987) – Musik und Humanität


Noch vor dem Musiker und Komponisten lernte ich den Menschen und Zuhörer Hanning Schröder kennen. Das ist kein Zufall und hat seinen tieferen Sinn. Wo die markanten Köpfe von Hanning und Cornelia Schröder auftauchten, war der Anlaß wichtig. Han­ning Schröder drängte sich mit seinem Schaffen nicht auf; man mußte ihn aufsuchen, aufspüren und finden, was so ganz und gar nicht in die heutige Musikwelt des Markts und der Meinungen, der Manipulation und Werbestrategien paßt. Er war ein – inso­weit bewußt – souveräner Unzeitgemäßer. Doch wird sich sein Schaffen, so wenig umfangreich es auch sei, auf die Dauer als beständiges Zeugnis des Jahrhunderts in seiner schwierigsten Phase durchsetzen.

Er ist zu kurz gekommen, weil er Widerstand leistete gegen Verletzungen der Humanität, gegen staatlichen Terror und pri­vate Anpassung, weil er nicht wegsehen mochte, wo seine Mit­menschen schuldig wurden durch mangelnde Zivilcourage. Ihm wurde die Ehre eines Gerechten in Yad Vashem zuteil, denn er schützte seine jüdische Frau und bewahrte jüdische Menschen vor der Deportation und Ermordung. Unabhängigkeit und Widerständigkeit gehören auch zu den Parametern, mit denen man seine künstlerische Position einzuschätzen hat. Die innere Emigration brachte ihm Verlust von Aufführungschancen und Wir­kungsmöglichkeiten. Die Aufhebung des seit 1933 wirksamen Be­rufsverbots vor 50 Jahren mit der Befreiung Deutschlands vom Faschismus brachte ihm nicht, wie es gerecht und notwendig gewesen wäre, die volle Wiedereinsetzung. Er geriet erneut in Widerspruch, landete zwischen den Fronten, weil er sich neuen Dogmen wiederum nicht anpassen mochte. Den dogmatischen Avant­gardisten blieb er ebenso verdächtig wie den ideologischen Funktionären.

So ist es verständlich, daß er wenig Gelegenheit hatte, Werke für Orchester oder Musiktheater zu schreiben, die Namen und Ruf eines Komponisten besonders stark in der Öffentlichkeit prägen. Er schuf mit großem handwerklichen Können und konzen­trierter Inspiration bedeutende Werke der Kammermusik in einer kristallinen, tektonischen Klangsprache. Seine Werke atmen Menschlichkeit und Strenge, Ernst und Schönheit, Klarheit und Form. Prätentiöse Titelgebung lag ihm fern, oft heißen die Werke nur „Musik für …“. Bevorzugte Ausdrucksmittel sind Streichquartett, Kammermusikensemble oder Soloinstrumente, vor allem die Flöte und die Bratsche.

Als ein Mensch der Güte und der Stille stand er immer im Wi­derstand gegen den Lärm der Welt und gegen die Entwürdigung des Einzelnen durch Politik und Staat. Hanning Schröder bleibt in Erinnerung als charaktervolle, gütige, zarte und vornehm zurückhaltende Persönlichkeit, charakterisiert durch Reinheit der Empfindung und Genauigkeit der Wahrnehmung, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit im Leben und im musikalischen Schaffen.

Ulrich Eckhardt, 1995

Karlheinz Stockhausen


1928 bei Köln geboren, lebt im Rheinland, studierte zunächst Schulmusik und Philosophie, 1952/53 bei Olivier Messiaen in Paris, 1954-1956 an der Universität Bonn Phonetik und Kommunikationswissenschaft, lehrte seit 1957 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, arbeitet seit 1953 im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln, dessen Leitung er 1963 übernahm und bis heute innehat. Er gilt als maßgeblicher Komponist für die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und hat anhaltend starken Einfluß auf die musikalische Entwicklung bis in die Gegenwart.

Sein musikgeschichtlicher Rang resultiert aus der Vielseitigkeit seines Schaffens und seiner Rolle als Experimentator, Entdecker und Vorreiter grenzüberschreitender Erweiterung des musikalischen Spektrums: von serieller Instrumentalmusik in der Nachfolge Anton Weberns – über neue Konzertformen (Wandelkonzert „Musik für ein Haus“) – ästhetisch avancierte, technologisch perfektionierte elektronische und elektro-akustische Komposition – Aleatorik und improvisierte „intuitive“ Musik – bis zum groß dimensionierten Gesamtkunstwerk, beginnend 1977 und mündend im ambitionierten komplexen Musiktheater „Licht“, dessen Komposition eine Zeitspanne von über 20 Jahren umfaßt.

Stockhausen verbindet in seinem umfangreichen Oeuvre (seit 1951) kosmologische Tendenzen mit kontrapunktischer Rationalität, Gesetze der Ordnung mit freiheitsstiftender Intuition. Transzendenz verbindet sich organisch mit strengen Regeln, die aus der Analyse des tradierten musikalischen Erbes gewonnen sind. „Himmelsmusik“ wolle er den Menschen bringen, so beschreibt er selbst seine Motivation in „Donnerstag“ aus „Licht“; und in „Litanei 97″ heißt es: “… daß ich nicht MEINE Musik mache, sondern die Schwingungen übertrage, die ich auffange“.

Einflüsse außereuropäischer Musik gelangen in sein Werk seit seinem Aufenthalt 1966 in Japan, Als er in japanischen Radio NHK elektronische Musik komponierte („Telemusik“ und „Solo“), begegnete er in Nara den Mönchen des Todai-Ji-Tempels und in Tokyo den Musikern des Noh-Theaters Suidobashi (NoGakudo). Seitdem erstrebt er eine universalistische Musik, die auch weit entfernte Räume und Kulturen einbezieht. Er wurde für jüngere, ihm nachfolgende Musiker – auch der Popularmusik – zum Wegbereiter einer „Weltmusik“.

Nach Japan kam Stockhausen erneut anläßlich der Weltausstellung 1970, der EXPO 70 in Osaka. Im eigens für seine Musik vom Architekten Fritz Bornemann (als deutscher Beitrag) entworfenen Kugelauditorium haben in sechs Monaten von März bis September 915.000 Besucher verschiedene instrumentale, elektro-akustische und elektronische Kompositionen hören können – ein für zeitgenössische Musik singulärer Fall.

Sein Absolutheitsanspruch, sein Hang zum groß dimensionierten Gesamtkunstwerk und die kosmologisch-universalistische Attitüde mögen die Rezeption seiner Werke vielleicht zuweilen erschweren; gleichwohl bleiben Stockhausens musikhistorische Leistung und sein nachhaltiger Einfluß auf die Entwicklung der Musik unbestreitbar. Die Wirkung seiner Innovationen ist bis heute anhaltend. So präsentieren die Salzburger Festspiele 2006 im Mozart-Jahr auch eine vom Komponisten geleitete Uraufführung des Orchesterwerks „Mixtur“.

Ulrich Eckhardt, Votum für Richard von Weizsäcker als (erfolgloser) Vorschlag zum „Praemium Imperiale“ 2005

Isang Yun


Ulrich Eckhardt und Isang Yun

Die Tragödie des Menschen unter Menschen, Not, Krankheit, Tortur, Entwürdigung, Erniedrigung, Einsamkeit, Not und Exil durchziehen die Biographie des Komponisten Isang Yun; aber er vereinzelte und verhärtete sich nicht, wurde nicht mißtrauisch oder zynisch, sondern gewann daraus seine politischen Ideale der Mitmenschlichkeit, der Leidensfähigkeit, der Humanität, und diese schlagen sich auch in seinem Schaffen nieder. (…) Also mischt er sich ein, überschreitet die Grenzen sich selbst genügender Kunstübung. (…)

Für einen Künstler muß es ein besonderes Gefühl sein, wenn sich in ihm die kulturellen Interessen beider verfeindeten Seiten finden können, wenn er mit ein und derselben Botschaft gleichermaßen in Nord- und Südkorea gehört wird. Wenn Isang Yun in seinem Schaffen an Elementen traditioneller koreanischer Musik festhält, so kann dies über den ästhetischen Aspekt hinaus als deutliches Zeichen politischen Verantwortungsbewußtseins verstanden werden. Sein Appell und sein politisches Engagement gehen über diffuses, unverbindliches Beschwören von Versöhnung, Frieden und Freiheit hinaus, haben vielmehr klare inhaltliche Vorstellungen über die Elemente, aus denen eine künftige gesamtkoreanische Gesellschaft gebaut werden sollte. In seinen Kompositionen werden metaphorisch die Komponenten nachgezeichnet: Aus der Verwurzelung in der nationalen Identität folgt die Überwindung lang anhaltender Fremdbestimmung, sei sie ideologisch oder ökonomisch; die historische Autonomie wirkt gegen den Kolonialismus; nationalistische Abgrenzung wird überwunden durch schöpferische Anwendung westlichen Handelns und Denkens. Der Komponist genießt als einheitsstiftende Symbolfigur nicht nur das Vertrauen der oppositionellen Kräfte im Lande und außerhalb des Landes, sondern wird auch von den derzeit agierenden Politikern nolens volens wegen seines internationalen Renommees geachtet. Seine patriotisch-revolutionäre Haltung wird verstanden, weil sie sich nicht hinter ästhetischen Positionen versteckt. Vermutlich ist dies die tiefste und eigentliche Antriebskraft im Schaffen Yuns. Das treibt ihn wirklich voran, ist ihm vermutlich mehr wert als alle künstlerischen Erfolge im Westen. Seine weltweite Anerkennung als führender Komponist zeitgenössischer Musik in der Gegenwart nutzt er konsequent als Waffe gegen Diktatur und für Demokratie.

Ulrich Eckhardt, aus der Laudatio zur Verleihung der Plakette der Freien Akademie in Hamburg am 7. Dezember 1992