Bevölkerungsentwicklung und Stadtkultur für das
21. Jahrhundert (1998)
Wenn wir die Position der Institutionen, die sich mit fremden Kulturen befassen, reflektieren, stoßen wir unweigerlich auf zwei vernachlässigte Felder von Politik und Kultur. In der Politik mangelt es an demographischer Diagnose, in der Kultur fehlt eine substantielle Förderung der Ethnologie, des Austauschs mit dem Fremden und Anderen. In einem krassen Mißverhältnis stehen die Aufwendungen für repräsentative Nationalkultur einerseits und fremde Kulturen andererseits. Sie stehen im Verhältnis 100 : 1. Eklatante Beispiele für das Versagen sind die Abwicklung des Fachs Musikethnologie an den Berliner Universitäten, die Abschaffung des Internationalen Instituts für Traditionelle Musik. Und das Haus der Kulturen der Welt sowie die Werkstatt der Kulturen warten seit Jahren auf eine gesicherte Finanzierung, wie sie beim später gegründeten Deutschen Historischen Museum kurzerhand möglich war.
Migration und Bevölkerungsentwicklung
Der Rat für Migration hat im Herbst 1998 festgestellt: „Die Zuwanderung von Ausländern und Aussiedlern hat die Bundesrepublik Deutschland kulturell bereichert.“ Sie sei ein ökonomischer Gewinn. Denn der Schrumpfungs- und Alterungsprozeß der Bevölkerung werde verlangsamt. Zugleich weise aber die politische und soziale Integration der Zuwanderer in die Gesellschaft Deutschlands in zunehmendem Maße gravierende Defizite auf. Der Übergang vom bloßen Zuwanderungs- zum Einwanderungsland setze voraus, daß Fremde gleichberechtigte und willkommene Bürger werden können.
Die Bedeutung der Einwanderung für unser Staats- und Gemeinwesen ist nicht hinreichend im Bewußtsein der Bevölkerung und ihrer politischen Repräsentanten verankert. Demographische Analyse findet nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit statt. Politik und Politikberatung versäumen wichtige anstehende Pflichten. Anders ist nicht zu erklären, warum objektive Sachverhalte die Politik gegenüber Minderheiten und Zuwanderern so wenig bestimmen und daß stattdessen ideologische Grabenkämpfe ausgefochten werden. Eine vernünftige Einwanderungspolitik liegt im eigenen nationalen Interesse.
Die demographischen Grundlagen einer Gesellschaft sind labil, wenn der Wohlstand zum Verzicht auf hinreichende Nachkommenschaft führt. Indessen fördert der Staat geradezu solche Tugenden, die die Gründung und den Bestand von Familien erschweren. Daraus ergibt sich ein radikaler Umbau der Gesellschaft, was kaum zur Kenntnis genommen wird. Die demographische Entwicklung geht hin zur Einwanderungsgesellschaft. Deutschland ist bereits heute ein Einwanderungsland. Die jährlichen Zuwanderer sind zahlreicher als die jährlichen Geburten. Im Jahre 2015 wird z. B. in Berlin der Anteil ausländischer Jugendlicher bis zu 20 Jahren über 50 Prozent betragen.
Derzeit sind 7,3 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik einigermaßen in die Arbeits- und Lebenswelt eingegliedert, und das Bewußtsein dieser außerordentlichen Leistung sollte Teil deutscher Identität sein. Unser Land nimmt gegenwärtig die Hälfte aller Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge auf, die in die Europäische Union gelangen. Das ist eine gewaltige Anstrengung und ein großes soziales Experiment. Ebenso bewundernswert wie die Integrationskraft der deutschen Gesellschaft ist die Integrationsbereitschaft der Zuwanderer, die gesellschaftlichen und kulturellen Werte des sie aufnehmenden Landes zu akzeptieren und in ihr Leben aufzunehmen.
Begegnungen und Austausch mit fremden Kulturen
Die Integration von Emigranten, Assimilation unter Bewahrung der eigenen Traditionen muß das Ziel einer wohlverstandenen Kulturpolitik gegenüber Einwanderern sein. Es entstehen kulturell deutlich sichtbare und erlebbare hochinteressante Mischungen, wenn der Respekt vor dem anderen und vor dem hohen Wert fremder Traditionen gelebt wird.
Der Kultur kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu als geistige Orientierung, inhaltliche Gestaltung und Verarbeitung eines rasanten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Die daraus resultierenden Herausforderungen müssen im Interesse des inneren Friedens angenommen und bestanden werden, und das geht über ökonomische Fragen der Angleichung von Lebensumständen weit hinaus. Die kulturelle Komponente ist maßgebend als Perspektive gemeinsamer humaner Existenz.
Aus der Geschichte wissen wir, daß eine Fülle von Fähigkeiten, Geschicklichkeiten, Erfindungen und Entdeckungen den Zuwanderern zu verdanken ist, die aus anderen kulturellen Zusammenhängen kamen. Sie mußten sich über Innovationen die Anerkennung ihrer Umgebung in neuen Arbeitsfeldern erkämpfen.
Berlin als Musterbeispiel einer interkulturellen Stadt
Und damit kommen wir zu Berlin. Denn das machte Berlin aus, daß es aus der Vermischung von Kulturen und Traditionen neue Kräfte freisetzte, denken wir nur an die ostjüdischen Einwanderer und ihre Leistungen auf den Gebieten von Kultur und Wissenschaft, die überhaupt erst die kulturelle und ökonomische Blüte des Landes und der Stadt ermöglichte. Oder an den 350 Jahre alten Maulbeerbaum hinter der Friedrichstraße als Zeugnis der von französischen Glaubensflüchtlingen entwickelten Seidenfabrikation.
Aber Berlin war auch der Ort, von dem die Befehle zur Auslöschung von Juden und Sinti und Roma ausgingen. Krasser kann der Gegensatz nicht sein: Von Berlin aus wurde der vom Rassenwahn bestimmte Genozid von Minderheiten in ganz Europa organisiert, und dieselbe Stadt galt Jahrhunderte lang zuvor als Hort von Toleranz und Integration, ein Anziehungspunkt für Emigranten, die anderenorts vor Verfolgung fliehen mußten. Im kollektiven Gedächtnis haften beide Erfahrungen, und sie prägen Ansichten und Aufgaben von heute, da sich die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten und Emigranten wieder in besonderer Schärfe stellt. Wir müssen das Erbe der Stadt annehmen. Deutsche Politik muß sich orientieren an der historischen Reflexion der abgestürzten eigenen Geschichte, abgestürzt aus Rassenwahn und ideologischer Überheblichkeit.
Das jetzt viel größere Land muß über das normale Maß nationalen Selbstverständnisses hinaus Sensibilität im Umgang mit den Nachbarn und Rücksichtnahme auf die Umgebung einüben. Denn oft vergessen die Deutschen bei all ihrer Beschäftigung mit sich selbst, daß um sie herum noch viele kollektive Ängste, Sorgen, aber auch Erwartungen bestehen, die durch die materielle Not und globale ökonomische Verwerfungen noch verstärkt sind.
Berlin ist ein seismographischer Ort, wo diese Fragen, Ängste, Sorgen, Nöte und Erwartungen am frühesten zu spüren und am ehesten zu verstehen sind. Berlin muß und kann also aus Berufung und Pflicht, aus Befähigung und Erbschaft eine Modellstadt sein oder werden, weil Integration das Profil und die Bedeutung der Stadt ausmachte, weil spezifische Fähigkeiten über die Jahrhunderte erlernt sind, die jetzt aktualisiert werden können, weil dies aber auch die Attraktivität der Stadt wesentlich ausmacht und die neuen kulturellen Mischungen dazu beitragen, Erstarrungen aufzulösen. Selbstbewußter Nachwuchs von Emigranten gibt der Metropole ein neues Profil. Traditionelle Eigenarten verbinden sich aufregend kreativ und spannend mit einem kosmopolitischen Geist des Aufbruchs. Es ist etwas in Bewegung gekommen, das manches müde Gewordene hinwegfegt. Schließlich sind Öffnung und kosmopolitische Orientierung von entscheidender Bedeutung für die Republik, die von hier aus regiert wird.
Theodor Fontane hat den pfiffigen, witzigen Satz überliefert: „Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner.“ Richtig verstanden heißt dies wohl, daß es keiner besonderen Gabe bedarf, ein Berliner zu sein, daß dies vielmehr einem jeden zu jeder Zeit an jedem Ort passieren kann. Also jeder kann Berliner sein. Das ist reine Willenssache. Der Satz eignet sich als Schlüssel zum Umgang mit denjenigen, die freiwillig oder aus Not zu uns kommen. „Berlin bleibt Berlin“ – das stimmt ebenso wie „Berlin bleibt nicht Berlin“. Sicher ist aber richtig: „Berlin wird wieder Berlin“, eine offene Stadt, offen für Anderes und Fremdes, offen für Begegnung und Austausch, offen für Anregungen und Ansprüche, mithin eine veritable Metropole, die die bisherigen Konzepte sprengen wird.
Ulrich Eckhardt, Vortrag in der Werkstatt der Kulturen am 5. Oktober 1998
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