Parabrahm – eine Orgel als Zeitzeuge

Ein seltenes Zeugnis spätromantischen Orgelbaus in Eichwalde

Die Parabrahm-Orgel ist keine oder mehr als eine Orgel; die Orgel in ihr ist nur ein Teil des Ganzen mit komplexer technischer Ausrüstung und überwältigender Klangpracht. In Eichwalde überstand ein seltenes authentisches Zeugnis spätromantischen Orgelbaus aus dem Jahre 1908 (am 15. Dezember zusammen mit der Kirche eingeweiht) alle Wirrnisse der Zeit. Es ist weltweit das einzige noch erhaltene und unter Denkmalschutz stehende Instrument dieser Art.

Dieser singuläre hybride Orgeltypus entstand als Gemeinschaftsprojekt des Orgelbauers Friedrich Weigle (Sohn) mit J & P Schiedmayer, seinerzeit führend im Bau und in der Weiterentwicklung des Kunst-Harmoniums. Weigles Opus 352 sollte möglichst viele der Effekte und Spielweisen großer Orgeln mit weit weniger, jedoch speziell konstruierten Pfeifen und mit zahlreichen Spielhilfen ermöglichen.

Die Parabrahm-Orgel kombiniert eine pneumatische zweimanualige Pfeifenorgel mit einem großen Pedal-Harmonium, das auf dem dritten Manual gespielt wird.  Jedes Instrument kann einzeln gespielt werden. Schwellkästen sind in alle drei Werke eingebaut. Jedes Manual lässt sich also stufenlos in seiner Lautstärke verändern.

Der Orgelteil besitzt nur zehn (!) Register mit überraschend wenigen 458 Pfeifen, wovon fünf Register mit erhöhtem Winddruck erklingen, sowie zahlreiche Sub- und Super-Oktav-Koppeln. Ein pneumatischer Crescendo-Schweller der Orgelregister und die den Winddruck änderbare Doppel-Expression des integrierten Harmoniums ermöglichen dem Spieler, die Tonstärke des gesamten Instruments stufenlos zu verändern.  Durch die Kombination der beiden Werke werden die dynamischen Möglichkeiten wesentlich gesteigert. Somit wird eine Klangfülle erreicht, für die sonst zahlreiche zusätzliche Orgel-Register nötig wären.

Das Instrument wurde lange Zeit vernachlässigt, aber glücklicherweise nicht im Sinne des jeweiligen Zeitgeschmacks verändert. Der Klang von 1908 konnte nach der aufwändigen exzellenten Restaurierung durch die Orgelbauwerkstatt Christian Scheffler aus Sieversdorf 2002 wieder authentisch erlebbar gemacht werden.

Die Erfinder dieses experimentellen Hybrid-Instruments sind leicht zu identifizieren und die Umstände der Erfindung mühelos zu rekonstruieren: Der begeisterungsfähige Orgelvirtuose Paul Schmidt und der experimentierfreudige Orgelbauer Gustav Fritsch begegneten sich im Harmoniumhaus des Verlegers Carl Simon in der Berliner Markgrafenstraße, dem damaligen Hauptquartier  der boomenden Harmoniumbewegung, wo das höheren Ansprüchen genügende größere Kunstharmonium ab 1904 propagiert und in großem Stil vertrieben wurde. 

Paul Schmidt war 1900 bereits als sensationeller Interpret auf dem seinerzeit besten französischen Mustel-Harmonium in Berlin hervorgetreten; der Orgelbauer Fritsch trat 1905 als technischer Leiter und Chef-Konstrukteur für das Kunstharmonium in die seinerzeit führende deutsche Harmoniumfabrik Schiedmayer ein und baute dort den „Dominator“, der Mustel übertreffen sollte. Beide waren auf der Suche nach dem ultimativen Klangerlebnis. War es ein Zufall? Sie trafen sich nicht zuletzt, weil sie das große Geschäft witterten – eine große Orgel für wenig Geld. Es ging um Patriotismus und Gewinn; man spekulierte auf große Summen in der reichen wilhelminischen Gesellschaft, und es begann eine PR-Kampagne gegen die französische Dominanz. 

In der Blütezeit des großvolumigen Orgelbaus entstanden monumentale und kostspielige Anlagen in imposanten Konzertsälen und Kirchenbauten, die nicht nur der kirchlichen Frömmigkeit, sondern eher der Repräsentation des Großbürgertums dienten. Gleiches oder sogar größeres Klangvolumen sollte durch die Kombination von Pfeifenorgel (mit Hochdruckregistern) und Schiedmeyers „Dominator“ mit erheblich geringerem Kostenaufwand erreicht werden. Zusätzliche Effekte brachten Perkussionsregister, bei denen Hämmerchen auf die Zungen des Harmoniums schlagen sowie eine Ergänzung durch die Celesta, eine Spezialität des Hauses Schiedmayer – bis heute.

Es ging auch um die Vorherrschaft im Instrumentenbau und Musikleben: Es gelang dem Verleger Carl Simon, Max Regers Gegenspieler Sigfrid Karg-Elert zu begeistern und eine 1914 publizierte „Elementar-Harmonium-Schule“ als Opus 99 zu schreiben – in Konkurrenz zur „Méthode pour l’harmonium“ (1845) von Louis Lefébure-Wély.

Paul Schmidt, erster konzertierender Solist an der neuen erweiterten Orgel,  hat wohl auch den Namen erfunden, der den höchsten Anspruch an die Erfindung bezeichnen sollte: Para Brahma bezeichnet in der neo-hinduistischen Theosophie die Sehnsucht nach größtmöglicher Vereinigung von Körper und Geist, das Streben nach künstlerischer und geistiger Vollendung – weniger anspruchsvoll wollten die beiden Erfinder nicht ans Werk gehen.  Zur selben Zeit um die Jahrhundertwende entwickelte sich in Berlin und Umgebung die Lebensreformbewegung. Sie propagierte eine ganzheitliche Gesundheitslehre, verkörpert und verkündet durch den in Europa reisenden indischen Mönch Vivekananda, der Yoga  als ausgleichende Alternative zum westlichen, technologisch orientierten Fortschrittsdenken predigte. Indisches Yoga kam in Mode – und blieb es bis heute (weshalb das stark reduzierte indische Harmonium heutzutage vom einst stolzen Instrument des fin de siècle als Begleitung von Yoga-Übungen übrig blieb). Es lag also nahe, sich dieser Tendenz zum Absoluten anzuschließen und den Namen Parabrahm als Motto und Anspruch zu wählen.

Auch die Bezeichnung als „Seraphon“ für einige Orgelregister zeugt vom Absolutheitsanspruch der Erfinder. Die Töne der Orgelpfeife sollten den Rufen der Seraphim gleichen. In der Bibel (Jes 6,1–7) sind Seraphim feurige, sechsflügelige Engel, die Gottes Thron umschweben und immerfort „Heilig, heilig, heilig“ rufen. Vollkommen einmalig ist die Seraphon-Basstuba mit ihrem kräftigen Klang. Sie ist zum Teil eine Transmission der Tuba mirabilis. Der Konstrukteur des neuen Orgelwerks erreichte die kraftvolle Wirkung durch drastische Erhöhung des Winddrucks von den üblichen 45 bis 90 mm/WS auf – ursprünglich bis zu 280 mm/WS – jetzt nach der Restaurierung immer noch 195 mm/WS – und Verdopplung der Pfeifenlippen. Weigles patentierte Hochruckpfeifen für einige Orgelregister verleihen dem Instrument einen überwältigenden Klang.

Es gab in der Musikgeschichte immer wieder Versuche, Instrumente zu kombinieren, um den Klang zu erweitern, z. B. im 16. Jahrhundert das Claviorganum, eine Verbindung von Orgel und Klavier zur Erzeugung des Tons gleichermaßen durch Luft und Metall. In der Regel setzten sich hybride Instrumente nicht durch und gerieten rasch in Vergessenheit.

Auch die Parabrahm-Orgel erfuhr dieses Schicksal und kam über nur drei tatsächlich realisierte Instrumente nicht hinaus. Sie waren allesamt Teil einer Werbekampagne. Die drei Prototypen in Neukölln, Eichwalde und Liegnitz – alle außerhalb der Musikzentren gelegen – dienten als Referenzobjekte für potentielle Kunden. Das einzige noch erhaltene Instrument dieser Art steht seit 1908 in der evangelischen Kirche in Eichwalde bei Berlin.

Die Parabrahm-Orgel – also ein Dokument der Hybris und Vergeblichkeit, von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Auch die kaum vollständig erfüllbaren Anforderungen an den Interpreten, der herkömmlich ausgebildet und kein Virtuose ist, haben den Siegeszug ebenso verhindert wie der Wandel des Geschmacks und der Moden im Orgelbau. Eine Riesenorgel wie die Sauer-Orgel aus 1905 im Berliner Dom ist leichter zu handhaben als die kleine Parabrahm-Orgel aus 1908 in Eichwalde, sofern alle Möglichkeiten ausgereizt werden sollten.

Wie ein unerfülltes Versprechen ragt dieses staunenswerte Monument der Vergeblichkeit in die Gegenwart – und bleibt trotzdem eine Herausforderung für den Spieler und bestens geeignet, Kompositionen wiederzugeben, in denen Hochdruckregister und durchschlagende Metallzungen in einen Dialog treten.

Die übersteigerten Erwartungen – sowohl künstlerisch wie ökonomisch – hatten wohl von Anfang an keine Zukunft. Die ersehnte Dynamisierung des angeschlagenen Orgeltons war auf analoge Weise nicht vollständig erreichbar. Heute gibt es Versuche, eine traditionelle Orgel mit zusätzlichen Registern aus dem Computer aufzurüsten – z. B. in der Berliner KWG mit einem sog. Midi-System und Subwoofer-Lautsprechern, die allerdings den Gesamtklang verfälschen. Fragwürdige Verbindungen einer Orgel mit elektronischen Bauteilen zwecks dynamischer Expansion werden sich als musikalische Sackgasse erweisen. Ein Computer kann fast alles, die Orgel soll gar nicht alles können, dafür ist sie nicht geschaffen.

Ulrich Eckhardt


Erläuterung zur bei Note&Ton erschienenen CD