Probleme der internationalen Musikvermittlung

Für eine Wiedergewinnung der Vielfalt in den Weltkulturen (1979)

Plakat von Gabriele Burde

(…) Der massenhafte Konsum von multiplizierter Musik durch die technischen Medien hat die Musik und ihre Wirkungsweise grundlegend verändert. Musik wird – und das kann sie als sozialer Wirkfaktor nicht schadlos überstehen – verbraucht, als Klangtapete oder psychologischer Stimmungsfaktor mißbraucht; die Wahrnehmung von Musik wird entschärft; Musik wird zur schnelllebigen Wegwerfware.

Im Zuge der Idealisierung und Universalisierung abendländischer Musik sind auch unsere eigenen musikalischen Traditionen verändert worden. Während in der Musik bis Haydn noch der Markt für Musik und Musiker bestimmt war durch das Herstellen neuer Musik, trat bis heute zunehmend eine Umkehrung der Verhältnisse ein: Das Medium ist zur Botschaft geworden. Der Interpret tritt an die erste Stelle, und dies hat viel zu tun mit der Entfaltung der spätbürgerlichen Gesellschaft, die von der Musik wie von allen anderen Künsten abgebildet wird. (…)

Verarmung der musikalischen Erscheinungsformen

Bei genauerem Hinsehen erweist sich also, daß die von Europa ausgegangene Universalisierung der Weltsprache Musik auch äußerst negative Erscheinungen der Musikverwertung und Musikvermittlung weltweit exportiert hat und zur Verarmung in den Erscheinungsformen beitrug. Für kritische Beobachter wirkt es schon sehr merkwürdig, wenn die Nationalhymnen von Ländern mit großer, reicher musikalischer Überlieferung nach klassisch-romantischem Muster oder nach dem Muster europäischer Militärmusik in drittklassiger Ausführung komponiert werden, oder wenn Mittel der Entwicklungshilfe dazu verwendet werden, Sinfonieorchester europäischer Prägung in Hauptstädten von Entwicklungsländern zu gründen, oder wenn die offiziell geförderte Musik in der Volksrepublik China sich als eine Mischung von Hollywood-Filmmusik, Puccini, Tschaikowsky und Rachmaninoff darstellt. Diese Beispiele machen deutlich, welche Verluste noch in der nachkolonialistischen Zeit durch die Ausbreitung europäischer Musik für die nationalen Kulturen außerhalb Europas entstanden sind.

So ist die Konzertform europäischer Prägung das Abbild einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit, die historisch gesehen nicht für andere Kulturregionen verbindlich ist. Wenn nun das Musikleben weltweit in diesen Formen entwickelt wird, werden die eigenen Traditionen unterdrückt, die gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnisse negiert und auf diese Weise im Ergebnis kulturelle Äußerungen aufgepfropft.

Aufgabe von Festspielen

Internationale Festspiele können nun in dieser Lage die Aufgabe haben, sich diesen verhängnisvollen Entwicklungen entgegenzustellen und Alternativen international zu entwickeln, anstatt sich mit den Musikagenturen nach den für sie geltenden Marktgesetzen zu verbünden. Beispiele dafür sind die jüngsten Aktivitäten der Berliner Festspiele, die zwei Festivals neuer Prägung gegründet haben: Das Metamusikfestival (1974/1976/1978) und das Festival der Weltkulturen – Horizonte (ab 1979 im Zweijahresrhythmus).

Metamusik ist keine neue Musikgattung, sondern ein assoziativer Begriff, der die Begegnung zwischen europäischer Avantgarde-Musik mit Elementen traditioneller Musik außereuropäischer Hochkulturen bezeichnet – in dem Bewußtsein, daß es über nationale oder kontinentale historische Stilprägung hinaus gemeinsame Grundelemente menschlicher musikalischer Kommunikation gibt, die jenseits (= meta) der jeweils eigenen historischen Position liegen. Diese Elemente beziehen sich entweder auf das Melos, auf den Rhythmus oder auf die in jeder Musik enthaltene Gestik sowie auf den funktionalen Einsatz von Musik für Kult, Zeremonie, auch Therapie oder einfach Nachrichtenübermittlung durch Signale. Diese Art, eine Weltsprache Musik neu zu entdecken, ohne die spätentwickelten Ergebnisse einer regionalen Musikkultur Europas anderen Kulturen der Welt aufzuzwingen, Abschied zu nehmen von (auch unbewußten) hegemonialen oder kolonialistischen Verhaltensweisen, ist die Alternative zur konsumorientierten Ausbreitung etwa Beethovens als „Song of Joy“ im Pop- oder symphonischen Klanggewand – oder einer von Richard Strauss inspirierten „Star-Wars“-Musik im Zuge der Science-Fiction-Welle.

Begegnung der Kulturen

Nicht die weltweite Vermarktung von Musik; sondern die Begegnung zwischen vielfältigen und differenzierten Regionalkulturen fördert wirklich die internationale Kommunikation durch Musik. Das Festival der Weltkulturen „Horizonte“, das sich Juni/Juli 1979 zum ersten Mal vorstellen wird, beschäftigt sich darüber hinaus nicht nur mit Musik oder den Grenzgebieten des Tanzes und des Theaters, sondern erweitert dieses Ziel auf alle kulturellen Äußerungen und schafft ein Diskussionsforum der Weltkulturen untereinander, um zur notwendigen Wiedergewinnung der nationalen kulturellen Identitäten der Völker zu gelangen. Denn es gibt nicht nur die eine Weltkultur, sondern zahlreiche zum Teil verschüttete autonome Hochkulturen in allen Erdteilen.

So stehen wir heute an einem Scheideweg, an dem die idealisierende Euphorie über die eine Weltsprache Musik im Idiom der mitteleuropäischen Klassik oder Romantik umschlägt in eine skeptischere Beurteilung der negativen Aspekte oder Wirkungszusammenhänge. Heute scheint uns eine Wiedergewinnung der Vielfalt in den Weltkulturen, eine neue Bestimmung nationaler, regionaler oder lokaler Kultursprachen wichtiger zu sein. Die universale Kommunikation der Weltkulturen liegt dann eher in einer gegenseitigen Achtung und Wertschätzung traditioneller unterschiedlicher eigener Stile und Inhalte bei gleichzeitigem Bewußtsein von der dialogischen Gemeinsamkeit in den Elementen. Verständigung in der Vielfalt und die Befreiung vom Zwang des Konsums und des Kommerzes, die Beseitigung der Hegemonie europäischer Kultur, sowohl hinsichtlich der Nachahmung klassizistischer Gesetzlichkeiten in Symphonie oder Sonate, als auch der abgeleiteten Simplifizierungen in der Pop-Musik sind die neuen Ziele. Bezogen auf die eigene historisch gewachsene Musiktradition, sollten Musikfestspiele die Vorreiter sein für eine gegenläufige Entwicklung, die anstelle der Konsumanpassung im Weltmaßstab die Bemühungen fördert, das Repertoire unserer eigenen europäischen Musikausübung zu erweitern, vergessene Werke aus der Geschichte wieder auszugraben, zeitgenössische Komponisten zu stützen und sich der Vermarktung des Interpreten zu widersetzen.

Ulrich Eckhardt, Magazin der 29. Berliner Festwochen 1979