Thomas Langhoff

Ästhetik des Wider­stands

Die Jury hat den Friedrich-Luft-Preis für das Jahr 1994 der von Thomas Langhoff inszenierten Aufführung „Kriemhilds Rache“ von Friedrich Hebbel des Deutschen Theaters zuerkannt. Sie würdigt damit eine herausragende Ensemble-Leistung, ein schlüssiges Regiekonzept, ein eindrucksvolles Bühnenbild und eine sorgfältige, einleuchtende erhellende Dramaturgie.

Wenn ich im Auftrage der Jury die Leistung Thomas Langhoffs und des Deutschen Theaters würdigen soll und dafür symbolische Bilder finden will, so bietet sich an, vom Ort auszugehen, an dem sich das Deutsche Theater tatsächlich und im übertragenen Sinne befindet. Wo wir hier heute zusammengekommen sind, da liegt eine Märkische Endmoräne, Berlin ist auf Sand und Sumpf gebaut. Nur ein Pfahlbau kann ein sicheres Fundament geben. Die Panke fließt unterirdisch von Nord nach Süd unmittelbar auf das Theatergebäude zu, biegt hart vor dem Haus scharf in östliche Richtung ab und erreicht die Spree nach erneuter Rechtskurve am Schiffbauer Damm. Wer hier baut, muß die Pfähle tief ins Erdreich schlagen, bis er die feste Steinschicht er­reicht. Tradition ist Pfahlbau, und auf diesen Fundamenten kann Neues für die Zeit errichtet werden.

Die Gegend hier versammelt Theater, Universität, Charité und einen Friedhof, den gedankenreichsten der Stadt, den Dorotheenstädtischen, der außerhalb der in Teilen noch sichtbaren Stadtmauer an sie angelehnt eingerichtet wurde. Hier findet sich das schön gestaltete Grab Wolfgang Langhoffs, der lange vor dem Sohn Thomas dasselbe Theater ruhmreich und politisch entschieden geleitet hat.

Auf seine Weise ist der Platz vor dem Deutschen Theater in seiner ebenso bescheidenen wie anmutigen Klassizität dem angeblich schönsten Berliner Platz, dem Gendarmenmarkt, ebenbür­tig, ganz ohne imperiale oder monumentale Gebärde, sondern menschlich und bürgerlich im Geiste der Aufklärung. Schlicht sind die Fassaden, zart die Farben, einladend die beiden Thea­tereingänge, ganz ohne Schwellenangst. Kommt der Besucher hierher, passiert er die Portraitskulpturen Max Reinhardts und Otto Brahms (vergessen wurde der ebenso wichtige Theaterrefor­mer Adolphe L’Arronge, der eigentlich Aronson hieß und auf dem Dreifaltigkeitskirchhof nahe Felix Mendelssohn begraben liegt) und er kommt an einer Stele vorbei mit dem Text „Die Werke, die wir geerbt haben, immer wieder von neuem zu erwerben, um sie zu besitzen, bedeutet, sie aus dem Geist unserer Zeit wie­der neu zu gebären. Das lebende Theater kann nur lebende Werke gebrauchen, gleichviel ob sie der Gegenwart oder der Vergan­genheit angehören“ – Max Reinhardt. Ausdruck eines humanisti­schen Erbes! Östlich vom Theater ein Bunker des 2. Weltkriegs mit schauerlichem Inneren und schrecklichen Erinnerungen. Neu­erdings wird von Augenzeugen überliefert, der Rasen zwischen Bunker und Theater decke ein Massengrab für unbekannte Kriegstote.

„Kriemhilds Rache“ handelt von menschlichen Katastrophen, von Verhängnis und Schuld, von Haß und Wahn, von Rache und Vergel­tung, von Mord und Totschlag, eine Inszenierung aktuell zum 50. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung am 8. Mai 1945. Mahnung und Verpflichtung des Theatergewissens sind in der ausgezeichneten, außerordentlich spannenden und intensiven Aufführung verkörpert. Theater in einer Ästhetik des Wider­stands gegen anpassende Gefälligkeit und modische Beliebig­keit. Dramaturgische Verantwortung ist heute keineswegs altmodisch, sondern höchst aktuell und notwendiger denn je. Das Deutsche Theater lebt und wirkt in dieser historisch-politi­schen Verantwortung.

Thomas Langhoff zu ehren heißt also Tradition, Verantwortlich­keit, Erbe, Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit zu preisen, heißt auch, andere Menschen gleichzeitig zu ehren, die vor, hinter und neben Thomas Langhoff sind und waren, die Schau­spieler vor allem. Da gibt es keine Nebenrollen, keine Chargen, keine Randfiguren, sondern einen einzigartigen Zusammen­klang von Charakteren und Persönlichkeiten, die alle Facetten menschlichen Empfindens und Wissens beglaubigen. Auch nicht soll vergessen sein, wie Albert Hetterle in schwieriger Zeit und in Vorausahnung kommender revolutionärer Ereignisse dem Regisseur Thomas Langhoff die Inszenierung von Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ mutig übertrug, quasi das Vorspiel zum Oktoberaufstand von 1989. Erwähnen muß ich auch den Namen Die­ter Manns, der das Deutsche Theater tapfer, treu und listig durch die Klippen des Zensurstaates führte und über die Wende brachte.

Was man anläßlich einer Laudatio aktuell und konkret dem Deut­schen Theater und seinem Intendanten wünschen sollte, wäre eine experimentell nutzbare kleine dritte Spielstätte, um die Innenspannung verschiedenartiger künstlerischer Kräfte inner­halb des Theaterorganismus zu verstärken, um die Entwicklung unterschiedlicher Regiehandschriften mit einem so reich ausgeprägten Schauspielerensemble, einem der besten, das wir haben, zu ermöglichen. In einem Interview mit Friedrich Dieckmann im „Theater der Zeit“ erwähnt Thomas Langhoff eine auf Schinkel zurückgehende Probebühne, die mit relativ geringem Aufwand zu einem Studio wie die frühere Kleine Komödie mit 99 Plätzen auszubauen wäre. Es ist das wohl allgemein unbekannte, uns alle höchst neugierig machende alte Exerzierhaus Schinkels in der Reinhardtstraße. Das wäre ein Platz, wo sich junge Thea­termacher erproben könnten. Aber es fehlt das Geld. Wie einst bei Gründung und Ermöglichung des Deutschen Theaters ganz ohne Staat durch das zumeist jüdische liberale Bürgertum Berlins, wie damals Max Reinhardt, so könnte heute Thomas Langhoff ge­holfen werden, wenn sich Mäzene, vielleicht sogar unter den hier heute Anwesenden, fänden.

Zum Schluß möchte ich noch einige Arbeitsgrundsätze benennen, die dem Deutschen Theater zur Ehre gereichen: die Balanciertheit im Spielplan, die Thomas Langhoff als seine Spezialität bezeichnet, die Ost-West-Integration in der künstlerischen Arbeit sowohl mit den Theaterleuten als auch mit dem Publikum, das kulturpolitische Engagement des Intendanten beispielsweise im Rat für die Künste, dem Notruf Berliner Kultur, um die Po­litiker auf ihre kulturpolitischen Pflichten hinzuweisen und schließlich die europäische Zusammenarbeit, die das Deutsche Theater praktiziert; denn das von der Jury mit dem Friedrich-Luft-Preis geehrte und ausgezeichnete Werk entstand für die Wiener Festwochen und hatte dort seine Premiere, bevor es in den regelmäßigen Spielplan des Deutschen Theaters kam.

Im Namen der Jury gratuliere ich dem Deutschen Theater, dem Intendanten und Regisseur Thomas Langhoff, seinem künstleri­schen, technischen und administrativen Stab und vor allem al­len Schauspielerinnen und Schauspielern des einzigartigen Ensembles.

Ulrich Eckhardt, Laudatio zur Verleihung des Friedrich-Luft-Preises, 1995