Herbert von Karajan (1908–1989) – Kapellmeister

Ein Dirigent des 20. Jahrhunderts – Ein Herrscher im Reich der Musik – oder (nach Thomas Bernhard) „erster Musikarbeiter“

Seine Botschaft: „… wonach ich mich sehne, Harmonie und Schönheit unter die Leute zu bringen“. „Ich will der Beste sein.“… und geschehen muss doch, was ich für richtig halte.“

Foto: Warner Classics Archive

Zu porträtieren ist ein Dirigent, der wie kaum ein anderer die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts musikalisch dominierte, bereicherte und veränderte, der eine unübersehbare Materialfülle in Ton und Bild hinterließ, ein Kind seiner Zeit war, klassische Musik in unerhörtem Maße popularisierte und Berlin zum Mekka der Musik machte. Zu verteidigen ist die Figur eines maßstabsetzenden Interpreten – gegen die Hymnen seiner Bewunderer ebenso wie gegen die Vorurteile seiner Kritiker. Mit seinem Wirken setzte er sowohl Traditionen fort als auch nachhaltige Innovationen frei. Er leitete einen Paradigmenwechsel musikalischer Interpretation ein, der die Position des Dirigenten grundlegend veränderte – als dominante Figur im Musikbetrieb und seiner medialen Expansion.

Am 16. Juli 1989 starb Herbert von Karajan in Anif bei Salzburg, herausgerissen aus Proben für Verdis Maskenball und Gesprächen über aktuelle technologische Weiterentwicklungen der Aufnahmen klassischer Musik – kennzeichnende Umstände – und nicht – wie er es sich einmal gewünscht hatte – auf dem Podium im Konzertsaal. Ein Menschenleben kam an sein Ende, das von einer überbordenden Leistung geprägt und auf Verschleiß angelegt war. Rücksichtslos in der Verfolgung seiner eigenen Interessen und selbst gesetzten Ziele, gierig nach Ruhm und Erfolg, unaufhaltsam vorwärts und an die Spitze strebend.

Das Gedenkkonzert für Karajan fand am 10. September 1989 als Veranstaltung der 39. Berliner Festwochen statt; das Andante aus Schuberts 8. Symphonie, der Unvollendeten, spielte das Berliner Philharmonische Orchester dem Verstorbenen zu Ehren ohne Dirigenten; Bruckners 9. Symphonie in der Originalfassung von 1894 leitete dann – nach einer Ansprache Wolfgang Stresemanns – Carlo Maria Giulini, den der jüngere Karajan einmal als seinen legitimen Nachfolger benannt hatte. Richtig ist, dass Giulinis einfühlsame, gelassene Art des Umgangs mit Orchester und Werk dem späten Karajan sehr nah war.

Ich schrieb im Pogrammheft u. a.: „Nur wenige Interpreten des 20. Jahrhunderts umgab eine solche Aura. Es war die Aura dessen, der der Welt der Komponisten die Welt einer unerbittlich perfekten Interpretation in aller instrumentalen Meisterschaft und mit allem klanglichen Glanz entgegenstellen wollte, der, wie kein anderer, die Gefahren, die dem Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit drohten, sah und mit dem ihm eigenen unbeirrbaren Kunstwillen bannen wollte, indem er durch Nutzung modernster Medientechnik die scheinbare Objektivierung musikalischer Interpretation betrieb, und es war schließlich die Aura, die denjenigen umgibt, der bei aller Menschenscheu und persönlichen Unnahbarkeit es geschafft hatte, die Musik der großen Klassiker in einer Weise zu popularisieren, dass er von einem breiten, vormals abseits stehenden Publikum mit ihr in eins gesetzt wurde.

Berlin wurde zum Zentrum seiner künstlerischen Existenz, nicht Wien, nicht Salzburg, Mailand oder London. Und doch fühlte er sich hier nie zu Hause. Die Stadt blieb seiner katholisch-österreichischen Mentalität fremd. Er rieb sich bis zur Bitternis an der Ruppigkeit und Härte dieser Stadt. In dreißig Jahren keine Wohnung und ohne die Möglichkeit des eigenhändig gesteuerten Einfliegens; nur viel Widerspruch und Unbequemlichkeit.

Für Berlin war Karajan ein Glücksfall. Keine Musikstadt der Welt hat je auf so lange Dauer die Ernte einer solch fruchtbaren Verbindung, wie sie zwischen ihm und dem Berliner Philharmonischen Orchester gewachsen war, genießen können. Er hat dieses Orchester zu einer unvergleichlichen Meisterschaft geführt und mit ihm das Musikleben dieser Stadt geprägt und von hier aus in die musikalische Welt gewirkt.

Karajans Musizierstil ist der großen Tradition des 19. Jahrhunderts entwachsen. Orientiert an unbedingter Werktreue, verband er sie mit dem Enthusiasmus für neueste technische Medien, gepaart mit der Lust am Markt, auf dem Kunst auch als Ware gewertet wird. Er traf damit den Zeitgeist mit traumwandlerischer Sicherheit. Analytisch oder strukturell mochte er sich den überlieferten Werken nicht nähern. Sprachgestus, Architektur und vor allem Klangsinnlichkeit las er aus den großen Partituren – und doch gelangen ihm überzeugende Deutungen bei Mahler, Schönberg, Berg und Webern.

Das Publikum erlebte ihn – und im Fernsehen wurde, durchaus mit seiner Billigung, dieser Eindruck noch verstärkt – als Magier des Taktstocks, mit verklärtem Blick große Bögen und nie kleine Einzelheiten nachvollziehend. Und gleichzeitig war er doch von allen großen Dirigenten unserer Zeit der handwerklich perfekteste, der exakt die physiologischen Voraussetzungen des Dirigierens wie Atmung und organische Abläufe einkalkulierte…

Zu den großen musikalischen Ereignissen der Berliner Festwochen zählten in den letzten Jahren Karajans Aufführungen von Mahlers Neunter und Schönbergs „Pelleas und Melisande“. Beide Festwochenaufführungen sind glücklicherweise auf Schallplatten dokumentiert. 36 Jahre währte die ununterbrochene und inspirierende Zusammenarbeit mit den Berliner Festwochen, von 1953, als er noch neben Furtwängler begann, bis 1988 mit der unvergesslichen Aufführung von Verdis Requiem, als es nach seinem eigenen Willen das letzte Mal gewesen sein sollte. Der Tod machte nun alle Bemühungen zunichte, Versöhnung und Rückkehr wie 1984 zu Bachs h-Moll-Messe zuwege zu bringen.“

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Karajan im Kontext seines Jahrhunderts – das heißt einen grundsätzlichen Widerspruch zu betrachten: Während alle Autoritäten wankten, errichtete hier jemand ein autokratisch verfasstes musikalisches Imperium auf der Basis herausragenden Könnens in einem Beruf, dessen Merkmal das autoritäre Führen einer Gemeinschaft ist. Sein Publikum verehrte ihn als Pultstar und kaufte millionenfach seine Schallplatten – übrigens bis heute. Anders große Teile der kritischen Fachwelt und politisch korrekte Beobachter – sie ziehen ihn eines Kults des Perfektionismus, machten ihn als „Generalmusikdirektor Europas“ verächtlich, belächelten seine Technikbesessenheit, verurteilten seine politische Blindheit. Seine vermeintliche Unnahbarkeit verstärkte noch die Ressentiments.

Wer war der als Heribert Ritter von Karajan in Salzburg am 5. April 1908 geborene Mensch wirklich hinter einer von ihm selbst gepflegten und allzu lang gegen alle Vernunft beharrlich aufrecht erhaltenen Fassade?  Niemand sollte ihn je schwach sehen; die Abbilder eines tollkühnen Seglers, Rennfahrers, Piloten, Skifahrers oder Bergsteigers sollten das Image ausmachen; in Wahrheit war er scheu bis zur Paranoia, äußerst misstrauisch und am Ende seiner Tage ein ausgemachter Misanthrop. Der Wunsch nach Einsamkeit in freier Natur, am Meer oder über den Gipfeln der Berge, den freien Himmel im Blick, prägte seinen Charakter und war Ausgangspunkt des lebenslänglichen Strebens nach Unabhängigkeit, was allgemein irrtümlich als Machtbesessenheit gedeutet wurde. Er wollte jederzeit frei sein in seinen Entscheidungen, frei von Einflussnahme, frei von politischen, organisatorischen oder anderen außermusikalischen Störungen. Deshalb musste er sich selbst ein eigenes Königreich aufbauen – ganz und gar gegen alle gesellschaftlichen Maximen der Zeit. Er war ein Unzeitgemäßer in seiner Gegenwart und konnte oder wollte das nicht begreifen.

Peter Uehling beschließt seine sorgfältig analysierende, fulminante, reflektierte, materialreiche, nicht unkritische, aber um Objektivität bemühte Untersuchung des Phänomens Karajan: „… Schnell war er auch in Berlin und überhaupt im intellektuellen Leben als Künstler vergessen. Sprach man überhaupt noch von ihm, dann als Gegenstand von Unterschätzung, Spott und Hass. Aber so tut man alles ab, was mit einem historischen Ruck seine Aktualität einbüßt…Es könnte die Zeit gekommen sein, ein Lebenswerk von seltener ästhetischer Prägnanz und Konsequenz wieder zu entdecken und zur Diskussion zu stellen.“ (S. 392 der bei Rowohlt 2006 erschienenen Biographie)

Das reichste Material zur Nachprüfung seiner Leistungen bieten die Tondokumente in millionenfach verbreiteten, bis heute zu Bestsellern zählenden Schallplatten und Compactdiscs. Alles, was man – im positiven wie im negativen Sinne – über die musikalischen Errungenschaften behaupten möchte, ist objektiv nachvollziehbar, kann nachgehört werden – vom Anfang in Berlin vor und während des Krieges bis zu den letzten Wiener Aufnahmen unmittelbar vor seinem Sterben. Bei genauem, nüchtern abwägendem Hinhören erweist sich vieles als unrichtig, was sich als Urteil festgesetzt hatte.

Der atemberaubend schöne und perfekte Orchesterklang, den er mit den Berliner Philharmonikern in jahrzehntelanger Probenarbeit erzielt hat, ist kein irrealer Mythos, sondern nachprüfbare Wirklichkeit, die Maßstäbe für die Orchesterkultur gesetzt hat. Schon zu Lebzeiten wurde Karajan zur Legende, zum Idol, zum Guru für Aspiranten der Dirigierkunst, zur Kultfigur und zum Musikpapst für die Auditorien weltweit. Solche Entrückung verstellt den Blick dafür, dass er, der niemals Maestro genannt sein wollte, ein brillanter Techniker, Handwerker im Sinne tradierter Kapellmeisterkunst war, der alles, was zum Dirigieren gehört, Physisches wie Psychisches exakt kalkulierte und unablässig übte. Damit revolutionierte er das Handwerkliche der Orchesterarbeit, professionalisierte er im modernen Sinne die klangliche Orchesterbildung. Er ging dabei äußerst methodisch und rationell vor, vermied hohle Phrasen oder überbordende Emotionen. „Kapellmeister ist ein Handwerk, das man lernt. Dirigent ist nur Machtausübung.“

Obwohl das Prinzip der Hierarchie unausweichlich zur Profession des Dirigenten gehört, mag mancher es auch bis zur Camouflage pseudo-demokratischen Umgangs negieren, war Karajans Verhalten stets gekennzeichnet durch präzise Kriterien für die Interaktion und durch kooperativen Pragmatismus. Er war immer bestens vorbereitet, beherrschte die Partitur bis ins Detail hinein auswendig, war in der Regel freundlich und sachlich, nicht verletzend oder aggressiv; die Probenzeiten waren ökonomisch berechnet, die Konzertprogramme nie zu lang, in späteren Jahren eher zu kurz (aber das war sehr bewusst und wohl begründet in der jeweiligen Werkwahl).

ULM – AACHEN – BERLIN
Der Weg vom Korrepetitor zum Stardirigenten

„Ich sehe mich als den letzten Überlebenden der alten Kapellmeistertradition… Heute sind die Karrieren junger Dirigenten anders vorgezeichnet; sie müssen zwangsläufig rascher und oberflächlicher sein.“

Obwohl als Student in Wien eingeschrieben, praktizierte Karajan eine Art autodidaktischen Selbstunterrichts: „Wir gingen das Repertoire durch, das in der Staatsoper auf dem Spielplan stand. Zwei von uns spielten Klavier, einer sang die Solopartien, einer den Chor, und einer dirigierte. Ich bin überzeugt, dass dies die beste Methode ist.“ 

Rasch folgte am 22. Januar 1928 das Debüt in einem Privatkonzert mit dem Orchester des Mozarteums – erstaunlich mutig mit Don Juan von Richard Strauss, der alsbald sein Vorbild wurde.

Mit den Lehrjahren in Ulm als Korrepetitor an einem recht kleinen Theater mit sehr begrenzten Mitteln begann der zielstrebige Aufstieg, nach kurzer Zeit der Arbeitslosigkeit konsequent fortgeführt in Aachen als jüngster Chefdirigent an einer deutschen Opernbühne. An beiden Häusern konnte er erfolgreich erproben und entfalten, was seine spätere praktische Arbeit charakterisierte und seine Ausstrahlung ausmachte. Er verlangte allenthalben extreme Probenzeiten zur Perfektionierung des Klangs, verfeinerte seine Kunst der Sängerbegleitung und begann mit Operninszenierungen. Berlin wurde aufmerksam und rief 1938/39 zum doppelten Debut: in der Staatsoper die Uraufführung von Wagner-Régenys Oper Die Bürger von Calais – in der Philharmonie der Einstand mit Mozart, Brahms und Ravel.

Als Karajan 1934 arbeitslos war, reiste er von Ulm nach Berlin, ins Zentrum des Musikgeschehens. Es hätte nahe gelegen, sich als Klavierspieler etwa im Kabarett oder als Hilfskapellmeister zu verdingen. Indessen ließ er sich beim „Paritätischen Bühnennachweis“ als Korrepetitor registrieren – in der schlauen Annahme, Intendanten von Opernhäusern beim regelmäßigen Vorsingen in der Hauptstadt treffen und sie zu einem Engagement überreden zu können. Und er reiste mit der Eisenbahn auf beschwerlichen Wegen zu Stadttheatern in der Provinz. Die lebenslange Abneigung gegen Bahnhöfe und Züge mag daher rühren, dass sie ihn an die Zeit seiner Depression und Erfolglosigkeit erinnerten. Die Rechnung ging auf, wie er später so manches überwand, was sich seinem starken Willen in den Weg stellte. Doktor Gross, der Intendant des Stadttheaters in Aachen, war schließlich quasi hypnotisiert von den legendären stahlblauen Augen und befreite ihn aus der Klemme.

In Aachen, wo er Deutschlands jüngster Generalmusikdirektor war, hielt er für Bachs h-Moll-Messe oderBeethovens Missa Solemnis bis zu 70 Proben ab, um ein seinen Vorstellungen entsprechendes klangliches Ergebnis zu erreichen. Und er gab von seinen strengen Arbeitsbedingungen auch nichts preis, wenn ihn in Berlin die Staatsoper oder die Philharmoniker einladen wollten. Das brachte seine Gegenüber immer in Erstaunen über die Ansprüche eines noch unbekannten jungen Nachwuchsdirigenten.

Karajan hatte schon früh, bereits in Ulm und dann verstärkt in Aachen, Neigungen entwickelt, sein eigener Opernregisseur zu werden; denn er war von panischer Angst besessen, es könne ihn musikalisch stören, was er auf der Bühne sehe, und er müsse es ja sehen, wenn er die Singstimmen zu begleiten habe.

Als er wegen politischer Unzuverlässigkeit schon nicht mehr Mitglied der Reichstheaterkammer sein konnte, also praktisch mit Berufsverbot belegt war, inszenierte Walter Felsenstein in Aachen die Oper Carmen mit dem jungen GMD Herbert von Karajan als Kapellmeister – ein bemerkenswertes Ereignis. Die beiden Künstler hatten sich trotz politischen Gegenwinds abseits der Hauptstadt in der Theaterprovinz in der Arbeit verbündet. Leider hat sich für Karajan daraus später keine anhaltende künstlerische Beziehung ergeben, was einige herausragende Produktionen auf dem Gebiet einer zeitgemäßen Oper hätte erwarten lassen.

1938: ein mehrfach entscheidendes Jahr für Karajans späteren Berufsweg: zweifaches Berliner Debut – bei den Philharmonikern und in der Staatsoper – beide Male äußerst folgenreich und erfolgreich, nahezu sensationell – mit entsprechenden Reaktionen – die Boulevard-Schlagzeile vom „Wunder Karajan“, ferner Furtwänglers beginnende und danach stetig wachsende Eifersucht auf den jüngeren Prätendenten auf die Führungsposition im Musikleben der Hauptstadt – zum anderen die Entdeckung eines Komponisten, dessen Musik ihn zeit seines Lebens faszinierte, spirituell anregte und zu immer neuen Interpretationen herausforderte: Jean Sibelius, dessen 6. Symphonie er in Stockholm zu dirigieren hatte. Dann noch der erste Auftritt mit dem Concertgebouw Orkest und die erste Schallplattenaufnahme. Mehr und besser geht es wirklich nicht.

Indessen – was für ihn persönlich und für seine Karriere zum Besten aller jungen Jahre geriet, war für das Land und seine Zivilisation ein Jahr des Schreckens, des moralischen Tiefstands durch die Novemberpogrome fünf Jahre nach der Bücherverbrennung! Eine verstörende Koinzidenz! Eine Bruchkante zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Politik, privatem Glücksstreben und beruflichem Ehrgeiz!

Den Einstieg in die große Opernwelt internationalen Zuschnitts markiert die Uraufführung der Oper Die Bürger von Calais von Rudolf Wagner-Régeny am 28. Januar 1939 in der Staatsoper Unter den Linden – ebenso wie der gleichfalls von Karajan dirigierte Friedenstag von Richard Strauss, ein pazifistisches und antimilitaristisches Werk. Das historische Ereignis des Jahres 1347 diente sowohl 1884 Rodin als auch dem Antikriegsdrama von Georg Kaiser 1914 als Motiv künstlerischer Auseinandersetzung mit Krieg und Unterdrückung, mit Friedenssehnsucht und Solidarität. Georg Kaiser musste emigrieren; mithin ging Intendant Tietjen das Risiko des Verbots durch die nationalsozialistische Kulturpolitik ein, und auch der Dirigent Karajan wäre betroffen gewesen. Caspar Neher, der das Libretto geschrieben hatte, war Bertolt Brechts Freund, enger Mitstreiter und Sympathisant des Kommunismus, hatte mit verfemten Künstlern wie Zemlinsky, Klemperer, Reinhardt und Carl Ebert zusammengearbeitet – hatte also alles aufzuweisen, was politisch verfolgt war und ausgemerzt werden sollte. Nach sechs Aufführungen wurde dieser Appell an Moralität vom Staat nicht länger geduldet.

Als Karajan am 8. April 1938 zum ersten Male die Berliner Philharmoniker in einem Konzert in der Bernburger Straße leitete, war er 30 Jahre alt. „Rundtanz der Generationen: Richard Strauss und Herbert von Karajan“ – so übertitelte Fred Hamel, Musikkritiker der Deutschen Allgemeinen Zeitung, in der Zeitschrift Deutsche Zukunft seine Analyse nach Karajans zweitem Auftritt in der Philharmonie am 14. April 1939.

Richard Strauss galt allgemein als Gründervater einer modernen Schule des Dirigierens – und als solchen und als sein großes Vorbild betrachtete ihn auch Karajan, der von einer frühen Begegnung mit dem dirigierenden Komponisten zeitlebens tief beeindruckt und beeinflusst geblieben war. Hamel charakterisierte Karajans Dirigierstil hellsichtig: Er packe die große Symphonik von einem archimedischen Punkt her an: von der emotionalen Leidenschaft. „Aber diese Leidenschaft ist nicht mehr die überschwängliche einer romantischen Haltung. Sie ist beherrscht, geführt durch den wachen Realitätssinn einer neuen Generation. Er erweist sich schon bei Haydn in einer unbedingten Transparenz des Klangs, in einer haarscharfen Ausfeilung der Phrasierung, in einer fast ganz terrassenmäßigen Anlage der Lautstärke.“

Als Furtwängler krank im Sanatorium weilte, kam Karajan im November 1954 nach Berlin, um – kombiniert mit Bruckners 9. Symphonie, dem Herzstück des Furtwänglerschen Repertoires – die mystische „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“ von Vaughan Williams einzustudieren und aufzuführen. Karajan hatte eine ehrliche Wertschätzung für seinen Vorgänger Wilhelm Furtwängler; er bewunderte ihn und besuchte eifrig dessen Konzerte. Furtwängler starb im selben Monat – am 30. November 1954 – und zur Überraschung vieler Zeitgenossen folgte ihm seine Nemesis nach: Herbert von Karajan – auf der Grundlage einer Resolution des Orchesters.

Endlich war er am Ziel seiner Träume, als im Dezember 1954 die Mitglieder des Orchesters – in gewisser Panik angesichts einer unmittelbar bevorstehenden USA-Tournee – eine Resolution beschlossen: „(Wir) bitten den Intendanten Dr. von Westerman, Verhandlungen einzuleiten mit dem Ziele, Herbert von Karajan die Leitung der großen Philharmonischen Konzerte und der Reisen für einen noch näher zu bestimmenden Zeitraum zu übertragen“. Diese Formulierung trug in sich den Keim später aufbrechender bitterer Konflikte und ernster Krisen; denn Karajan bestand selbstbewusst auf einem Vertrag auf Lebenszeit, wie ihn Furtwängler hatte, der ihn überdies auch berechtigte, einen ihm nicht genehmen Intendanten abzulehnen.

In seiner teils vorbereiteten, teils improvisierten Antrittsrede (mit dem geflügelten Wort: „Mit tausend Freuden, anders kann ich’s nicht sagen“) nach dem Konzert am 22. Februar 1955 sagte Karajan dann über seinen Vorgänger: „Das Wesentliche ist über ihn noch nicht wirklich gesagt worden. Er hat eine vollkommen neue Ausdruckssprache der Musik geschaffen: nämlich nicht vom Dirigenten auf das Orchester, sondern mit dem Orchester. Manchmal hat er ihm ja sogar diese Entscheidung gelassen – diese Übergänge, wenn das Alte abgelebt ist und bevor das Neue anhebt, diese fast magischen Übergänge, wo man noch nicht wusste, ist es jetzt schon soweit oder noch nicht… Ich sehe jetzt, wenn ich vor dem Orchester stehe, dass ich eigentlich dieselbe Sprache spreche.“

Karajan dachte in weiten Zeiträumen und sah die Notwendigkeit, das Orchester auf mittlere Sicht quasi rundzuerneuern, sprach das aber zu Beginn nicht aus, um das Orchester nicht zu beunruhigen. Seine vertraglichen Forderungen, die erst nach langem, hinhaltendem Taktieren seitens des Berliner Senats und – wie sich viel später erwies – auch hinsichtlich der Intendantenfrage nur unvollständig erfüllt wurden, beruhten auf dem eingewurzelten Bedürfnis nach Sicherheit und Unabhängigkeit, sowohl auf Machtinstinkt, als auch auf Verantwortungsbewusstsein. Die Mindestanzahl der zu leistenden Konzerte wurde auf zwei Mal sechs Programme pro Spielzeit reduziert – auch das ein späterer Konfliktherd –, obwohl es dann jahrzehntelang weitaus mehr waren, ganz zu schweigen von Konzerten auf Gastspielreisen und von Schallplatten und Filmen mit dem Orchester. Das pflichtmäßige Minimum kam erst zur Geltung, als Schmerzen und Krankheiten und physischer Abbau trotz hoher Disziplin die Reduzierung seiner Berliner Präsenz erzwangen.

Foto: Warner Classics Archive

Jedenfalls begann 1955 eine künstlerisch wie ökonomisch goldene Zeit von 34 Jahren für Orchester und Chef mit ca. zweitausend Konzerten und über 800 Aufnahmen.

Abgesehen von einer kurzzeitigen Leitung der Wiener Staatsoper, einer Mailänder und einer Pariser Episode – unabhängig von gelegentlichen, später häufigeren Arbeitsphasen mit den ihm affektionierten Wiener Philharmonikern – hat sich Karajan treu und beharrlich auf die ihm übertragene Berliner Aufgabe konzentriert. Er hatte die Chance, das Orchester im Generationswechsel zu verjüngen und solistische Positionen seinem Klangideal entsprechend neu zu besetzen. Er entwickelte einen äußerst flexiblen, transparent agierenden Klangkörper, der sich mit Opern und Schallplatten neue Dimensionen des Musizierens erschließen konnte – durch Arbeit ohne Probenlimit hoch getrimmt auf perfekten, exquisiten Schönklang. Das war kein Bruch mit der von Furtwängler geprägten Überlieferung, sondern eine kontinuierliche Weiterführung. Die autokratische Verfassung war durch paternalistische Fürsorglichkeit veredelt und durch materielle Anreize stabilisiert – beste Konditionen für enorme Produktivität und höchste Motivation.

Aus der Arbeitsperspektive der Musiker des Berliner Philharmonischen Orchesters war Karajan den Methoden Furtwänglers näher als Celibidache; denn er liebte konzentrierte Proben, die sich nicht in die Länge zogen und die Musiker langweilten, und er ließ musizieren, gab der individuellen Entfaltung des einzelnen Musiker den nötigen Raum, so dass sich das Kollektiv aus Persönlichkeiten unter seiner Anleitung sicher, ernst genommen und motiviert fühlte, alles zu geben, was ihm möglich war. Karajan war alles andere als ein verwegener Dompteur oder zynischer Besserwisser. Einige waren anfänglich irritiert, weil Karajan im Konzert beim Dirigieren seine Musiker nicht ansah, keinen Blickkontakt hielt, nicht durch Blicke aufmunterte oder ermahnte; es gehörte zu seiner Taktik, die Verantwortung für das klangliche Geschehen im Ernstfall des Konzerts durch Reduktion der Gestik weitgehend auf seine Musiker zu delegieren. Karajan reagierte nie unmittelbar auf Fehler der Orchestermusiker; denn er war überzeugt, dass dadurch deren Leistung nicht verbessert, sondern eher gemindert wird – ein psychologisch kluger Umgang mit den Betroffenen.

Foto: Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Über sein Verhältnis zum Orchester während eines Konzerts: „In einer Beziehung fühle ich mich als legitimer Nachfolger Furtwänglers: Er hat während eines Konzerts das Orchester immer wieder sich selbst überlassen. Er hat bei Übergängen bewusst gezögert, die Führung zu übernehmen, hat spüren lassen, dass er sich den nächsten Akkord vom Orchester selbst wünscht, und hat gewartet. Die Berliner erzählen von seine scheinbar hilflosen Blicken… und sie spielten für ihn weiter – wie er sich wünschte… Es wäre aber sinnlos, dem Orchester die absolute Freiheit einzuräumen – wie es auch sinnlos ist, dem Orchester überdeutlich zu zeigen, wo ich langsamer werden möchte. Die Musiker spüren schon, was geschehen soll. Ich selbst habe ein Tempo im Kopf, lange bevor eine bestimmte Stelle kommt. Ich weiß im voraus, was geschehen wird. Und die Musiker reagieren völlig richtig und brauchen dazu weder eine Geste noch einen Blick. Umgekehrt spüre ich im voraus, wenn im Orchester etwas passieren wird, ein Musiker Probleme mit dem Atem hat, und werde ihm zuliebe schneller. Ich spüre im voraus die Angst eines Musikers vor einem heiklen Einsatz und helfe ihm, über die Stelle hinweg zu kommen…“

Karajan war tatsächlich der legitime Nachfolger Furtwänglers ebenso wie Abbado der seinige. Im Musizieren standen die drei aufeinander folgenden Chefdirigenten einander weitaus näher als gemeinhin angenommen wird. Nur der Profilbildung wegen und meist von außen von spitzfindigen Musikkritikern projiziert, habe der neu beginnende Nachfolger jeweils mit den klanglichen Hinterlassenschaften des Vorgängers gründlich aufgeräumt; die Realität ist eine ganz andere. Das gilt für wichtige – selbstverständlich nicht für alle – Grundelemente der Profession: die Probenökonomie, das auswendige Dirigieren, die Willenskraft, das organisatorische Talent, das Streben nach Vollkommenheit, Gründlichkeit und Genauigkeit, die Transparenz und Balance zwischen den Orchestergruppen, die behutsame Begleitung von Solisten und Sängern, die Aura und das Charisma auf dem Podium im Konzert als Vehikel der Vermittlung zum Publikum. Beide haben zu ihrer Zeit das Orchester jeweils stark verjüngen und bei der Auswahl vor allem solistischer Positionen ihren Einfluss geltend machen können, so dass sich der Gesamtklang ihren Vorstellungen entsprechend modifizieren ließ. Beide entschlossen sich, nach einer Zeit problematischer Ämterhäufung schließlich auf ihre Berliner Verpflichtungen zu konzentrieren. Beide verband eine Leidenschaft für die Oper. Nicht zu vergessen, dass Karajan es war, der nach Abbados Berliner Debut mit dem RSO im Sendesaal, das er eher zufällig besuchte hatte, ihm durch eine spontane Einladung nach Salzburg zu einem raschen Einstieg in eine internationale Karriere verhalf.

Im Falle der Berliner Philharmoniker ist die Kontinuität besonders deutlich wahrnehmbar – trotz so radikal unterschiedlicher Charaktere wie Furtwängler, Karajan oder Abbado. In der Substanz profitiert der Nachfolger jeweils weit mehr von der Arbeit des Vorgängers als allgemein angenommen wird oder sich der jeweilige Chef selbst einzugestehen oder nach außen zuzugeben bereit ist.

Jedes Orchester hat einen kollektiv wirksamen Charakter, und auch Karajan hatte insoweit eine qualitative Prädisposition von seinen Vorgängern ererbt; aber einzelne Facetten lassen sich durch langjähriges Zusammenwirken beeinflussen, verändern, ergänzen, herausstellen, zuspitzen oder zurückdrängen. Karajan gelang in klug disponierender Strategie und Methodik eine bruchlose Überführung in eine neue Zeit, die zu tun hat mit veränderten Prozessen der Rezeption, mit medialen und ökonomischen Metamorphosen und der Umwertung gesellschaftlicher Parameter.

Kollektives Gedächtnis und kollektiver Charakter – auf den ersten Blick paradoxe Phänomene, jedoch kein Phantom, sondern empirisch nachweisbar. Auch Symphonieorchester können trotz ihrer Größe und Heterogenität, trotz der Ansammlung ausgeprägter künstlerischer Individuen, vor allem in den solistisch agierenden Pulten der Bläser, Konzertmeister und Vorspieler, im Laufe ihrer Geschichte ein künstlerisches Profil gewinnen, das sie unterscheidbar klingen lässt. Verblüffend ist die erkennbare Tatsache, dass diese Kontur auch erhalten bleibt, wenn sich ein regelmäßiger Wechsel von Mitgliedern aus Gründen des Lebensalters vollzieht. Darüber hinaus ist jeder neue Chefdirigent bemüht, seine eigene Handschrift durch allmähliche Veränderung der Parameter des Klangs zur Geltung zu bringen. Gleichwohl bleibt ganz offensichtlich immer ein Kern kollektiver Eigenschaften erhalten, und die eintretenden Modifizierungen erfassen nur Randbereiche, Äußerlichkeiten, Verfeinerungen vorhandener Eigenschaften oder Eigenarten.

Karajan pflegte im Umgang mit den Orchestermitgliedern einen paternalistischen Herrschaftsstil; Autorität blieb immer gewahrt als notwendige Voraussetzung der Beziehungsstruktur innerhalb eines Klangkörpers; aber hinzu kommt die Fürsorge des pater familias für seine Hausgenossen und Kinder. Als Chef war ihm eine hausväterliche Art eigen, wohl wissend, dass Autorität auch daraus erwächst, dass man sich um das Wohlergehen seiner Leute kümmert und auch kleine Dinge nicht vernachlässigt.

Für viele Berliner Philharmoniker unvergesslich und für manche die schönsten Stunden in ihrer Musikerlaufbahn war „Bach zwischen Bier und Kegeln“ in Sankt Moritz: Von 1964 bis 1973 lud der Chef im Rotationsverfahren sorgsam ausgewählte Mitglieder des Orchesters zu Geselligkeit und Arbeit ein, und sie lernten dort einen liebenswerten kameradschaftlichen Familienvater kennen, der sich jedem Einzelnen herzlich zuwandte und sich um ihre individuellen Sorgen kümmerte. Es entstanden heiter pulsierende, lockere, gelöste, spielfreudige und doch kraftvolle Aufnahmen von Werken des Barock und der Frühklassik in auf Zuruf anberaumten, über den Tag verteilten Sitzungen. Man hört den Aufnahmen die glücklichen Umstände ihrer Entstehung an – zum Beispiel fünf der sechs Brandenburgischen Konzerteunddie Orchestersuiten 2 und 3 von Bach. Der Stil der Interpretation mag heute manchem kritischen Hörer veraltet vorkommen; aber es lohnt sich allemal hineinzuhören. In den Sommerferien 1969 wurde das Arbeitspensum erweitert um Honeggers 2. Symphonie, die Metamorphosen von Richard Strauss und von Strawinsky das Concerto in D für Streichorchester sowie Apollon Musagète, ein berührendes und charakteristisches Beispiel für das unter Karajan erreichte unerhörte Orchesterlegato, das schon Furtwängler erkannte und ihm zugestand.

In den frühen siebziger Jahren erreichte die Zusammenarbeit der Berliner Philharmoniker mit ihrem Chef ihren Höhepunkt – so etwa in der Spielzeit 1973/1974, als er über 70 Konzerte leitete, davon zwanzig in Berlin. Es war eine Zeit außerordentlicher Produktivität und damit einhergehend natürlich auch materieller Erträge. Die Jahre des Überflusses machten in späterer Zeit, als Karajans Kräfte nachließen, die Einschränkungen umso schwerer erträglich und weckten Frondeure.

KÖRPER – ATEM – BEWEGUNG
Über die physischen Bedingungen des Dirigierens

Sein Naturell prädestinierte ihn: „Er war eine ganz große Naturbegabung, und ein Teil seiner Dirigierkunst hat sich bei ihm aus dem Sport entwickelt… Bei ihm ergaben sich die Bewegungen ganz von selbst aus einer Gedankenfunktion, die dann, ohne dass man es spürt, in das Körperliche übergeht“ – früh erkannt von seinem Salzburger Mentor Bernhard Paumgartner. Organisch fließende Bewegungsabläufe mit sparsamer, aber rhythmisch präziser Gestik, Einklang zwischen physischer Kondition und mentaler Konstitution – beide unablässig trainiert durch Hatha-Yoga.

Foto: Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Anders als viele heutige Dirigenten machte Karajan in den Bewegungen einen deutlichen Unterschied zwischen der rechten und der linken Hand. Seine Arme vollführten nicht, wie heute so oft zu sehen ist, ständig symmetrische Figuren. Insoweit hielt er an der Überlieferung fest, wonach rechts das Metronom und links eher die Emotion Gestalt annehmen soll.

Eine ganz selbstverständliche, quasi natürliche Musikalität war verbunden mit Körperbewusstsein, sportlichem Training. Er strebte nach dem Ideal einer vollkommenen Harmonie zwischen Spiritualität und vegetativer Körperlichkeit. Für seinen Beruf bedeutete es das Streben nach vollkommen organischen Bewegungsabläufen beim Dirigieren. Die Gestik eines Dirigenten ist der nonverbale Ausdruck seiner Vorstellung vom Werk, seiner Vision und Fantasie ebenso wie seines autokratischen Willens.

Karajan dirigierte in Konzerten anders als in Proben: meditativ mit geschlossenen Augen, fest auf dem Boden geerdet, ohne exaltierte selbstgefällige Aktionen – im Wissen, dass nach intensiver Vorbereitung für die Aufführung selbst andere Kriterien gelten. Das Orchester braucht jetzt die Freiheit zur Klangentfaltung, und der Kapellmeister fungiert als Koordinator und Medium. Hinter Magie und Aura stehen Arbeit und Disziplin. Karajan betonte nicht selten, er habe von Richard Strauss viel gelernt über die Kunst der Arbeit mit einem Orchester: die Makellosigkeit des Rhythmus, der nicht dem Metronom, sondern einem inneren Impuls folge und nicht nur für einzelne Elemente, Abschnitte oder Phasen, sondern für die ganze Komposition gelten müsse. Nachdem er den als Vorbild verehrten Altmeister im Graben, seine Abneigung gegen überflüssige Bewegungen beobachtet hatte, registrierte er für sich: „… Was er meinte: Lassen Sie die Musik ganz natürlich fließen… Das Gefühl sprach durch die Musik hindurch. Er kalkulierte genau ein, wann die Höhepunkte kamen, niemals trieb er voran oder verschleppte das Tempo…“

Auswendig und mit geschlossenen Augen dirigierte er nur im reinen Orchesterkonzert, nicht, wenn ein Chor beteiligt war, nicht im Orchestergraben der Oper und vor allem nicht bei Proben. Seit jungen Jahren hatte er auswendiges Dirigieren zu seinem Markenzeichen gemacht. Geschlossene Augen sind für ihn Ausdruck hellwacher Verklärung, inneren Schauens und vom Visuellen ungestörten Hörens.

Wenn er beim Dirigat im Konzert die Augen schließt, so findet eine Transformation der Sinne statt: Er sieht den Klang und hört den gemeinsamen Atem – ohne Störung durch von der Musik ablenkende Vorgänge oder Erscheinungen – frei von Irritationen. Trotz innerer Versenkung – eine Art meditativer Übereinstimmung – bleibt er dennoch hell wach und behält die Übersicht. Er wird zum Medium mit dem nötigen Abstand zum Werk.

Aus notorischer Abneigung gegen zu viele Worte und aus tief sitzendem Misstrauen gegen deren Wahrheitsgehalt resultierte seine hoch entwickelte Fähigkeit zu nonverbaler Kommunikation – ausgesprochen wertvoll und nützlich für den professionellen Dirigenten, der sonst nur seinen Körper und seine Bewegungen, seine Präsenz und seine Ausstrahlung hat, um Spannung aufzubauen und Klangströme zu lenken.

Sein Taktstock: Zauberstab, Herrschaftszeichen, Signalgeber, Präzisionsinstrument, mitunter gefährlich anmutendes Werkzeug. Der leicht abergläubische Karajan brach ihm die Spitze ab, ehe er ein neues Exemplar in Gebrauch nahm. Er ist der Erfinder des Taktstocks mit einem birnenförmigen Griff aus Kork, der unverkrampft in der hohlen rechten Handfläche ruht – zur Entlastung der Finger, zur Herstellung runder, fließender, organisch aus dem Körper kommender Bewegungen.

DAS HANDWERK DES DIRIGENTEN: DIE PROBEN

Auffällig und kennzeichnend, dass Karajan, der sich sonst wenig zu Grundsätzlichem in seiner Arbeit oder seinem Repertoire äußerte, als einzigen eigenen Text ein Manuskript veröffentlichen ließ – mit dem Titel und zum Thema: „Die Probe“: „Zuerst der Kampf um die elementarsten Werte der Musik: lang – kurz, hoch – tief, laut – leise, stark – schwach, bis sie selbstverständlich werden und nur mehr einem höheren Sinn unterstehen. Blickt man von hier aus zurück zum Anfang, zum Studium der Partitur, zum ersten Erarbeiten einer musikalischen Form für ein geistiges Konzept, so wird fast schmerzhaft klar, wie sehr der Dualismus zwischen Geist und Materie uns in seinen Krallen hält. – Man kann nicht hoffen, zur Klarheit im Geiste und zum Erleben im Herzen vorzudringen, bevor man sich freigemacht hat von der Fessel der Materie…“ Proben sollen das Handwerkliche vermitteln und von Emotionen möglichst freigehalten werden. Alle Beteiligten, auch die Sänger, müssen lernen, aufeinander zu hören.

Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Scheinbar ein mondäner Playboy und glamouröser Gast in der High Society war Karajan in Wirklichkeit ein besessener Arbeiter – ernsthaft und skrupulös bis zum Exzess. Mahlers 5. Symphonie, für ihn zugestandenermaßen schwer zugänglich, hatte er zwei Jahre lang durchgespielt, geprobt und für Schallplatte aufgenommen, ehe sie in einem philharmonischen Konzert erklingen sollte – ermöglicht durch die günstigen Regelungen für Aufnahmen der Schallplattenindustrie.

Über Jahre befasste er sich mit Schönbergs Variationen op. 31 für Orchester – sie quasi als Etüden zur Verbesserung des Orchesterklangs nutzend – nachzuhören in einer Aufnahme aus der Philharmonie, die 1974 die nach mehrmonatigen Proben entstand.

Seine Proben waren gründlich, im Detail unerbittlich gegenüber falschen Tönen und falschen Phrasierungen; er feilte an Fermaten, Pausen und der Dauer eines Tons, an der Dynamik und Architektur des Werks. Sein Gehör war unbestechlich genau, sein Formsinn hoch entwickelt. Er leitete die Musiker an, aufeinander zu hören. Perfektionismus hieß die Parole – und er konnte einfach nicht glauben, dass der Begriff pejorativ gegen ihn gewendet werden konnte.

Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Unter Musikern legendär war Karajans Probenökonomie, die sich nicht nur auf früh in Ulm und Aachen gewonnene praktische Erfahrungen stützte, sondern auch auf psychologische Einsichten und auf eigene Erfahrungen mit Meditation und Autosuggestion. Er vermied es strikt, die Lebenszeit seiner Mitwirkenden zu vergeuden, um sie nicht zu demotivieren. In der Probenarbeit war Karajan fast immer geduldig, vermied es, Musiker wegen eines Fehlers bloßzustellen, wirkte meistens sachlich, ruhig und rational, vornehm und elegant.

Proben mit dem Orchester und mit Opernensembles wurden zeitlich stets auf das unbedingt Notwendige reduziert. Statt mehrfachen Durchspielens einer noch nicht ganz gelungenen Passage bevorzugte er eine analytische Fehlerbestimmung und Diagnose. Gelegentlich wählte er sogar den Verzicht auf eine ihm nicht erforderlich erscheinende Probe. „Bei Musikern ist eine Probe nicht nötig“ – war seine Antwort auf Placido Domingos verblüffte Feststellung, dass das rote Licht für die Aufzeichnung bereits aufleuchtete, als er noch eine Probe erwartet hatte.

DAS CHARISMA DES DIRIGENTEN – IM KONZERT

Der Dirigent ist im Konzert ausschließlich nonverbal auf seine personale Aura und seine körperlichen Gesten angewiesen – als Einzelner ohnmächtig – und muss doch wirkmächtig agieren, um eine gültige Interpretation des musikalischen Werks zu vermitteln. Was in Proben erarbeitet ist, nimmt nun Gestalt an und wird in einen anderen Aggregatzustand transformiert. Um das Publikum in seinen Bann zu ziehen, zum konzentrierten Hören zu führen und eine spirituelle Atmosphäre herzustellen, sind der Auftritt und das Podiumsverhalten des Dirigenten von ausschlaggebender Bedeutung. Schauspielerisch nicht unbegabt kultivierte Karajan auf unnachahmliche Weise seine Bühnenpräsenz, die hypnotische Wirkung seiner Gegenwart, seine Bewegungen und Positionierung auf dem Podest genau kalkulierend. Solche bewusste Selbstdarstellung als Eitelkeit abzuwerten, verkennt deren professionellen Sinn. Ebenso wurden Karajans wie in Trance geschlossene Augen und seine Art, den Applaus inmitten seiner Musiker scheinbar huldvoll entgegenzunehmen, zuweilen missverstanden als inszenierte, geheuchelte Posen. In Wirklichkeit war es ihm auf unprätentiöse Weise ernst mit der Konzentration, dem Freiraum für das Musizieren und der dankbaren Kollegialität gegenüber dem Orchester. Und dem Publikum wollte er allemal ein Fest für Augen und Ohren bieten, um ihm eine genussreiche Botschaft der Harmonie zu vermitteln.

Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Er unterschied also deutlich zwischen Probe und Konzert. Das war ihm sehr wichtig; denn in der Probe geht es um sachlich strenge, genaue Arbeit, im Konzert hingegen um die Herstellung einer kommunikativen Atmosphäre transzendierender Aura, alle Beteiligte, auch das Publikum ergreifend – und das waren für ihn grundverschiedene Aggregatzustände der Musikausübung. Was in den Proben erarbeitet worden ist, soll sich in aktuelle Wahrnehmung verwandeln, in jenseits alltäglicher Mühe sich abspielende seelische und geistige Vorgänge; alles soll leicht erscheinen, ohne Anstrengung, in Harmonie und Schönheit Gestalt annehmen. Und der Dirigent wird zum Medium der Botschaft; also kann er auf herrscherliche, gewalttätig erscheinende Posen und Gesten gegenüber den Musikern verzichten; er hat bereits in den Proben seine Arbeit getan; jetzt ist er für das Charisma zuständig.

Wenn er zügig zum Pult schritt, setzte unvermittelt seine Ausstrahlung von Ruhe, Gelöstheit, Glaubwürdigkeit und Lockerheit ein. Er schien die Kraft und Konzentration aus der Ruhe zu gewinnen, in die er sich versenkt hatte.

Niemals würde er die Zone der Ruhe durch hektische Gestik verlassen – etwa mit spitzem Finger auf Musiker zeigend, sie quasi durchbohrend oder anstachelnd, keine flatternde Hand zwecks Erzeugung von dynamischen Steigerungen, keine karateartigen Stöße, um Energien zur Entladung zu bringen. Das alles ergab sich bei ihm wie selbstverständlich und logisch aus der Formung des Ganzen.

Karajan war ein seiner Wirkung voll bewusster und seinen Auftritt gekonnt berechnender Schauspieler, sobald er durch die – vom Inspizienten eilfertig geöffnete – Tür kam, das Podium und pultlose Podest des Dirigenten betrat. Es begann nun sozusagen ein personales Schauspiel im Drama – wohl wissend, dass, anders als im Aufnahmestudio, jetzt zusätzliche Vibrationen und Kommunikationen beginnen mussten, um die notwendig elementare Aura des Konzerts auszulösen. Der Gang vorbei an den ersten Geigen, die Pose des Auftritts, die andächtige Pause vor dem Einsetzen der ersten Klänge, das Dirigat mit geschlossenen Augen. Zwar war das alles auch im Repertoire von Furtwängler vorhanden und ausgiebig zu genießen; aber Karajan perfektionierte das Schauspiel weiter. Die beabsichtigte Faszination beim Publikum war nicht Selbstzweck, sondern wie immer bei großer Schauspielerei ein Instrument der Vermittlung von Verständnis und Einsicht in das präsentierte, deklamierte, verlebendigte Kunstwerk, sei es der Sprache, sei es der Musik.

Die Schönheit und Harmonie der Gesten, die Eleganz der Bewegungen, die Nutzung des Hölzchens als Zauberstab, die Ruhe in der Kraft, aus am Boden fest verankertem Körper herausgeholt, – das alles gehörte zum Charisma und machte seine Konzerte zum unvergesslichen und unwiederholbaren Ereignis, das vielen Menschen, nicht nur den snobistischen Habitués und blinden Verehrern, lange in Erinnerung blieb. Man konnte sich seiner Wirkung kaum entziehen, auch wenn man gegenüber der Ästhetik seiner Interpretationen skeptisch blieb.

Karajan gebärdete sich niemals tobsüchtig oder exaltiert auf dem Podium, behielt auch in turbulenten Situationen die Contenance. Wenn er sich geerdet hatte durch unverrückbare Positionierung seiner Füße, bewegte er sich nicht mehr von der Stelle; alle Energieströme kamen aus dem in sich ruhenden Körper und flossen über gelockerte Arme und Hände über den Stab in die sich aufbauenden Klanglandschaften hinein. Das besondere Problem eines Dirigenten, kein objektivierend vermittelndes Instrument in Händen zu haben, sondern nur seinen Körper, seine Gestik und seine personale Ausstrahlung, löste er durch vollendete physiologische Beherrschung dieser Elemente.

Entsprechend war es für viele – selbst die treuesten und freundschaftlich gesonnenen – Musiker schwierig, den physisch enorm aufgeladenen, athletischen frühen Karajan gegen Ende mit der alternden, geschwächten Persönlichkeit zu vergleichen und sich auf ein total verändertes Kraftfeld einstellen zu müssen. Jedoch verschaffte die Selbstdisziplin ihm weiterhin die nötige Autorität, und die jahrzehntelange gemeinsame Erfahrung verkürzte die Wege der wechselseitigen Verständigung.

Trotz deutlich zur Schau gestellten Selbstbewusstseins und der Profession geschuldeter nicht uneitler Selbstdarstellung war Karajan im Grunde genommen ein eher unprätentiöser Dirigent; er wusste, wie der Klang entsteht, nicht durch ihn, sondern erst durch die physische Präsenz und Aktionen des Kollektivs; er gab nicht vor, die Musik komme aus ihm; er sah sich als koordinierender, animierender, motivierender Feldherr auf dem Schauplatz der Emotionen.

Inmitten des Getümmels gewaltiger Klangorgien blieb er ruhig und entspannt. Es wäre ihm nie eingefallen, ein Decrescendo oder Pianissimo zu markieren, indem er in die Knie geht, oder durch das Stampfen mit dem Fuße ein Sforzato auszulösen. Wo andere mit dem Finger auf Soli spielende Musiker zielen oder sie quasi mit dem Taktstock aufspießen, blieb er ganz ruhig und sich seiner Sache sicher, weil die Arbeit am Klang und seiner Architektur bereits in den Proben verrichtet worden war. Nach den Konzerten verbeugte er sich nur in knappen Andeutungen, nahm die Huldigungen und Ovationen eines enthusiasmierten Publikums am liebsten in der ersten Reihe des Orchesters neben den Cellisten stehend entgegen. Die damit ausgestellte Bescheidenheit war keine Pose, sondern ehrlich gemeint und vom Orchester auch so empfunden.

Niemals erweckte er den Eindruck, als pflücke er die reifen Früchte, als sei er ein virtuoser Spieler auf dem Instrument namens Orchester. Er wusste – auch wenn er sich gelegentlich anders äußerte –, dass ihm nur die Aufgabe blieb, jene spirituelle Atmosphäre herzustellen, in der Klang zum Ereignis wird – auch durch eine vermittelnde Aura des Mannes in der Mitte – nicht mehr und nicht weniger.

DAS IDEAL DES SCHÖNEN KLANGS  UND FRAGEN DER INTERPRETATION

„Wenn man mir nachsagt, ich sei immer um schönen Klang bemüht, dann stimme ich dem zu und nehme es nicht als Vorwurf, sondern als Kompliment für etwas, was ich hart erarbeite. Wenn man mir nachsagt, dass ich Ecken glätte, dann antworte ich darauf, dass es nach meiner Überzeugung in der Musik nichts zu glätten gibt. Der mir zugeschriebene oder anscheinend kritisch nachgesagte Orchesterklang ergibt sich ganz von selbst: Ich verlange vom Orchester, dass alle Noten, die der Komponist geschrieben hat, voll ausgespielt und nicht vor dem Ende des konkret angegebenen Notenwertes schwächer werden. Allein daraus ergibt sich selbstverständlich ein etwas anderer Klangeindruck, zu dem ich stehe. Mag sein, dass dies altmodisch ist…“

Foto: Warner Classics Archive

Man schmähte ihn als Zampano des Klangs. Den unterschwelligen Vorwurf, er kultiviere einen „schönen Klang“ als Politur der Oberfläche, nahm Karajan als Kompliment; er konnte niemals einsehen, dass ihm aus seinem Streben nach Perfektion ein Vorwurf zu machen sei. Sein Ideal von Schönheit und Harmonie sollte vielmehr auf handwerklicher Treue und struktureller Klarheit der musikalischen Prozesse basieren. Die mit einer optionalen Reduzierung auf das Ästhetische auch verbundene Ambivalenz vermochte er nicht zu erkennen.

„Mein sogenannter ‚schöner Klang‘, von dem ich überzeugt bin, wendet sich gegen das, was ich einmal Dokumentenfälschung genannt habe… In Konzertproben geht es mir immer nur um die möglichst korrekte Wiedergabe der Noten. Auf Proben komme ich mit ganz wenigen Sätzen aus… Noch jedem Orchester habe ich gelegentlich bei Proben sagen müssen: Was Sie spielen, ist einfach nicht wahr.“

Er verstand sich als den dienenden Interpreten des wohlverstandenen kompositorischen Willens und in dieser Funktion als nachschaffenden Künstler, der einen eigenen Schöpfungsakt vollbringt. Er leitete insoweit einen Paradigmenwechsel ein, durch den der Dirigent zum Herrscher über den Musikbetrieb wird.

In zahllosen Proben mit ausgeprägtem Orchesterlegato und feinsten dynamischen Abstufungen Klanglandschaften zu erzeugen, machte die „Methode Karajan“ zur idealen Bedingung für die Aufzeichnung von Musik durch technische Medien.

Musikhistorisch betrachtet, markiert Karajan sowohl Wendepunkt als auch Bindeglied hinsichtlich der Maximen von Interpretation und der Praxis der Orchesterleitung. Einerseits ist er der Erbe und legitime Nachfolger einer mit Furtwängler erreichten Tradition – andererseits erobert und integriert er neue technologische Errungenschaften einer das neue Jahrhundert und wohl auch die weitere Zukunft prägenden Medienindustrie.

Weniger ausgeprägt waren seine intellektuellen, auf kritisches Bewusstsein oder skeptische Weltsicht hin orientierten Interessen oder Begabungen. Das hatte einen auffälligen Mangel an reflektierender Betrachtung künstlerischer Prozesse zur Folge. Er mied geradezu diskursive Erörterungen über Musik als gesellschaftliches oder gar politisches Phänomen, als geschichtlichen Beleg für geistige Vorgänge. Er reduzierte Musik auf das Ästhetische – auf „interesseloses Wohlgefallen“ im Kantischen Sinne. „… Die Hörer sollen … nicht sagen: ‚Ich möchte die Musik verstehen‘. Sie sollen sie genießen!“

Karajan hat nie komponiert – im Unterschied zum verehrten Vorgänger, dem das Komponieren lebenswichtig war. Er verkörpert in Reinkultur den Typus des ausschließlich reproduzierenden Künstlers, was gewiss auch Einfluss auf seine Herangehensweise, sein fast ausschließlich am klanglichen Ergebnis orientiertes Hören hatte.

„Selbstverständlich bin ich in allen Fragen der Interpretation Partei. Man kann mich einen eingefahrenen Musiker nennen, Selbstverständlich habe ich einen festen Standpunkt, den ich verteidige. Und maße mir trotzdem nicht an, über die Zukunft zu urteilen. Sie wird Veränderungen mit sich bringen und einen heute als Mode bestehenden Klang samt seinen Interpreten wiederum ablösen – und bevor es noch soweit ist, werden sich die Interpreten selbst verändert haben; denn das künstlerische Leben besteht aus dauernder Veränderung… Ich komme aus einer anderen Zeit, und was ich für mich und die Nachwelt bewahren will, das kommt auch aus einer anderen Zeit.

… Selbst eine völlig exakte Wiedergabe aller vom Komponisten überlieferten Anweisungen gibt wahrscheinlich nicht alle Ideen eines Komponisten wieder. Ein musikalisches Werk entsteht nicht, wenn es niedergeschrieben wird, und auch nicht, wenn das Niedergeschriebene möglichst exakt gespielt wird. Es entsteht erst, wenn ein Dirigent vor dem Orchester steht und dieses musikalische Werk nach seinen Kenntnissen und seinen Vorstellungen musizieren lässt. Dabei entsteht es immer wieder neu und anders; denn es ist durchaus ein Schöpfungsakt, den der Dirigent vollbringt– und auch er interpretiert immer wieder um Nuancen anders… sonst wären die Noten sinnlos. Das ist die wichtigste Aufgabe eines Dirigenten. Das ist Interpretation.“

EINE WIDERSPRÜCHLICHE PERSÖNLICHKEIT
Der Mensch hinter dem Star – ein Psychogramm

Paradoxien gehörten zu seinem Charakter und zu seiner psychischen Verfassung; lebenslang kämpfte er gegen emotional hemmende Anlagen, die im Widerstreit zu seiner unbedingten Zielstrebigkeit standen, in allem der Beste zu sein. Willensstärke kann aus Menschenscheu, Zähigkeit aus Verletzlichkeit wachsen. Ehrgeiz und Misstrauen nahmen im selben Maße zu wie Erfolg und Ruhm. Die mit sportlichen Aktivitäten und Meditation abgewehrte Angst vor körperlichem Verfall holte ihn auf tragische Weise ein. Seine physische Kondition war weit weniger kräftig als nach außen demonstriert.

Foto Deutsche Grammophon

Zu seiner emotionalen Ausstattung gehörte das Sehnen nach Frieden und Harmonie – als Kind seiner Zeit. Er empfand seine berufliche Behinderung im Umbruch des Kriegsendes schmerzlich als Ungerechtigkeit, war er sich doch keiner belastenden Verstrickung bewusst, fühlte er sich eher als Opfer der Umstände. Mit vermeintlichem Betrug und bösartigen Angriffen aus dem Hinterhalt konnte er nicht umgehen. Gegen Ende erschien er auf tragische Weise als Misanthrop, der sich mitunter wütend selbst im Wege stand und seine eigenen Kriterien humaner Verhaltensweisen verriet, statt Weisheit, Vertrauen, Weitherzigkeit, Offenheit und Einfühlung zu praktizieren. Er starb, ehe er im Bewusstsein eigener Versäumnisse neue Wege gehen konnte.

Grundstimmung seines Charakters war Emotionalität, bisweilen gesteigert bis hin zur Sentimentalität. Wenn er immer wieder von Harmonie und Schönheit als seinen Axiomen redete, so bleiben diese Ziele wenig reflektiert an der Oberfläche. Sein Streben nach dem Edlen und Erhabenen, nach Reinheit und unschuldiger Zeitlosigkeit wurzelte weniger in philosophisch begründeter Weltsicht als in praktischer Lebenskunst. Obwohl er als Verkörperung eines modernen Dirigenten einer neuen Zeit mit ihren technologischen Errungenschaften erschien, war er eher rückwärtsgewandt und affirmativ auf der Suche nach Halt und Sicherheit im Überkommenen.

Karajan wird als unpolitischer Künstler gekennzeichnet – aber das ist nur die halbe Wahrheit. Als im Grunde und von seiner Herkunft geprägter Konservativer fürchtete und lehnte er alles ab, was nach Veränderung drängte, die bestehende Ordnung in Frage stellte. Politische Entwicklungen konnte oder wollte er nicht kritisch analysieren. Der Tunnelblick des Karrieristen machte ihn blind gegenüber den faschistischen und völkischen Ideologien, die ihn umgaben. Er unterstütze diese nicht aktiv, aber er setzte ihnen auch keinen eigenen Widerstand entgegen. Insofern wurde er schuldlos schuldig, was er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch eine Zeit des Berufsverbots büßen musste und ihn fürderhin zeitlebens noch furchtsamer und verletzlicher machte. Denn er empfand das als große Ungerechtigkeit.

Die in unvermeidlichen Krisen zu beobachtenden Reaktionen eines zutiefst misstrauischen Mensch stehen nicht selten im krassen Widerspruch zu proklamierten musikalischen Ideal von Schönheit und Harmonie – diese zwei Axiome musikalischer Botschaften unablässig repetierend bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit. Das ist eine der mehrfachen Paradoxien im Persönlichkeitsbild Karajans und führt ihn auf gefährliche Gratwanderungen zwischen Isolation oder Rückzug und Angriff oder Widerstand. Solchermaßen an Situationen des Missverstehens wohlmeinende Beteiligte standen dann vor der Wahl, den prinzipiell unbestrittenen Genius gegen seine Verächter und zugleich gegen seine Verehrer zu verteidigen; indessen war ihm überhaupt nicht zu helfen, weil er sich für unangreifbar und ungerecht behandelt hielt, zu stolz, um wohlmeinenden Rat, Vermittlung und Verständigung zu akzeptieren, sich an lebensnahen Kompromisslösungen zu beteiligen.

Nach eigenem Eingeständnis hatte er als Kind das Gefühl der Isolation erfahren. Dass er in seinem Leben mit sich nicht immer im Reinen war, verraten seine Worte: „Bevor ich fünfzig war, habe ich so viel Zeit damit verbracht, mir nur vorzustellen, wie das wäre, ein ganz normaler Mensch zu sein.“

Vollkommen gegensätzlich waren Karajans Musizieren und Reden: das Eine fließend organisch, abgerundet, harmonisch und auf Schönheit bedacht – das Andere abrupt, sprunghaft, mitunter aggressiv und brüchig. Als Musiker konnte er sich total konzentrieren, sich und seinen Mitwirkenden innere Ruhe vermitteln – als Gesprächspartner musste man jederzeit auf irrationale Ausbrüche von Ärger und unmotivierte Ablehnung gefasst machen. Mitunter geriet er dabei von seinem sprichwörtlichen Knurren und Gurgeln ins Stottern – verblüffend für jeden, der zum ersten Male auf den Star traf.

Nur bei vollkommener Vertrautheit mit dem Partner und vor allem bei Musikern und Sängern in der konkreten Arbeitssituation, wenn es also um die Sache ging, in Proben das Äußerste an Perfektion zu erreichen, war er ausgeglichen, ruhig und ausgewogen. Beruf und private Existenz waren mithin scharf getrennt.

Immer wieder irritierte er wohlwollende Beobachter seiner personalen Entwicklung durch eine gefährlich explosive Mischung aus überzogenen Erwartungen, auftrumpfendem, hoffärtigem Trotz, unzugänglicher Verschlossenheit, Verfolgungswahn, notorischer Ängstlichkeit und unterschwelliger Menschenscheu sowie Fluchtbewegungen in private Schutzräume und Innerlichkeit. Andererseits konnte man erstaunt registrieren, wie er dennoch fähig war, schmerzlich empfundene Verletzungen durch pure Willenskraft in einen Neustart zu verwandeln – aber auch Unangenehmes, Bedrängendes durch dieselbe Willensstärke zu verdrängen oder perfekt zu ignorieren.

Was wie Arroganz eines Stars erschien, war in Wahrheit eher Kontaktschwäche und Menschenscheu.

Unter der Oberfläche schlummerte ein ungeduldiger, reizbarer, explosiver, unduldsamer und aufbrausender Charakter, der den alltäglichen Umgang für seine Umgebung, für Veranstalter und Intendanten, besonders für seine Entourage enorm erschwerte. In der Tat war er eine Persönlichkeit der Paradoxien, Widersprüche und schroffer Gegensätzlichkeit, jemand, der seine Mitmenschen ebenso zu verzaubern wie zu quälen imstande war. Hintergrund solcher Unberechenbarkeit außerhalb der musikalischen Orchesterarbeit war indessen eine bis zur Paranoia reichende Vorsicht, die pure Unsicherheit, der er den unbeugsamen Drang nach totaler Unabhängigkeit von jeglichen äußeren Umständen entgegensetzte, seien es Personen wie Politiker oder Organisatoren, seien es technisch-organisatorische Unzulänglichkeiten, seien es finanzielle Engpässe. Er verlangte immer alles und sofort und bedingungslos.

Wer mit Karajan paktieren wollte, wurde auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte lange Zeit, ehe er Zutrauen zum Gegenüber gewann, und das war unerlässliche Bedingung für jegliche Kooperation. Man durfte ihn niemals drängen oder überreden, sondern man musste Distanz halten, auf jegliche Tricks verzichten, die er sowieso sofort durchschaut hätte. Insofern war er ein ehrlicher, schlichter, unverstellter Charakter.

Wenn er spürte, dass man ihn verstehen wollte – auch in seinen oft komplizierten Reaktionsweisen –, dann ging alles ganz leicht und ganz einfach; dann war er zu Herzlichkeit und Empathie fähig, und er blieb unerschütterlich loyal, wenn das Vertrauen wechselseitig hergestellt war.

Einer seiner Getreuen berichtete: „Der Chef liebt keinen Schriftverkehr, liest Geschriebenes nur flüchtig, schätzt kurze, knappe Worte – und wenn es laut wird, geht er aus dem Zimmer. Leute, die er nicht mag, werden nicht vorgelassen, selbst wenn er nebenan sitzt und sie hört.“

Und noch ein Charakterzug: Karajan lebte immer in der Gegenwart – jedenfalls was die jeweiligen musikalischen Vorhaben betraf. Er hat sich immer ganz und gar der Sache verschrieben, die er gerade plante oder durchführte. Wenn er ein Projekt abgeschlossen hatte, war die Sache erledigt. Er war nicht der Mann, der irgendwelches Gepäck mitschleppte. Nur für vermeintliche Verletzungen oder Missachtungen, für vermuteten Betrug hatte er – wie in späten Zeiten der Verwerfungen krass deutlich wurde – ein Elefantengedächtnis.

Zum Psychogramm gehört auch, dass er Gespräche und Begegnungen vermied, die ihm Emotion abverlangten. Zur intellektuellen Diskussionskultur hatte er keinen Zugang, keine Neigung, keine Begabung. Er ist überempfindlich gegenüber kritischen Einwänden gegen seine Arbeit und Leistung. Angelegenheiten, für die er sich als Autorität betrachtet, stellt er nicht zur Debatte; hier gilt ihm nur seine eigene Meinung.

Für sein Umfeld war er im Ganzen und in allen Dingen der „Chef“– so nannten ihn alle, die um ihn herum agierten, von ihm abhingen, sich von ihm beachtet oder gefördert hielten, ihn bewunderten oder verehrten. Allerdings zeigt er großen Respekt für Experten und deren fachspezifische Kompetenz; hier geht die fachliche Verständigung ganz selbstverständlich vor sich, gleichgültig ob Bühnenarbeiter, Orchesterwart oder als gleichrangig betrachtete Künstler wie der Bühnenbildner Schneider-Siemssen oder der Filmregisseur Henri-Georges Clouzot.

Als ein missionarisches Genie der Konkordanz von Körper und Geist in der Musik, von Leib und Seele im Leben, von physischer Energie und metaphysischer Empfindung in der Haltung wollte er wie ein Vorbild, nahezu priesterlich geachtet sein. Musik wollte er aus der Ganzheit menschlichen Lebens verstehen und wiedergeben, gleichzeitig ein traditionell geschulter, ein sorgfältiger und auf Perfektion versessener Meister seines dirigentischen Handwerks erscheinen – nicht nur für seine Gegenwart, darüber hinaus auch für die Nachwelt. Ein anhaltender Ruhm nach seinem Leben war ihm wesentlich als Aufgabe und Verpflichtung – eine doch etwas sehr naive Vorstellung von den Möglichkeiten, solcherlei selbst bewirken, veranlassen, erreichen oder programmieren zu können.

Karajan hasste Menschenansammlungen und urbanes Gedränge, selbst Aufzüge benutze er nicht, aus Angst, dort zu nah neben fremden Menschen stehen zu müssen – ein menschenscheuer, verschlossener, schwer zu ergründender, am Ende einsamer Mensch mit einer fast pathologischen Angst vor geistigem und körperlichen Verfall im Alter.

Also programmierte er sich und konditionierte er sich schon früh durch mentale wie körperliche Aktivitäten. Musizieren und das Auswendiglernen sowie das erlernen fremder Sprachen gehörten dazu, aber eben auch sportliche Höchstleistungen und die Beherrschung von Maschinen und Motoren. Der Hang zur Perfektion, die monomanische Besessenheit von Arbeit sind Mittel eines Einzelgängers, jeglicher Abhängigkeit von anderen Menschen zu entfliehen. Lauerten dahinter Versagensängste? Sein höchstes Ziel vollkommenen Glücks war die uneingeschränkte Selbstbestimmung über sein Leben, Werk, Ansehen und Schicksal. Ein soziales Wesen wollte und konnte er nicht sein. Auf die Hilflosigkeit eines Kranken, die er schließlich erleben musste, war er nicht vorbereitet. Er wollte immer stark und der Beste sein.

IN DER WELT ZU HAUSE – FREMD IN DER STADT

Karajan hat Berlin nie wirklich gesehen und verstanden; er bewegte sich nur zwischen Konzertsaal, Aufnahmestudio und Hotel, bezog nie hier eine eigene Wohnung, frequentierte kaum andere Kunststätten. Im Gegenteil – er floh förmlich zurück in seine vertrauten heimatlichen Gefilde, wo er sich geborgen fühlte – und hat doch unübersehbare Spuren im kulturellen und stadträumlichen Profil der Metropole hinterlassen.

Die Philharmonie von Hans Scharoun in ihrer damals umstrittenen genialen, revolutionären Architektur am seinerzeit bezweifelten Standort wäre ohne Karajans Einspruch und Einfluss nicht entstanden. Zusammen mit Hans Heinz Stuckenschmidt setzte er sich als Mitglied der Jury des 1956 ausgeschriebenen Wettbewerbs für die kühne Idee Scharouns ein. Sowohl die innere Organisation des Gebäudes als auch der Standort am südöstlichen Tiergartenrand wurden auf sein Drängen realisiert – ein weitsichtiges und bleibendes Erbe. Was damals am Rande West-Berlins lag, markiert heute die Mitte. Zu Recht heißt also die Adresse der Philharmonie: Herbert-von-Karajan-Straße 1. Auch der später von Edgar Wisniewski realisierte Kammermusiksaal wäre ohne Karajans Verlangen wohl nicht gebaut worden. Es war nur konsequent, dass er ihn im Jahre 1987 dann auch mit einem Konzert unter Mitwirkung von Anne-Sophie Mutter einweihte.

Herbert von Karajan wurde Berliner Ehrenbürger, wollte aber nie Bürger der Stadt sein. Er meinte, er gehöre der Welt, von der er annahm, dass sie ihm – jedenfalls im Sinne der Musik – gehöre: „Ein Fest ist immer dort, wo ich auftrete.“

Globale Tourneen – besonders gerne nach Japan und in die USA – mit seinem Berliner Philharmonischen Orchester zog er den heimischen Abonnementskonzerten vor; sie mehrten den Ruhm und den Absatz auf dem Schallplattenmarkt. (Nur nach Israel konnte er nicht reisen; er war dort als früh eingetretener NS-Parteigenosse belastet und unerwünscht.)

Nach Konzerten in der Berliner Philharmonie hatte er es immer sehr eilig, um so rasch wie möglich zu seinem Flugzeug mit Heimatkurs zu gelangen. Es schien, als fliehe er vor der Stadt, die ihm doch künstlerische Basis war und ihm alles ermöglichte. Seine Doppelkonzerte waren stets so angesetzt, dass nach dem Abendkonzert am Samstag das Sonntagskonzert um 11 Uhr begann, damit er anschließend eilig zum Flughafen Tempelhof gefahren wurde, wo er abflog – zu seinem Kummer über viele Jahre alliierter Lufthoheit nicht selbst als Pilot im eigenen Düsenjet am Steuerknüppel.

Nur kurzfristiger Aufenthalt in der Stadt, rascher Abgang nach Konzerten und sofortiges Verlassen der Philharmonie waren jedoch keine Marotten eines Stars, sondern Schutzfaktoren gegen gefürchtete Irritationen oder Belästigungen.

Es klingt noch nach für jeden, der des erlebt hat, und es bleibt unvergessen, wenn er hoch konzentriert das Podium betrat.

Aber nach Konzerten verschwand er, von seinen getreuen Paladinen eskortiert, auf dem schnellsten Wege über die Hintertreppe; denn Aufzüge mied er aus Furcht vor dem Steckenbleiben und der unerwünschten Begegnung mit fremden Menschen. Doch alles, was nach übertriebenen Starallüren aussah, war in Wirklichkeit eine Strategie der Selbsterhaltung einer scheuen Persönlichkeit. Sicher und aufgehoben fühlte er sich nur, wenn er studierte, übte, probierte, dirigierte oder sich mit seinen Medien Schallplatte und Film künstlerisch, organisatorisch und technisch beschäftigte.

Schon zu seiner Zeit als Gastdirigent in Berlin in der Zeit nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges fühlte sich Karajan, der nur auf seine Musikerkarriere bedacht war und alles um ihn herum geflissentlich ignorierte, fremd in der Hauptstadt. Das blieb so bis zum Ende seiner Tage. Er verbrachte nur so viel Zeit wie eben für die Arbeit nötig in der Stadt, die er nicht verstand, nicht verstehen konnte, mit deren Schicksal und historischen Wurzeln er sich nicht befassen mochte, in deren geistige Atmosphäre er nicht eintauchen wollte. Was hinderte ihn? Wie ist eine solche Blockade zu erklären? Gewiss, er liebt die Einsamkeit in den Bergen oder am Meeresrand, fühlte sich immer unwohl im Gedränge – trotz des Glücksgefühls, für Massen spielen und arbeiten zu dürfen. Ansonsten hatte er doch Neugierde und Interesse an allem, was neu ist – und Berlin ist doch der Prototyp einer sich ständig erneuernden urbanen Gesellschaft gewesen und geblieben.

Wie ist es möglich, wie kann ein Künstler überhaupt in Berlin arbeiten, diese historisch belastete Stadt zum Zentrum der musikalischen Arbeit machen, eine Stadt des 20. Jahrhunderts, wo sich die historischen Brüche am schärfsten abgebildet haben, wo sich hautnah erleben lässt, was politische Fehlentscheidungen, Irrtümer und Verbrechen anrichten können?

Ganz anders als sein Nachfolger Claudio Abbado hat sich Karajan nie auf die Stadt, ihre Geschichte und ihre gesellschaftlichen Veränderungen eingelassen. Er hat auch nur sein Hotel, erst das altmodisch-gemütliche Savoy, dann (wegen des Swimming-Pools) das neumodisch-plüschige Kempinski am Kurfürstendamm, und seine per Auto zurückgelegten Wege gesehen – zur Philharmonie, zur Jesus-Christus-Kirche in Dahlem, zu den Filmstudios in Haselhorst und einmal, am 26. September 1973, in die Deutschlandhalle und am 2. April 1979 ins ICC für das Einweihungskonzert, wo er sich mit dem Auto auf die Bühne fahren ließ.

Er, der nie in der Stadt angekommen war, sich immer in der splendid isolation der Philharmonie und der Studios und seines Hotels aufgehalten hatte, sich nach Konzerten hinter einem Paravent vor lästigen Blicken geschützt in einer immer für ihn freigehaltenen Ecke seines Stammrestaurants am Kurfürstendamm verkroch – er verließ am Ende die fremde Stadt ohne Gruß, im Groll, mit sich und allem hadernd, unglücklich und verärgert. Das hätte anders kommen müssen.

KRISE UND ABSCHIED

Nur drei Monate liegen zwischen Rücktritt und Tod. Auf tragische Weise zerbrach, was unter glücklicheren Umständen ein triumphales Finale erreicht hätte. Vorausgegangen war eine bittere Zeit der Agonie, wechselseitigen Überdrusses, gespeist aus Verletzungen und Intrigen, vor allem aus Unverständnis, mangelnder Einfühlung in die psychische Verfassung eines von anhaltenden Schmerzen geplagten Dirigenten, der besonders auf die Erhaltung seiner physischen Kondition bedacht war. Und Karajan selbst kapselte sich ab, verlor die Souveränität, wurde zum unnahbaren, einsamen Misanthropen. Künstlerisch auf Sinnsuche gewannen seine Interpretationen gleichwohl an Verinnerlichung; die Probenarbeit wurde strenger, die Gestik auf ein Minimum zurückgenommen; sein Charisma blieb. Die wachsende Entfremdung ließ ihn die Nähe der Wiener Philharmoniker suchen, evident im melancholisch umschatteten Neujahrskonzert 1987. Vielleicht war der Abschied unausweichlich; denn ein Herrschaftssystem auf Lebenszeit ist dem Zerfall ebenso preisgegeben wie körperlicher Verfall durch Krankheit. Eine glanzvolle Epoche ging zu Ende; seine Zeit lief ab. Rechtzeitiges würdevolles Abschiednehmen war ihm nicht vergönnt.

Wer jetzt genauer hinsah, konnte hinter dem glamourösen, auratischen Stardirigenten auf dem Podium auch den Menschen dahinter entdecken: sein Eroberungswille, seine Energie und Durchsetzungskraft, auch Eitelkeit und Stolz. Gestik, Bewegung, Schreiten in festgelegter Choreographie, Zeiteinteilung für Auftritte und Abgänge wie ein Schauspieler. Sein Rückenleiden und die niemals offen eingestandenen starken Schmerzen bei jeder Bewegung zwangen ihn schließlich dazu, all die wohl kalkulierten Aktionen aufzugeben. Nur mühsam errichte er das Dirigentenpult, gestützt und angstvoll beobachtet und diskret unterstützt vom Konzertmeister, sich auf Pulte der Musiker stützend. Aber Eitelkeit ließ ihn alle wohlgemeinten Ratschläge, sitzend zu dirigieren, ablehnen; erst sehr spät gestattete er die Anbringung eines „Lügensitzes“, ähnlich dem hochgeklappten Gestühl wie ihn Mönche für ihre stundenlangen Responsorien benutzten. Es war ein banaler Fahrradsattel, der von einem geschickten Orchesterwart so montiert war, dass er hinter einer breiten Rückwand nicht zu sehen war. Also schien er doch zu stehen.

Nach seiner lebensbedrohenden Rückgratoperation war nichts mehr wie vordem. Das Bewusstwerden seiner Endlichkeit trieb Karajan seit 1976 voran – zu intensiverer, strengerer Arbeit mit dem Orchester – nicht immer zur Freude der Musiker schlug er schärfere Töne in den Proben an, lud er einzelne Solisten vor, um Fehler zu besprechen oder Verbesserungen anzumahnen.

In den Proben war die Atmosphäre inzwischen immer schwieriger geworden. Karajan beschrieb sie einmal so:

„… Seit Januar hatte ich das Orchester nicht mehr gesehen. Als ich auf der Probe erschien, haben sie geredet, und sie haben immer noch geredet, nachdem schon klar war, dass wir jetzt mit der Probe anfangen können. Schließlich ist Borwitzky aufgestanden und hat um Ruhe gebeten. Ich sagte ‚Guten Morgen, meine Herren‘, es gab vielleicht 15 oder 20, die den Gruß erwiderten. In diesem Moment habe ich gewusst, dass es aus ist.“

Eine bittere Erfahrung, erkennen zu müssen, dass ein geschwächter Chef an Autorität verliert, Respekt einbüßt. Das muss tiefe Verletzungen verursachen – besonders im Falle einer derart symbiotischen Beziehung über so lange Zeit gemeinsamer künstlerischer Erfolge und gemeinsamen Wirtschaftens. Wenn nicht schon viel früher, musste spätestens damals der Entschluss in ihm gereift sein, seine als lebenslang gedachte und gewollte Verbindung aufzulösen.

„Sehr geehrte Herren! Die Orchester-Tourneen, die Salzburger und Luzerner Festspiele, die Aufzeichnungen von Oper und Konzerten für Television und Film und der ganze Komplex audiovisueller Produktionen sind als Folge der gegebenen Situation mit dem heutigen Tage sistiert“ – so hatte Karajan am 3. Dezember 1982 in einem Schreiben an das Orchester gewütet, nachdem seine Wunschkandidatin Sabine Meyer als Soloklarinettistin abgelehnt worden war. Er wollte nur noch Dienst nach Vorschrift, das waren die sechs Berliner Konzerte ableisten. Wer auch immer ihm diese Taktik empfohlen und diesen Brief formuliert haben mochte – das Ultimatum vergiftete durch erpresserische Attitüde die Atmosphäre gründlich und irreparabel. Karajan war schlecht beraten – seine Entourage versagte auf der ganzen Linie und steuerte ihren Chef ins Abseits. Jan Diesselhorst meinte (im Tagesspiegel vom 26. August 2007) dazu, es sei bedauerlich gewesen, dass der Streit (eigentlich um Macht und Herrschaft) auf dem Rücken von Sabine Meyer ausgetragen wurde, und vielleicht wäre es mit geschickterer Vermittlung nicht zu dem Eklat gekommen. Wo war der Mediator?

Karajan erklärt seinen Berliner Philharmonikern den Krieg und liebäugelte mit den Wiener Philharmonikern, deren Mentalität er besser verstand als die in seinen Augen undankbaren Berliner, die nach seiner Meinung gegen ihn intrigierten und ihn leid zu sein schienen. Hinzu kam, dass er den Berliner Politikern nicht traute und vermutete, sie wollten ihn insgeheim loswerden, um Platz für einen Jüngeren zu schaffen – ein unseliges Gebräu von Verdächtigungen, wahren und falschen Analysen der Geschehnisse.

Die Salzburger Pfingstkonzerte, Domäne der Berliner, sollten zu ihrer Genugtuung die ewigen Konkurrenten, die Wiener Philharmoniker, bestreiten – entgegen aller geltenden Vereinbarungen. „Die Wiener – die lieben mich.“

Die Berliner Philharmoniker, von einigen Scharfmachern angetrieben, ersuchten ihren Chef schriftlich: „seine Haltung zur Position des Künstlerischen Leiters zu überdenken“ – was einer Aufforderung zum Rücktritt vom lebenslangen Dienstvertrag gleichkam. Karajan wiederum wehrte sich und schrieb dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen einen persönlichen Brief mit der Bitte, seine Recht und Pflichten zu präzisieren und festzustellen, „inwieweit die Wahrnehmung dieser Recht und Pflichten mit dem Verhalten des Orchesters in den letzten zwei Jahren noch zu vereinbaren ist.“

Im Gegenzug votierte das Orchester in einer Versammlung für die Kündigung der Platten- und Filmverträge mit sofortiger Wirkung – ein besonders schwerer Schlag angesichts der zahlreichen noch unerledigten Projekte.

Schließlich schrieb Karajan dem Orchester im Juli 1984: „Sehr geehrte Herren, ich freue mich auf die gemeinsamen Konzerte in Salzburg und heiße das Orchester herzlich willkommen.“ Nun lehnte das Orchester ab – erneut ein Vertragsbruch, jetzt von der anderen Seite –, und wieder sprangen die Wiener ein; die Auftritte in Luzern wurden gestrichen.

Das unwürdige Schauspiel, von feindseligen Beobachtern mit hämischen Kommentaren begleitet, ging weiter: Karajan war zur Kapitulation nicht bereit („und wenn sie mich anspucken, ich bleibe“), begab sich auf juristisches Terrain und forderte – in später Einsicht, dass er dreißig Jahre zuvor aus seiner Sicht mit versteckten, für den juristischen Laien nicht erkennbaren Formulierungen im Vertrag hintergangen worden war:

1. die Wiederherstellung der Rechte des Ständigen Dirigenten bei der Ernennung des Intendanten („im Einvernehmen“ statt „im Benehmen“), 2. eine Neufassung der vertraglichen Bestimmungen für die Einstellung von Musikern nach dem Probejahr – und einiges mehr, was den Vertrag nicht berührte.

Der Sommer kam, das Orchester ging in die Ferien, nur einige wenige, die glücklicherweise nicht zum harten Kern der Opponenten gehörten, blieben am Ort; und mit ihnen konnte dann ein Friedensplan in letzter Minute abgestimmt werden.

Ronald Wilford, kluger Impresario und Kenner der Karajanschen Mentalität, analysierte die bitter verfahrene und anscheinend unaufklärbare Situation später so: „Der Bruch hatte kommerzielle Gründe. Karajan konnte nicht mehr 25 Langspielplatten pro Jahr aufnehmen. Der Vater konnte die Familie nicht länger so ernähren, wie sie das erwartete. Es war das größte Schallplattenengagement, das es je gegeben hatte. Karajans Vertrag sah gerade mal sechs Konzertprogramme pro Jahr in Berlin vor. Und doch hat er fast ein Vierteljahrhundert das Orchester in Berlin und Salzburg dirigiert, hat Tourneen in Europa, nach Japan und den USA unternommen und – damit verbunden – jedes Jahr 18 Wochen lang Aufnahmen gemacht… Ein großes Orchester entsteht durch Proben, Spielen, Proben, Spielen… Als er körperlich dazu nicht mehr in der Lage war, haben sie sich gegen ihn gewandt.“

Das vorläufige – und, wie sich am Ende zeigte, doch nur notdürftig versöhnende – Ende des Giganten-Dramas: Die h-Moll-Messe von Bach konnte in zwei Festwochenkonzerten am 29. und 30. September 1984 schließlich aufgeführt werden, und ein Friedensabkommen auf der Basis des beschworenen „Zusammengehörigkeitsgefühls“  wurde von beiden streitenden Seiten mit vielen versteckten Dissensen und Vorbehalten akzeptiert.

„Wollen Sie mich wirklich zurückhaben?“ – so zweifelte der Chef. Zu den Proben kam er schmollend mit kaltem Blick und versteinertem Gesicht: „Guten Morgen, fangen wir an …“

Manche Renegaten fanden Karajans Brief mit dem Friedensangebot verräterisch sentimental; denn er verbräme die Tatsache, dass der Chef eher aus ökonomischen als aus humanistischen oder künstlerischen Beweggründen irgendwie doch nachgegeben hatte und die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Wer solches vermutete oder gar öffentlich sagte, verkannte, dass bei Karajans Entscheidungen stets eine sich mischende naive Ambivalenz von Kalkül und Emotion im Spiele war. Er wünschte sich Harmonie und Frieden, und er wollte doch auch sein Vermächtnis im Wissen um seinen schlechten Gesundheitszustand in überschaubarer Zeit mit Hilfe seines Orchesters zu einer glücklichen Vervollständigung führen. Er konnte aber nur noch die wenigen im Vertrag festgeschriebenen Konzerte in Berlin absolvieren. Er war 75 Jahre alt, leidend, schwermütig und misanthropisch geworden, hatte sich in 53 Berufsjahren mit einem enormen musikalischen Pensum über alle Maßen intensiv beschäftigt – und reduzierte jetzt resignierend sein Engagement, erweiterte sein Repertoire nicht mehr.

Doch der Löwe zeigte noch einmal seine Pranke. Trotz vom Gift des Misstrauens nicht völlig befreiter Atmosphäre gelang fast am Ende dieser osmotischen Verbindung von Orchester und Dirigent, nach mühsam gekittetem Bruch, noch einmal ein genialischer Wurf, so als sei die alte Kraft wiederhergestellt: Ein Heldenleben von Richard Strauss, im Februar 1985 aufgenommen und auch auf Video gebannt. Ohne aufschließende Interpretation kann das Werk keine Würde gewinnen – hier wurde die Reproduktion zum Ereignis und eine wahre Huldigung an den Komponisten, dem der Dirigent in jungen Jahren persönlich begegnete, dessen Dirigierstil ihm zum Vorbild wurde, dessen Schaffen ihm nahe stand, den er zeitlebens verehrte.

Der späte Karajan verblüffte sein immer wieder aufs neue faszinierte Publikum in immer ausverkauften Häusern durch die Sparsamkeit seiner Gestik und seine Körperbewegungen auf dem Podium. Er schien wie zu einem Denkmal seiner selbst geworden zu sein, nur durch seine schiere Gegenwart zu wirken. Alleine dass er da war und seine Arme hob, nur geringfügige Signale mit dem an der Spitze abgebrochenen Stäbchen an eine sich mächtig ins Zeug legende Truppe in Hochspannung musizierender Einzelkämpfer aussandte, hatte überwältigende Klangfülle bis hin zu explosiven Eruptionen zur Folge – ein Mirakel für viele. Es handelte sich um fachliche Abbreviaturen, mitunter jetzt sogar Blickkontakte, die die mit ihm seit langem vertrauten Musiker unmittelbar ohne Probleme, ohne Zögern verstanden. In der Tat war ein interpretatorisches Nachlassen keineswegs zu vermelden, nur eine noch weiter gesteigerte Gelassenheit und Sparsamkeit in Emotion und Aktion.

„Dirigieren – das ist vollkommenes Glück“ – sein Credo – da wird ein Aufhören vor dem Tode undenkbar – also weiter und weiter: die letzten Konzerte: Bei den Berliner Festwochen 1988 Verdis Requiem und am Silvestertag das letzte Berliner Konzert – wieder eine Überraschung anderer Art: Denn er präsentierte den sensationell Klavier spielenden Knaben Jewgenij Kissin, um dessen Aufstieg zu fördern und zu begleiten. Als Karajan mühsam unter Schmerzen zum Auftritt schlurfte, sagte er zum Orchesterwart: „Jetzt könnt ihr sehen, wie man auf dem Podium stirbt.“

Karajans Schwanengesang auf dem Konzertpodium vor Publikum war – möglicherweise unbewusst – durchaus zutreffend gewählt: In seinem 82. Lebensjahr, wenige Wochen nach seinem Geburtstag, leitete er am 23. April 1989 eine äußerst beredte Aufführung von Bruckners 7. Symphonie mit den Wiener Philharmonikern in einer seiner beliebten Sonntagsmatineen, eine ziemlich radikale Deutung ohne die ihm sonst so oft nachgesagte Glätte – nachzuhören und für die Nachwelt festgehalten auf CD. Ganz offensichtlich strebte Karajan jetzt nach der Wahrheit in der Einfachheit, nach unvermittelter Kreatürlichkeit.

Karajan – der Schmerzensmann der letzten Jahre, der sich vom Motivator zum notorischen Misanthropen verändert hatte. Vor lauter Verehrung und unterwürfigem Respekt konnte manch einer, der mit ihm beruflich zu tun hatte, nicht erkennen, wie stark dieser von Krankheiten gebeutelte Mensch, der zeitlebens nichts von körperlicher Schwäche oder Behinderung seiner sportlichen Aktivitäten wissen wollte, an sich selbst litt und verzweifelte. Aber er ließ auch nicht zu, dass man ihn bedauerte oder Mitgefühl zeigte. Er wollte das einfach verdrängen – mit der Folge von Abkapselung und Unverträglichkeit.

Der Körper des Dirigenten spielt bei der Bestimmung des richtigen Tempos, auch des Rhythmus eine wichtige Rolle. Karajan stellt ein Musizieren auf eine ganz ungewöhnliche Grundlage: Körpervorgänge und Körpergefühle werden zu einer Richtschnur der Interpretation. So ist die intensive Beschäftigung mit Leistungssport (Segeln, Bergsteigen, Rennfahren) und Yoga in seine berufliche Kondition einzuordnen. Das Lauschen auf den eigenen Puls ist für Darstellung der Musik am Ende wichtiger als die Analyse der Form.

Der körperliche Verfall, der in den 70er Jahren mit immer stärkeren Rückenschmerzen einsetzte, war für Karajan mehr als ein rein gesundheitliches Problem. Die Schmerzen sollten ihn bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen; aber keiner sollte es ihm anmerken. Der Zwang zum Verzicht, das Bewusstsein, dem Alter seinen Tribut zollen zu müssen, hat ihn in seinen letzten Jahren zu einem zunehmend verbitterten Charakter gemacht. Wer erkannte seine stumme Hilflosigkeit, seine Einsamkeit, sein verborgenes Suchen nach Verständnis und Zuwendung? Was am Ende zwischen ihm und den Berliner Philharmonikern zerbrach, war deprimierend für alle. Bitter äußerte er: „Die warten auf meinen Tod.“

Was hätte anders kommen können, wenn er sich mehr geöffnet hätte, mehr auf solche gehört, mehr mit solchen kommuniziert hätte, die ihm gleichrangig oder intellektuell überlegen waren. Aber er schien vor dem Gedankenaustausch mit solchen Persönlichkeiten zurückzuschrecken, denen er sich nicht gewachsen zu sein wähnte. Vielmehr umgab er sich – nicht zu seinem wahren Nutzen – mit dienstbaren Geistern, die ihm nie zu widersprechen wagten, ihre eigenen Interessen verfolgten, ihm nichts geben konnten außer ihrer Loyalität und ihrem Schutz. Wohlmeinende kritische Köpfe hatten keine Chance, diesen Kordon zu durchbrechen und zu dem Unberatenen vorzudringen. Begegnungen, die ihm Emotionen oder Reflexionen und geistige Auseinandersetzungen abverlangt hätten, mied er – instinktiv oder absichtsvoll.

Vielleicht geblendet vom immensen geschäftlichen Erfolg, verführt von Akklamation und Verehrung, hat er übersehen, dass der Übergang in einen anderen Status, dass der Verzicht auf Macht und Dominanz unter gewissen Umständen Ausdruck höherer Weisheit sein kann. Einst äußerte er, seine Zeit werde kommen; gegen Ende hat er nicht gefühlt, wann es Zeit wurde zu gehen. Alles wäre gewesen wie bisher – die disponierten Aufnahmen für Schallplatte, CD, Film und Video und die stark reduzierten philharmonischen Konzerte, und es wären ihm als Gast die höchsten Ehren zuteil geworden. In diesem Versäumnis liegt Tragik der späten Jahre.

Menschen mit einer derartigen mentalen Konstitution, wie sie Karajan aufwies, werden im Alter und mit der Krankheit nicht selten schwierig und verschlossen; ihre Verhaltensweisen können widersprüchlich und unberechenbar werden. Es war ganz offensichtlich keiner da, der den Zugang fand, vermitteln und erklären konnte. Zugleich lehnte er aber auch jeglichen Versuch solcher Art aus Angst ab; denn er wollte seinen Zustand nicht wahrhaben.

Das Ende seiner Beziehung zu den Berliner Philharmonikern trägt Züge einer antiken Tragödie – in öffentlichen wie persönlichen unheilvollen Verstrickungen, aus denen es am Schluss keinen Ausweg mehr zu geben schien. Eine große Zeit ging zu Ende, und keiner konnte den Zug in den Untergang aufhalten. Allenthalben Versagen, kein Retter – nirgends – auf allen Seiten Versäumnisse und Fehler, durchsetzt mit Bösartigkeit, Intrigen, Neid und Missgunst.

Teil der Berliner Tragödie aus allseitiger Sprach- und Verständnislosigkeit war gewiss ganz einfach der Zeitablauf, die sich selbst überlebende Zeit, ein Phänomen der Auflösung von Wahrnehmung. Karajan war schon so sehr unlöslicher Bestandteil des urbanen Inventars, des überregionalen Musikbusiness, der touristischen Vermarktung der Stadt und des politischen Renommees einer Inselrepublik Berlin (West), nicht mehr Hauptstadt, sondern nur noch Kulturmetropole, geworden, dass man nicht mehr so genau hinsah und alles für naturgegeben und selbstverständlich nahm. Und das Orchester und sein Rechtsträger waren geblendet von den gesellschaftlichen und kommerziellen Erfolgen, so dass von einem ans Ende seiner Kräfte geratenen Musikmonarchen keine weitere Steigerung mehr erwartet wurde.

Man war einander überdrüssig geworden und doch aneinander gekettet durch starke geschäftliche Interessen. Auf beiden Seiten der Kontrahenten fehlte die Wahrhaftigkeit, der klare Blick in das Notwendige. Ein Regime war brüchig geworden; trotzdem waren noch immer musikalische Sternstunden, sowohl im Konzert wie in Aufnahmen möglich, wenn im Prozess musikalischer Realisierung gemeinsamer Ideale die außermusikalischen widrigen Umstände vergessen waren. Aber doch auch mehr Routine als vormals stellte sich gelegentlich ein; und manchmal blieben nur der Ruhm, das Glamouröse seiner Erscheinung, das Charismatische seiner Wirksamkeit, um die alten Triumphe zu wiederholen. Ausverkauft waren die Häuser allemal und überall; die Fassade blieb glänzend ohne Schatten und mit goldenem Schimmer.

Die Aufkündigung seines – nach seiner eigenen Einschätzung – lebenslänglich geltenden Vertrages mit dem (West-)Berliner Senat hatte er begründet mit körperlicher Krankheit und mit der Unfähigkeit des Senats, seine Rechte und Pflichten so zu definieren, dass ursprüngliche, aus seiner Sicht betrügerische Unklarheiten beseitigt werden. Es gibt Vermutungen, der Rücktritt sei nicht ernst gemeint gewesen und dazu bestimmt, seine Position zu verbessern. Dafür spricht wenig; mehr Gewicht haben Argumente psychologischer Art, nach einigen krisengeschüttelten Jahren die Einsicht in die irreparable Zerrüttung einer inzwischen unüberschaubar langen existentiellen Beziehung, die Arbeit und Leben auf beiden Seiten gleichermaßen umfasste.

Das Rücktrittsschreiben war logische Konsequenz. Er wollte sich von einer Last befreien, um sich seiner neuen Liebe, der Arbeit mit den Wiener Philharmonikern, ohne das Konfliktpotential konkurrierender Interessen zuwenden zu können. Und er hatte – wohl zu Recht – den Eindruck gewonnen, dass eine veränderte politische Konstellation in Berlin seine eigene Kündigung wohlwollend entgegenzunehmen bereit war und ihn nicht davon abbringen wollte.

Die Flucht aus dem unverstanden, ungeliebten Berlin war offensiv gemeint, nicht resignierend defensiv; vielleicht wollte er sich gar zu neuen Taten rüsten – aber nun nicht mehr mit den Berlinern, sondern mit den Wienern, von denen er sich jetzt besser verstanden fühlte, wo er der Mentalität seiner Heimat näher war.

Indessen unauslöschlich bleiben die Ergebnisse dieser Symbiose von künstlerischen Energien, des Wollens und Könnens – de facto ein unkündbarer Bund fürs Leben, der sich über das physische Ende hinaus in einem reichen dokumentierten Erbe manifestiert. 40 Jahre tausendfachen gemeinsamen Konzertierens und weit über 100 Millionen verkaufter Tonträger sind weder durch emotional aufgeladene Querelen noch durch juristische Konflikte aufhebbar.

WAS BLEIBT

Herbert von Karajans Methodik der Orchestererziehung und Probenarbeit, die handwerkliche Professionalisierung, der Medienverbund von Konzert und Schallplatte, effiziente Vermittlung und Vermarktung sowie die Verbreitung von klassischer Musik durch technische visuelle Medien haben weiterhin geltende Standards gesetzt.

Das Handwerk des Kapellmeisters ist durch sein Vorbild und Muster eindeutig in seinen Funktionen verfeinert und gefestigt. Er verkörperte exemplarisch den Wandel des Dirigenten vom dienenden Kapellmeister zur dominanten und populären Figur im Musikbetrieb.

Er trieb die Kanonisierung des Repertoires voran und förderte so den Warencharakter von Musik– insoweit Exponent des Zeitgeistes.

Die „Methode Karajan“ wurde für alle modernen Symphonieorchester weltweit zum Standard: die Effizienz und Ökonomie der Probenarbeit, die Erziehung zum kommunizierenden Musizieren, aufeinander hörend, das gestische Vokabular, der körperbetonte Dirigierstil, der in der Handfläche liegende Taktstock mit der Korkbirne, eine effektive Öffentlichkeitsarbeit, die Zentrierung aller Aufmerksamkeit auf den Dirigenten, die intensive Verbindung mit den Medien und dem Fernsehen, die Kombination von Konzert und Aufzeichnung für Schallplatte und CD, ein modernes Marketing und Sponsoring, die Teilhabe an Festivals zur Erweiterung der Resonanz im herausgehobenen Ambiente und die Vermehrung der Auftrittsmöglichkeiten auf ausgedehnten Konzertreisen, die auch der Erschließung neuer Märkte für Aufnahmen dienen.

Im 20. Jahrhundert vollzog sich ein in der Musikgeschichte bemerkenswerter – von Karajan voran getriebener – Paradigmenwechsel, auch die Konsequenz aus der fortschreitenden Differenzierung musikalischer Komposition und des außerordentlichen Anwachsens ausführender Ensembles. Der Medienverbund Konzert – Tonträger – Video trat seinen merkantilen Siegeszug an.

Als Interpret wird der Kapellmeisters zum Vollzieher des Willens eines anderen, des Komponisten. Er emanzipiert sich als zentrale Figur des Musiklebens, der große Ereignisse organisiert und dem Publikum als den Ruhm sammelnder Heros mit charismatischer Ausstrahlung gegenübertritt. Er entscheidet über die Karrieren von Instrumentalsolisten, Sängern und Komponisten, deren neue Werke nur zur Uraufführung oder zu weiteren Aufführungen gelangen, wenn sich ein prominenter Dirigent ihrer annimmt. Er bestimmt, was und wo gespielt und aufgenommen wird. Er dominiert den Konzertbetrieb und erzielt die höchsten Honorare im Musikleben. Von ihm sind auch Manager, Orchesterdirektoren und Festspielleiter abhängig.

Das hat Konsequenzen für das Berufsbild, für Mentalität und Methoden der Selbstdarstellung. Der Stardirigent wird zum Protagonisten der Epoche, zum Leitbild der Zeit – auch in gesellschaftlicher Hinsicht – ein Herrscher im Reich der Musik, wie auch immer er diese Macht ausübt, autokratisch oder aristokratisch. Auch eine Folge dieser Entwicklung, die Karajan am profiliertesten und prominentesten verkörpert, ist die Kanonisierung und Marktfähigkeit des naturgemäß eingeengten Repertoires, das unablässig wiederholt und zu immer größerer Reife und Perfektion der Interpretation gebracht wird. Hinzu kommt der Warencharakter durch die Fixierung der Interpretationen auf Schallplatten und in visuellen Medien. Das Publikum wird zu einer Kennerschaft erzogen, die Interpretationen ein und desselben Stücks lustvoll vergleicht und sich darüber mit anderen austauscht – eine neue Spielart des musikalischen Connaisseurs.

In dieser Hinsicht war Karajan der folgenreichste Musiker des Jahrhunderts; denn in ihm vollzog sich der Paradigmenwechsel in allen Facetten, materiellen wie immateriellen, am konsequentesten.

Er hat aus dem dienenden Dirigieren früherer Kapellmeister eine autonome Kunstform gemacht, die sich nicht nur die Musikerkollektive, sondern auch den gesamten Musikbetrieb zu eigen macht und seinem unbedingten Willen unterwirft. Er schwingt sich auf zum Zentrum spiritueller und physischer Energien, von dem die entscheidenden Impulse ausgehen; er setzt die Maßstäbe und den Standard von Repertoire und Interpretation.

Foto: Berliner Philharmoniker / Digital Concert Hall

Ein Konzertorchester erweitert seinen Radius und betätigt sich als Opernorchester mit nie gekannter Qualität an Klangvolumen, studiert die Partituren zuerst ein für die Schallplatte, präsentiert die Werke dann konzertant, um sie danach im zu diesem Zweck groß dimensionierten Graben des neuen Großen Festspielhauses in Salzburg szenisch aufzuführen.

Tourneen mit Werken, die auf Schallplatte erschienen sind, dienen nicht nur als politisch gewollte musikalische Botschaften, zur Mehrung des Renommees, sondern auch der Absatzförderung. Und den Profit vom Ganzen teilen sich der Chef und die Musikerfamilie; für den Rechtsträger und Subventionsgeber fällt zunächst nichts ab – vielleicht wesentlich später ein wenig.

Die Arbeit im Studio für Platte, Film und Fernsehen intensiviert die Präzision einer musikalischen Wiedergabe, fordert allen Beteiligten erhöhte Konzentration und ständige kritische Überprüfung der eigenen Leistung ab, stärkt das Zusammenspiel und hebt das künstlerische Niveau insgesamt.

Diese Blütezeit funktionierte zwei glanzvolle Jahrzehnte und beglückte nicht nur das Publikum, sondern auch die Politik. Der Ruhm stieg ins Unermessliche; von ihm zehren alle nachfolgenden Protagonisten, wenn sie so ehrlich sind, dies einzugestehen. Das Orchester war und ist noch heute, das stilistisch anpassungsfähige und flexible, solistisch agierende Ensemble mit unverwechselbarer Individualisierung des Klangfarbenspektrums, wie es Karajans Idealen entsprach und von ihm dementsprechend motiviert worden war.

Größe und Grenzen eines charismatischen Musikers: Karajan wirkte ebenso ortlos wie geschichtslos: Ein großer Künstler, eine stilbildende, prägende Jahrhundertfigur der Musik müsste eigentlich nicht nur sich selbst und seinem nachschaffenden Wirken gegenüber verantwortlich sein, sondern hätte gerade wegen seiner Wirkungsmacht und seines Einflusses die Pflicht gehabt, musikpolitisch und gesellschaftspolitisch zu denken und zu agieren, kritisch Stellung zu beziehen, sich einzumischen, wenn gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen und Versäumnisse zu benennen und zu bekämpfen waren.

Hier ist eine Leerstelle zu konstatieren: die ausschließliche monomanische Fixierung auf das Ego des Genies und auf seine eigenen Ziele, gefangen im goldenen Käfig seines globalen Imperiums.

Aus heutiger Perspektive – nachdem Claudio Abbado und Sir Simon Rattle ausgiebige Erkundungen der Geschichte symphonischer Musik unternahmen und dabei zu Bereicherungen und Erweiterungen des Repertoires, zu Entdeckungen und Neubewertungen gelangten – ist Karajans Abstinenz, seine Abneigung gegen Archive, sein Verzicht auf musikwissenschaftliche, allgemein historische oder dramaturgische Beratung um so bedauerlicher. Er hätte in dieser Hinsicht auf Grund seiner imperialen Position viel erreichen können. Er pflegte stattdessen ausgiebig und nimmermüde in der interpretatorischen Ausfeilung den selbst zusammengestellten Werkkanon; seine Neugierde auf Neues oder Unbekanntes blieb unterentwickelt und wenig ausgeprägt.

Ganz im Gegenteil hat er das Repertoire auf Meisterwerke, wie er sie sah, eingeengt und das zeitgenössische Schaffen weitgehend ignoriert, Erweiterungen und Entdeckungen, Neubewertungen vergessener oder verdrängter Musik versäumt, zur Rehabilitierung verfemter Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann oder Zemlinsky oder Franz Schreker nichts beigetragen. Yehudi Menuhin: „Er hätte ein führender Exponent zeitgenössischer Musik werden können – angesichts seiner raschen Auffassungsgabe und seiner intellektuellen Brillanz.“

Wenig relevant für eine posthume Bewertung seiner Lebensleistung ist sein Verhalten während der Zeit der NS-Diktatur. Längst erwiesen ist, dass er weder als Täter noch als Opfer einer ideologisch orientierten rassistischen, antisemitischen und borniert rückschrittlichen NS-Kulturpolitik zu betrachten ist. Als aufstrebender, noch sehr junger, politisches und historisches Geschehen weitgehend von seiner Wahrnehmung ausblendender Kapellmeister war er blind oder einäugig nur auf seine Karriere bedacht. Dieser Tunnelblick, fokussiert auf seine musikalische Obsession, gerichtet auf das Ziel einer Leitungsposition, ist einem Musiker immanent, der kein Soloinstrument spielt oder komponiert, sondern als König ohne Land seine Position überhaupt erst organisieren muss, um mit Hilfe staatlicher oder kommunaler Strukturen ein Theater und Orchester gewinnen zu können. Dass sich dabei Verbiegungen und opportunistisches Verhalten herausbilden, ist verzeihlicher als das Mitläufertum eines bereits arrivierten, durch Weltruhm nahezu unangreifbaren Musikfürsten.

Als Karajan im Juli 1989 starb, ging eine musikalische Ära von hoher Prägekraft zu Ende; bald darauf auch eine politische, von deren fundamentalen Umwälzungen konnte er nichts ahnen.

Die alte Bundesrepublik, deren Aufstieg im Wirtschaftswunder er kulturell begleitet hatte, und mit ihr die exponierte Zwischenwelt West-Berlins hörte auf zu existieren und machte Platz für ein neues vereintes Land mit dem Austausch der dominanten gesellschaftlichen Kräfte. Berlin wurde aus einer kulturellen Hauptstadt wieder zu einem politischen Kraftzentrum, allerdings ohne den Unterbau einer wirtschaftlichen Metropole.

Bevor all dies geschah, verließ Karajan die kulturelle Bühne und mit ihm scheinbar auch ein ganzes System. Die Intellektuellen unter den Musikliebhabern, Kennern und Experten rieben sich nicht mehr an ihm; es wurde still um sein Wirken; lebendige kritische Auseinandersetzungen verstummten; die Bewertung seiner Leistungen blieb stehen bei weit verbreiteter verächtlicher Negation; aber seine Hinterlassenschaften in Form von Tondokumenten auf Schallplatten und CDs blieben merkantile Bestseller.

Er, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert auf dem Felde der Musik beherrschte, schien ins neue Jahrhundert, in die veränderten sozialen, politischen, historischen Gegebenheiten, Denkmuster und Maßstäbe nicht mehr zu passen.

Ulrich Eckhardt


Während seines Kapellmeisterstudiums am Städtischen (ehemals Sternschen) Konservatorium von 1959 bis 1962 war Ulrich Eckhardt aktiver Teilnehmer am Internationalen Dirigentenpraktikum Herbert von Karajans, was das seltene Privileg einer beobachtenden Anwesenheit in Karajans Proben und Aufnahmen in der Jesus-Christus-Kirche beinhaltete. Später ab 1973 bis zu Karajans Tod 1989 trat er ihm dann als Intendant und Vertragspartner gegenüber, um seine Doppelkonzerte alljährlich als strahlkräftige musikalische Höhepunkte der Berliner Festwochen zu sichern.

Die Karajan-Zitate sind entnommen aus: Richard Osborne, Herbert von Karajan – Leben und Musik, Zsolnay Verlag Wien 2002