Mein Weg vom Klavier zur Orgel

Anmerkungen zum Instrument des Jahres 2021

In ihrer uralten Majestät spricht die Orgel wie ein Philosoph: Sie kann als einziges unter den Instrumenten ein unveränderliches Tonvolumen entfalten und damit die religiöse Idee des Unendlichen zum Ausdruck bringen. Charles-Marie Widor

Ja, man könnte wohl sagen, daß die Orgel ein künstlich gemachtes Thier sey, welches durch Hülff der Lufft oder Windes und menschlicher Hände gleichsam rede, klinge, singe und modulire. Michael Praetorius [1619]

Man hat recht, die Orgel die Königin der Instrumente zu nennen, von ihrer Majestät zu sprechen, und sie zu beherrschen, ist wirklich ein aristokratisches Vergnügen. Arnold Schönberg

Die Orgel ist – wie kein anderes Musikinstrument – dazu geeignet, die metaphysischen Anlagen der Musik wiederzugeben. Wie sie durch permanenten Luftstrom farbige Klangwelten erzeugt, hat einen hohen Grad an Abstraktion und Objektivität – als Simulation oder Symbolisierung des Ewigen. Wohl deshalb holten die Mönche des Mittelalters die Orgel aus den Kunstkammern der Fürsten in die Kirchen der Klöster. Dieser eigenen Genealogie entspricht ein universelles Repertoire an Orgelliteratur, das von der Gegenwart bis ins Mittelalter zurückreicht – historisch weitaus umfassender als für Klavier oder Orchester.

Als Organist – so sehr ich mich auch bemühte – kann ich meine subjektiven Empfindungen nicht unmittelbar in der Dynamik des Körpers, der Hände und Finger ausdrücken. Mir bleibt nur das wirksame Mittel abwechslungsreicher Phrasierung, um Emotionen auszudrücken und auszulösen; dieses scheinbare Defizit wird wett gemacht durch höheren Schalldruck und Mischung opulenter, differenzierter Klangfarben aus unterschiedlichen Registern.

Die Orgel ist ein Apparat oder eine Maschine, und als Spieler löse ich einen naturgesetzlichen Vorgang aus: Über die Tastatur steuere ich Luft aus dem Blasebalg in die Orgelpfeifen. Durch permanenten Luftstrom erwacht das Instrument zum Leben und wird zum atmenden Organismus. Ich spiele mit Luft und schlage nicht auf Saiten aus Stahl.

Der Orgelbauer bestimmt durch das Wunderwerk der mechanischen Trakturen und des Pfeifenbaus die Qualität des Instruments. Es handelt sich um die größtmögliche Umwandlung von Materie in Geist. Jede Orgel ist ein Unikat mit eigenem Charakter. Keine Orgel gleicht einer anderen; folglich führen auch Konzerte stets zu unterschiedlichen Hörerlebnissen. Eine Orgel will aufgrund ihres solitären Charakters vom Spieler erobert werden, manche widersetzen sich, manche kommen ihm entgegen.

Als Organist empfinde ich Ehrfurcht vor dem Instrument und großen Respekt für den Orgelbauer. Von seiner Kunstfertigkeit beziehe ich die von mir ausgewählten Mittel der Klangerzeugung. Während ich mich als Pianist ans Klavier setze und loslege, muss ich den Spieltisch der Orgel besteigen und – ehe der erste Ton erklingt – den Apparat mit seinen vielen technischen Details organisieren – nicht ohne vorher die Schuhe zu wechseln – ein Ritual wie beim Eintritt in ein Heiligtum. Vorher hatte ich die Wohnstube verlassen, um eine Kirche, einen sakralen oder repräsentativen Kulturraum aufzusuchen. Wenn dann innere Ruhe einkehrt – spirituelle Versenkung statt Exaltation – gelingt mir das Spiel mit der Unendlichkeit.

Eine Besonderheit der Orgel ist ihre Verführung zur Improvisation, dem freien Spiel mit Klangfarben – was klassisch geprägte Pianisten nicht erlernt haben und praktizieren – ausgenommen im Jazz.

Ein notorischer Irrtum, Orgel zu spielen sei eine Fortsetzung des Klavierspiels mit anderen Mitteln. Das einzige Gemeinsame ist die Tastenanordnung auf der Klaviatur, das offenkundig Trennende ist das Spiel zusätzlich mit beiden Füßen. Ein ganz entscheidender grundsätzlicher Unterschied ist das Denken auf drei Ebenen, was der natürlichen Symmetrie des menschlichen Körpers eigentlich widerspricht. Draus resultiert ein anderes Lernverhalten: Der Orgelspieler kann ohne Einbuße nicht über längere Zeit sein Exerzitium unterbrechen; er muss vielmehr ständig dranbleiben und möglichst täglich üben.

Die Anordnung der Pfeifen als symmetrische Architektur verleiht der Orgel das majestätische Aussehen, auf das weder Kathedralen noch Konzertsäle verzichten wollen.

Schon kleinere Orgeln besitzen um 1000 Pfeifen, und größere können bis zu 10.000 zählen. In jedem Register gibt es so viele Pfeifen wie Tasten auf der Klaviatur. Da ein Orgelmanual in der Regel viereinhalb Oktaven umfasst, sind dies 56 Tasten für jedes Register. Die Orgel der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem hat 45 Register / 64 Reihen – also ca. 3.500 Pfeifen.

Die Klangwellen einer Orgel berühren den Hörer nicht nur psychisch, sondern in starkem Maße auch physisch. Physikalisch-akustisch reichen die Frequenzen bis in die Unhörbarkeit und wirken in der Tiefe markerschütternd. Solche Breite kann selbst der allergrößte Konzertflügel nicht erreichen. Die Länge der Pfeife wird bestimmt durch die Tonhöhe. Die größte Pfeife eines offenen 64 -Fuß-Registers ist mehr als 20 Meter lang und erzeugt eine Frequenz von etwa 8 Hz, ist also faktisch unhörbar. Sie kann nicht mehr gehört, sondern nur noch gefühlt werden. Auch physikalisch unhörbar tiefe Töne werden körperlich wahrgenommen. Denn der sog. Infraschall wirkt auf die gasgefüllten Hohlräume des Körpers. Weltweit gibt es nur zwei Orgeln mit einem echten 64-Fuß Register, die tatsächlich vollständig mit Pfeifenreihen bis zum Sub-Subkontra-C ausgebaut sind. Der sog. Donner ist ein Effektregister des Orgelbaus, das ein Geräusch ähnlich dem Donnergrollen erzeugt. Durch die Betätigung dieses Registers werden die Ventile der tiefsten fünf bis sechs Pfeifen des Pedals gleichzeitig geöffnet. Der Effekt wird durch den dadurch entstehenden erhöhten Winddruck noch verstärkt. Als Effekt lässt sich der Donner auch manuell herstellen durch das Anschlagen eines Clusters oder durch entsprechende Registerkombination. So wurde 2007 in die Orgel des Altenberger Doms (bei Köln) ein akustischer 64ʹ-Donner aus Contraposaune 32ʹ und labialem 21 1⁄3ʹ zusammengesetzt.

Die üblicherweise tiefste Orgelpfeife ist einem 32′-Register zugeordnet. Sie ist etwa 10,39 m lang und schwingt mit 16,4 Hz – ziemlich genau an der menschlichen Hörschwelle. Hoch wie eine Hundepfeife klingen die mit sechs Millimetern kürzesten Pfeifen. Ihre Frequenz von etwa 14.000 Hertz ist für ältere Menschen kaum mehr zu hören. Eine Orgel deckt also das gesamte für den Menschen hörbare Frequenzspektrum ab. Im Konzert strebe ich an, die ganze Bandbreite auszuschöpfen und in Werken aus allen Epochen den orgelspezifischen Reichtum an Klangfarben zur Geltung zu bringen.


NB: Das alles gilt natürlich nur für die überlieferte, zum Weltkulturerbe erklärte analoge Orgel, nicht für das simulierende elektronisch-digitale Surrogat!


PS zur Person: Ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften begleitend, erlernte ich das professionelle Klavierspiel in der Klasse Carl Seemanns in der Hochschule für Musik in Freiburg sowie bei Elisabeth Dounias-Sindermann in ihrem privaten Konservatorium in Berlin-Grunewald. Gleichzeitig absolvierte ich beide juristischen Staatsexamen und die Promotion und übernahm vorübergehend eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität in Münster, worauf zwei Jahre als Assessor am Bundesverwaltungsgericht in Berlin folgten. Abgesehen von kurzer Zeit als Repetitor mit Dirigierverpflichtung in der Oper der Städtischen Bühnen in Münster blieb eine Entwicklung als Musiker – in Ermangelung der unabdingbaren Zeit intensiven Exerzitiums – im Jahr 1969 stecken mit dem Beginn der beruflichen Tätigkeit als Kulturpolitiker und -manager zuerst in Bonn als Kulturreferent der (damaligen) Bundeshauptstadt Bonn, danach ab 1973 als Intendant und Geschäftsführer der Berliner Festspiele GmbH. Nach 30 Jahren – nicht nachholbarer – pianistischer Abstinenz war 2001 die Entscheidung unabweislich, ob und wie der vorgestellte musikalische Lebensweg weitergehen könnte. Die Entdeckung des Kontinents „Johann Sebastian Bach“ – mit seinen – den symphonischen Gedanken vorweg nehmenden – großen Orgelwerken und den gleichermaßen verinnerlichten und kontrapunktisch vollendeten Choralvorspielen – führte mich endlich zur Orgel, und ich erlag diesem Faszinosum. Dem Kern seines Glaubens und Denkens kommt besonders nah, wer Bachs Orgelwerke studiert und spielt. Die Werke des Erzvaters aller Musiker zu verstehen, ist eine lebenslange Herausforderung.

Ulrich Eckhardt