Memoria: Erinnern – Gedenken – Mahnen

Über den Umgang mit Geschichte

Erinnerung ist im Felde des Historischen eine Metapher. Metaphern sind niemals unschuldig. Wer ein Geschehen selbst erlebt hat, kann sich erinnern; jeder andere kann von Ereignissen nur wissen und ihrer gedenken. Im Gedenken stellt sich eine zusätzliche Komponente ein: die ethische Kategorie von Empathie gegenüber den Opfern historischer Vorgänge, gefolgt von der Mahnung. Erinnerung und Gedenken sind durchwirkt mit geschichtlicher Deutung; sie wirkt wie ein Filter zur Wirklichkeit der Ereignisse.

Für denjenigen, der dabei war, sind Wissen und Emotion, Kenntnis und Betroffenheit ungetrennt. Im Gedenken fallen sie auseinander. Der objektivierenden Erforschung, wie es wirklich gewesen sei, steht die Anteil nehmende Vergegenwärtigung gegenüber, daß etwas Vorbild sein oder nie wieder geschehen sollte. Aber auch das Forschen nach wissenschaftlichen Kriterien mag mit Empathie verknüpft sein; und zum Gedenken gehört notwendig auch das Wissen durch Kenntnisse und Fakten vermittelnde Bildungsarbeit. Aber es bleiben getrennte Welten der Wahrnehmung: Forschen zielt auf Wahrheit – Gedenken auf ein richtiges, verantwortungsvolles Leben.

Das öffentliche Gedenken als Gegenstand politischer Gestaltung konzentriert sich auf Zeit und Raum: zeitlich an Gedenktagen – räumlich in Gedenkstätten, wo sich historisches Geschehen am Tatort anschaulich nachvollziehen läßt, oder in Denkmälern und musealen Einrichtungen mit didaktisch als Lernorte aufbereiteten oder inszenierten Informationsangeboten.

Das in Räumen und Terminen vergegenständlichte Gedenken bedarf der sinnstiftenden Verknüpfung mit gesellschaftlichen kulturellen Kontexten: Einfügung in das Curriculum allgemeinbildender Schulen und Einrichtungen der Weiterbildung – darüber hinaus in das öffentliche Bewußtsein, wie es sich in der Kommunikation, im Denken und Fühlen individuell und kollektiv bildet. Hier setzen auch die identitätsstiftenden Wirkungen ein, auf die politische Bildung abzielt.

Erinnerungskultur ist mithin ein falscher Begriff für die Definition geschichtspolitischer Ziele. Gedenkstätten, Bildungsstätten, Museen, Sammlungen, Denkmäler, Denkzeichen und Gedenktage dienen der Aufklärung und Mahnung, zielen auf Emotion und Information, nutzen Dokumente, Zeugnisse in Texten und Bildern, Kunstwerke und Medien, fordern vom Besucher Andacht und Arbeit.

Zur nationalen, regionalen oder kommunalen Identität gehört die Einrichtung und Pflege sowohl der Tatorte, Friedhöfe und Leidensstätten als auch die geschichtswissenschaftlich bearbeiteten, dokumentarisch beglaubigten Täterorte. Die Authentizität des jeweiligen Orts ist von ausschlaggebender Bedeutung, um das politische Bildungsziel zu erreichen. Diese Einrichtungen sind inzwischen vom Störfaktor und Stigma zum Standortfaktor und touristischen Ziel avanciert.

Zu den wirkungsmächtigsten Formen des kulturellen Gedächtnisses gehören zyklische Veranstaltungen: Zeiträume, die unter präzis definierter Thematik und in dramaturgisch sorgfältiger Planung einem breiten Publikum – auch ohne Vorwissen – Ereignisse oder Geschehnisse auf medial vielfältige Weise nahebringen.

Die modernen Medien haben die anthropologische Struktur des Gedenkens und Erinnern stark beeinflußt. Der Faktor Zeit hat die Wahrnehmung verändert.

Der Umgang mit Geschichte ist in der gegenwärtigen Gesellschaft widersprüchlich. Einerseits spielt die historische Erfahrung für die moderne Welt der Kommunikation, des Konsums und des Profits eine immer geringere Rolle. Andererseits ist das Bedürfnis nach Geschichte, also nach einer historischen Verankerung des Denkens und Handelns, nach Selbstvergewisserung und Identitätsfindung deutlich stärker geworden – in Zeiten der anonymen Globalisierung, der ökonomischen Allgegenwart und Konzentration in undurchschaubaren Großorganisationen. Das betrifft gleichermaßen historische Ereignisse und Persönlichkeiten wie das tägliche und private Leben in Familie, Nachbarschaft und Kommune. Das Verständnis dessen, was bewahrenswert ist, hat zugenommen und ist erweitert worden. Memoire und Souvenir gehören zum Leben. Orte der Erinnerung sind neben die Denkmäler, Nationalfeiertage und großen musealen Gedenkstätten getreten und haben feste Plätze im kulturellen Bestand eingenommen. Musealisierendes Bewußtsein und Verhalten erobern die Alltagserfahrung.

Die Archäologie boomt; Nostalgiewellen beflügeln Museen, Sammlungen und das allgemeine Interesse an Antiquitäten und Trödelmärkten; die Videokamera wird obsessiv zur Selbstvergewisserung benutzt; die Memoirenliteratur stürmt die Bestsellerlisten; in Film und Literatur scheint der Faschismus als Thema ungebrochen faszinierend zu sein. Der Flucht aus der Gegenwart entspricht die Attraktivität der Vergangenheit.

Mit dem zeitlichen Abstand wird der Holocaust zum Mythos, der für symbolische Politik instrumentalisiert und zur nationalen Legitimierung verwendet wird. Die Zeitzeugen treten ab; damit wird die Erinnerung entpersönlicht. Die wachsende Entfernung bewirkt eine Ablösung von den Fakten. Wie soll dann dem Vergessen entgegen gewirkt werden? Und wie kann verhindert werden, daß neben die Verharmlosung die Trivialisierung tritt.

Ein exemplarischer Fall: die Fernsehserie „Holocaust“ aus dem Jahre 1979, „Holocaust“ als Wort und Begriff war bis 1978 im Deutschen völlig unbekannt. Der US-amerikanische Fernsehfilm sorgte dafür, daß „Holocaust“ 1979 zum „Wort des Jahres“ gewählt wurde. In dem Vierteiler von Marvon J. Chomsky wurde erstmals der Massenmord an Juden einem großen, in Millionen zählenden TV-Publikum als dramatische und in allem Schrecklichen doch auch unterhaltsame, weil spannende und aktionsreiche Geschichte nahe gebracht. Der Autor des Drehbuchs, Gerald Green, machte das Unfaßbare von sechs Millionen ermordeten Menschen faßbar, indem er das Thema stark emotionalisierte und auf die private Ebene wiedererkennbarer Personen hob, mit denen sich die Betrachter identifizieren konnten. Der Film ist keine Dokumentation der Fakten und bietet keinen analytischen oder wissenschaftlichen Blick von außen, sondern richtet sich an Gefühle des Mitleids und Trauer und spart auch den Blick in Gedanken, Seelenleben und Liebesgeschichten der porträtierten Opfer nicht aus. So erreichte diese Fernsehserie, was vielen anderen vorangegangen ernsthaften und wohlmeinenden Anstrengungen und Auseinandersetzungen (wie z. B. Claude Lanzmann mit „Shoah“) nicht gelang. Zunächst wollte das Deutsche Fernsehen die amerikanische Produktion nicht ausstrahlen; denn es handle sich um eine kommerzielle und triviale TV-Serie in Hollywood-Machart, die mit ihren Simplifizierungen das grauenvolle Geschehen nicht angemessen und würdig darstellen könne. In der Tat entsprechen die geschilderten Vorgänge nicht immer den historisch belegten Fakten; vieles ist Fiction. Als sich die Intendanten der ARD wegen solcher „Qualitätsmangel“ nicht auf eine Ausstrahlung im Ersten Programm einigen konnten, wurde er in allen Dritten Programmen gleichzeitig gezeigt – am 22./23./25./26. Januar 1979. Die Resonanz war überwältigend. Rudolf Augstein schrieb im „Spiegel“: „Der Krieg hatte mich stumpf gemacht. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich mich nur um mein eigenes Schicksal und das meiner Familie gekümmert hatte. Das Los meiner Juden war aus meinem Blickfeld herausgetreten.“ So ging es vielen der 20 Millionen Menschen, die die Serie gesehen hatten: jeder zweite hatte Teile, jeder dritte den ganzen Film gesehen. Zwei Drittel der 14- bis 29-Jährigen schalteten „Holocaust“ ein. Denn sie fühlten sich durch ihre Eltern und von der Schule nur unvollständig über die NS-Zeit informiert. Es war wie ein radikaler Schnitt im kollektiven Bewußtsein – ein drastischer Szenenwechsel. Der TV-Serie gelang, was in drei Jahrzehnten der deutschen Nachkriegsgeschichte Hunderten von Büchern, Theaterstücken, Reden, Diskussionsrunden, wissenschaftlichen Dokumentationen und Untersuchungen und der öffentlichen Justiz in den KZ-Prozessen in dieser durchschlagenden Massenwirkung nicht geschafft hatten: Die Deutschen waren im wahrsten Sinne des Wortes betroffen – und sie redeten darüber untereinander – sie waren aus einer Starre und der Sprachlosigkeit des Verdrängens gelöst worden. Und das alles nicht aus eigener Kraft, sondern via Fernsehen durch eine US-amerikanische kommerzielle Produktion.

Für die Memorialkultur sind drei Arbeitsfelder wesentlich: nach innen die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Vermehrung und Bewahrung des Wissens – und nach außen zum einen die Bildungsarbeit für bereits engagierte Menschen, vor allem Jugendliche mit Vorwissen durch die Schule – zum anderen phantasievolle und innovative Aktivitäten, um breite Schichten ohne Vorwissen anzusprechen und Ihnen eine Ahnung von historischer Verantwortung zu vermitteln. Die Fernsehserie „Holocaust“ gehört in diese dritte Kategorie, deren Ausgestaltung kreative, auch unkonventionelle Versuche und Anstrengungen nötig macht.

Zu den Strategien der Vermittlung gehören neben stationärer Arbeit in Gedenkstätten aus heutiger Sicht unverzichtbar temporäre Ereignisse; denn die Methoden der Eventkultur sind geeignet, mehr Menschen zu erreichen und stärkere Eindrücke zu hinterlassen als bildungsorientierte Angebote. Wortprogramme, die nicht nur vom Individuum gelesen, sondern in Lesungen oder Inszenierungen gemeinschaftlich gehört und gesehen werden, entsprechen durchaus jüdischen Traditionen des Gedenkens. Juden definieren sich als Volk durch kommemorierendes Erzählen ihrer Geschichte, die reich an kollektiv erlebten Katastrophen, aber auch an segensreiche Zeiten der Freiheitsblüte ist. Eine innerhalb der Umgebungsgesellschaft praktizierte kulturelle und religiöse Eigenständigkeit wird stetig erneuert und gespeist durch Überlieferungen und Berichte. Texte, Bilder und Zeichen, Kleidung, liturgische Geräte und Symbole, Gesten, Klänge und Riten der Trauer und der Freude stiften Gemeinschaft und Identität. Die verbale und ikonoklastische Seite jüdischer Traditionen schafft Denkmäler aus Erzählungen – Memorialbücher – über Leben und Vernichtung europäisch-jüdischer Gemeinden. Ihre Lektüre oder öffentliche Präsentation verwandelt den jeweiligen Ort des Vor-Lesens in eine Stätte des Gedenkens. Wo die Grabsteine fehlen und die Gräber unauffindbar sind, entstehen immer wieder erneuerte innere, virtuelle Grabstätten. Demgegenüber verlieren statuarische Denkmäler mit dem Ablauf der Zeit an Aussagekraft: Adorno hält sie für museale Objekte, zu denen sich der Betrachter nicht mehr lebendig verhalte und die selber allmählich absterben – Pierre Nora meint, Gedenkstätten könnten die Erinnerung weniger fokussieren, als vielmehr insgesamt verdrängen und einer Gemeinschaft ihre eigene innere Erinnerungsarbeit abnehmen; Entlastung und Kompensation durch Riten und Versteinerung; sie sind deshalb bemüht, der drohenden Verschleierung und Neutralisierung durch politische Bildungsprogramme zu entgehen. Weitaus wirksamer erscheinen mir kulturelle Programme, die in ihrer Anlage den Erfahrungen von ernsthaft konzipierten Festspielen folgen und deren Grundmuster den Inhalten entsprechend verwenden und umformen.

Was zunächst wie unvereinbar, gar kontraproduktiv erscheint, erweist sich bei richtiger Handhabung in der Praxis als höchst effektive Art, schwierige und komplexe Themen und Zusammenhänge auf angemessen ernsthafte zu bearbeiten und unter die Leute zu bringen. Ein durch Events ausgelöstes Staunen öffnet Sinne und Herzen, und auch das Wissen über Geschehenes und dessen Deutung lassen sich über Inszenierungen erweitern. Das Publikum reagiert auf Sinnenreize stärker und anhaltend wirksamer als auf noch so gutgemeinte Belehrungen mit hohem Abstraktionsgrad. Eine Konkretisierung durch Bilder, Gesten und Klänge fördert das Begreifen im Wortsinne. Das Grundprinzip gut programmierter Festspiele besteht in der Herstellung eines Transfers zwischen Erleben und Verstehen.

Beispiele aus der Chronik der Berliner Festspiele:
1995 – 50 Jahre Frieden in Deutschland – zum 8. Mai 1945 Ausstellungen und Veranstaltungen vom 10. April bis zum 10. November 1995.

Aus dem Vorwort des Programm-Journals: „Gedenktage – besonders der 8. Mai – haben ihre Tücken. Die nach dem Kalenderzwang gehäufte Proklamation oder Manifestation des guten Willens oder eines geläuterten Gewissens kann auch ungewollt zur Neutralisierung oder Verdrängung geschichtlicher Realien führen. Ebenso leicht werden Gedenktage zur Beute der Ideologen. Am Umgang mit Gedenkdaten lassen sich gesellschaftliche Verwirrungen, politische Konflikte und Verirrungen deutlich ablesen.

Die Reichhaltigkeit und vielleicht schwer überschaubare Vielfalt des Programms resultiert aus der Fülle des Engagements, aus dem Willen zur Rationalität und dem Bestreben, fernab politisch-ideologischer Phrasen die Sache mit Genauigkeit, mit Gerechtigkeit, Treue zum Detail und mit Verantwortung zu betrachten. Walter Benjamin schrieb im „Kanon für den Begriff der Gegenwart“: „Jeder Augenblick ist der des Gerichts über gewisse Augenblicke, die ihm vorausgegangen.“

… Kein selbstgefälliger Rückblick, sondern anhaltende Mahnung und Bewusstseinserforschung sind die Ziele des Programms… Der 8. Mai war in der DDR ein verordneter Feiertag der Befreiung. Das mag die Neigung zur Abnutzung und Abstumpfung bei Gewöhnung im zunehmenden zeitlichen Abstand befördert haben. Dem 50. Jahrestag kann es heute ähnlich ergehen: Eine Welle der Historisierung, von Medienmacht verstärkt, kann ihn zwischen Bildern und Texten, Buchdeckeln und Archivschränken erdrücken und die rationale wie emotionale Vergegenwärtigung verhindern…

Der Anlaß verträgt keine spektakulären Veranstaltungen. Nachdenklichkeit stellt sich in den eher intimen Orten der Kultur und Religion ein… Das Nachdenken und Innehalten 50 Jahre nach dem 8. Mai 1945 dient auch dazu, die persönlichen Erinnerungen, das eigene Erleben, die individuellen Biographien nicht dem Vergessen preiszugeben, die immer weniger werdenden Zeitzeugen zu befragen, zum Reden zu bringen und … ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen…

In diesem Sinne kennzeichnend für die Programmgestaltung sind die (zentrale) Ausstellung „Berlin 1945″ gegenüber der symbolträchtigen Gedächtniskirche ab 10. April, die Gesprächsreihen und literarischen Veranstaltungen vom 21. April bis 21. Mai, die Emigranten-Ausstellung ab 1. Mai am Anhalter Bahnhof, das Memorial-Konzert mit Musik und Reden am 3. Mai in der Kirche Maria Regina Martyrum, am 7. Mai die Einweihung des „Centrum Judaicum“ in der teilweise wieder aufgebauten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, am 8. Mai die Gottesdienste und Friedensandachten mit stadtweitem Glockengeläut, der Baubeginn für die „Topographie des Terrors“ und die Wiedereröffnung des „Museums der Kapitulation“ in Karlshorst, ferner die Aufstellung des Denkmals für den Widerstand der Frauen in der Rosenstraße und viele Konzerte „Gegen Krieg und Gewalt“. Die Berliner Festwochen haben das Thema „Moskau – Berlin / Berlin – Moskau“, und den Schlußpunkt des Gedenkjahres (auch 50 Jahre nach Hiroshima) setzen Arnold Schönberg und Luigi Nono im Konzert des Gustav-Mahler-Jugendorchesters mit Claudio Abbado am 9. November 1995…“

Wichtig für eine gelungene Rezeption ist propädeutisches Begleitmaterial – in diesem Falle ein schlicht und anspruchsvoll gestaltetes Journal mit dem Titelbild „Werner Heldt, Köpfe im Ruinenmeer (1946)“, einführenden und vertiefenden Essays von Peter Bender („Die Deutschen sind nicht mehr die Deutschen“) und Friedrich Dieckmann („Deutschland in der Stunde Null“) – beide verantwortlich für die umfangreichen und hochkarätig besetzten Gesprächsreihen. Es folgen Daten zur politischen Entwicklung nach 1945, Gedanken zur Zeit (aufschlussreiche Zitate), kommentierende Texte zu allen Ausstellungen, Gesprächen, literarischen Veranstaltungen, Kabarett, Theater, Konzerten („Pro Pace“) und Filmen.

Zweites Beispiel:
„Fest der Einheit“ am 2. und 3. Oktober 1990 – dazu aus dem Vorwort im Programm-Journal: „… Grund zum Übermut oder Überschwang ist nicht gegeben. Mit Augenmaß und ohne Euphorie, mit Stil und ohne sinnlosen Lärm sollte das Programm zusammen gestellt sein. Ohnehin läßt der kritische, wache und nüchterne Realitätssinn der Berliner blanken Frohsinn nicht aufkommen. Der Tag kann nicht begangen werden, ohne der historischen Ursachen zu gedenken, ohne die Opfer und Verluste zu benennen, die von Deutschland und Berlin aus über Europa gekommen sind… Der Tag der Freude ist auch ein Tag der Sorge und für manche gar ein Tag der Angst. So werden die Vorbehalte sehr wohl verständlich, die allenthalben den Vorbereitungen zum „Fest der Einheit“ entgegen gebracht werden…. Für das „Fest der Einheit“ wird eine historische Meile markiert, an der Stationen der Geschichte zu erleben sind. Daran anschließend ist eine Reihe von nachdenklichen Veranstaltungen geplant, die den populären Angeboten des Festes notwendig hinzugefügt werden müssen… Berlin ist Mitte. Also begehen wir das Fest in Berlins Mitte, wo sich Ost und West Unter den Linden, zwischen Alex und Pariser Platz begegnen.“ Wieder folgen ein vertiefender Leitartikel (Joachim Nawrocki, Das Wertvolle wird überleben), eine Chronik der Ereignisse (Der Weg zur Einheit) und Kommentare zu den einzelnen Aktivitäten (War Requiem, Wolf Biermann, Deutschland-Gespräche, Berlin im Film, Liederabend „So haltet die Freude recht fest“, Kabarett, Konzerte, Ausstellungen – vor allem zu den „Zeitzeichen – 12 Berliner Stationen deutscher Geschichte“ zwischen Siegessäule und Nicolaikirche von Laurenz Demps. Für die unterhaltsamen Freiluftveranstaltungen waren 16 Bühnen aufgebaut worden. Die zentrale offizielle Mitternachtszeremonie fand vom 2. 10., 22.45 Uhr, bis zum 3. 10., ca. 1.30 Uhr, auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude statt und war so konzipiert, daß durch die musikalische Charakteristik des Programms ein friedlicher Verlauf gewährleistet war – frei von Aggressionen oder nationalem Überschwang.

Drittes Beispiel:
10 Jahre Maueröffnung -Aspekte und Stationen einer friedlichen Revolution – vom 4. Bis 14. November 1999. Die von Friedrich Dieckmann konzipierten und geleiteten Podiumsgespräche an authentischen Orten versammelten in 6 Runden die wichtigsten Akteure und Zeitzeugen – ergänzt durch Radiodokumentationen aus dem Herbst 1989, vor allem Übertragungen vom inzwischen legendären „Runden Tisch“, sowie eine nachvollziehende Reihe von Film-, Theater- und Musikaufführungen. Mit vielfältigen Mitteln wurde wiederum versucht und erreicht, ein produktives Erinnern zu bewirken und anzuregen.

Viertes Beispiel:
„Sternstunden“ (750 Jahre Berlin) 7./8. August – 14./15. August – 21./22. August – 28./29. August 1987 – groß dimensionierter, ambitionierter, spektakulärer Versuch, in vier Open-Air-Revuen mit 5.000 Mitwirkenden auf den Bühnen und 500 Technikern hinter der Bühne wesentliche Epochen der Berliner Geschichte vor insgesamt ca. 200.000 Besuchern lebendig werden zu lassen.

Aus dem Vorwort zur Dokumentation 1987: „Die Planung der 750-Jahr-Feier hatte nicht nur Inhalt und Umfang des Programms und der einzelnen Veranstaltungen zu konzipieren. Beherrschend war von Anfang an auch die Frage nach der zeitlichen und räumlichen Dramaturgie des Programms. Jedes Projekt mußte seinen richtigen, angemessenen Zeitpunkt, seinen Ort in der Stadt, seine richtige Dauer und seinen Platz im Gesamtablauf der Veranstaltungen finden. – Was aber ist „angemessen“ bei einem so außergewöhnlichen Anlaß? Diese Frage war nicht nur nach den Maßstäben routinierter Festivalveranstalter zu behandeln; nicht nur nach äußerlichen technischen Gesichtspunkten der Machbarkeit, der Tauglichkeit und Verfügbarkeit von Zeiten und Veranstaltungsorten… So sollte nicht nur der Inhalt des Programms dem Besucher die Geschichte und Gegenwart Berlins zugänglich machen. Auch seine räumliche Dramaturgie sollte die historische Dimension des städtischen Raumes erschließen und die unter dem gegenwärtigen Stadtbild verborgene historische Topographie ans Licht heben…“

„… Die Sternstunden 1987 werden in die Berliner Theatergeschichte eingehen – nicht nur als logistische Leistung, sondern auch ästhetisch und thematisch in ihrer ambitionierten und risikoreichen Mischung von Unterhaltung und Anspruch, deren Vermählung so selten gelingt… Ein Risiko war der inhaltliche und stilistische Anspruch, neue Formen anspruchsvoller und aufgeklärter Unterhaltung zu entwickeln – zwischen Theater, Revue, Kabarett und Show, mit Musik von Klassik/Romantik über Jazz bis Rock, Disco und Song ebenso wie von Gustav Mahler und Alban Berg. Die künstlerische Technik der Montage war der Ansatz. Es gab Aufführungen mit Story und solche ohne gesprochene Texte, Filmeinblendungen, pyrotechnische Effekte, symphonische Orchester, Jazzbands und Chöre…“

Hellmut Becker kommentierte am 7. November 1987 das Ergebnis in der „Frankfurter Rundschau„: „… Das Besondere an diesen Abenden war, daß den Festspielen ein Stück Erwachsenenbildung gelungen ist, ohne daß man einen Augenblick pädagogisch gelangweilt worden wäre. Mich hat ganz einfach gefreut, daß es möglich war, Ernst und Unterhaltung zu verbinden und diese Verbindung den ganzen Abend durchzuhalten – und das mit einem Publikum aus allen Schichten, die dort in Frieden und mit größter Anteilnahme zuhörten… Die vier Sternstunden siegten großartig über die übliche bundesdeutsche Fernsehunterhaltung am Samstagabend.“

Was ist aus alledem zu lernen? Welche Erkenntnisse resultieren aus diesen Erfahrungen in der Praxis der Gedenkarbeit? Können inszenierte Ereignisse (oder Events) zur Aufklärung oder zur Konkretisierung des Gedächtnisses und zum empathischen Gedenken beitragen – oder behindern sie einen angemessenen Zugang? Wird Nachdenklichkeit beeinträchtigt durch folgenlose Schaueffekte? Die Problematik von Balance und Kompromiß muß einen seiner sozialen Verantwortung bewußter Kulturmanager beschäftigen. Finatität, Maßstäbe und Perspektiven sind entscheidend für die Bewertung: ob das Vehikel unterhaltsamer Themengestaltung in bester Absicht eingesetzt werden darf, um am Ende doch nur Rudimente von Inhalten zu transportieren – eine Gratwanderung! Aber mahnende Worte in kleinen Kreisen bereits überzeugter Humanisten sind keine Alternative.

Das Problem ist nicht neu. Bei Bertolt Brecht ist vieles zu lesen über die List der Vernünftigen, über die Trojanischen Pferde der Agitation hinter den Mauern von Dummheit, Gedankenlosigkeit und Amüsierbedürfnis. Auch die Rituale der Religionen setzen auf emotionale Überwältigung. Werden Reue und Läuterung vergessen unter dem Eindruck von äußerlichem Prunk, musikalischer Harmonie und farbenreichen Bilderfluten – oder werden sie gerade auf diese raffinierte Weise bewirkt? Jedenfalls ist erst einmal ein volles Haus garantiert. Die Untersuchungen zur Rezeption und Nachwirkung der Holocaust-Fernsehserie konnten ebenfalls keine Annäherung der diametral unterschiedlichen Standpunkte herbeiführen. Wurde die Botschaft durch die Machart ruiniert oder verstärkend befördert? Zurück blieben nebeneinander unverbunden einerseits die Verdammung der trivialen Mittel und routinierten massentauglichen Dramaturgie- andererseits das Lob der Themenwahl und die Genugtuung über eine anhaltend in Gang gesetzte Debatte und die Implantation eines ungeheuerlichen Geschehens in das kollektive Gedächtnis, die auf andere Weise wohl kaum in solcher Breite zustande gekommen wäre. Das Weiterdenken solcher Strategien der Aufklärung und Vermittlung, die fortgesetzte Suche nach dem richtigen Verhältnis von Sinn und Form mit dem Ziel, die Wahrnehmung von Geschichte zu fördern, bleibt für uns ein vordringlicher Auftrag.

Nicht geringer als die Sorge um die richtige Vermittlung ist die Gefahr der Verdrängung auf vielfältige Weise. Das Holocaust-Gedenken wurde zur exemplarischen Form der historischen Erinnerung und ihrer Materialisierung. Das emotional gefärbte und bis zur religiösen Gestimmtheit aufgeladene Gedenken kann sich lösen von der genauen Kenntnis und Information der historischen Vorgänge, der Legendenbildung Vorschub leisten und es mit moralischen Evidenzen genug sein lassen – weshalb dem Stelenfeld ein unterirdischer Raum der Information hinzugefügt wurde. Ohne Empirie kein Gedenken! Auftrumpfende Abstraktion kann blockieren; jedem Denkmal wohnt eine Chiffre des erstarrten Vergessens inne; jedes kollektive Erinnern und Gedenken kann durch politische Belastung neutralisiert werden; jeder konkurrierende Nachvollzug geschichtlicher Ereignisse eines Volkes oder einer Nation ist eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit. Immer ist die Beschäftigung mit Geschichte nicht nur eine Dimension vergangener Wirklichkeiten, sondern darüber hinaus eine eminent politischer und kultureller Faktor, der Staatsziele legitimieren, Integration und Identität stiften soll – und das geschieht eben nicht nur durch getreue Widergabe, sondern durch interpretierende Wertung.

Diese Gefahren der Neutralisierung, Versteinerung, Verschleierung oder des Mißbrauches zu erkennen, ist das Fundament für würdiges Gedenken.

Ulrich Eckhardt, Manuskript zu einem Seminar im IKM Institut für Kultur- und Medienmanagemnet der Freien Universität