Nachforschungen am Prenzlauer Berg (1995)
U2: Senefelder Platz. 1892 – an der Schwelle zur neuen Zeit, setzte die kommende Zeitungs- und Verlagsmetropole Berlin dem Erfinder moderner Drucktechnik Alois Senefelder (1771-1834) ein pathetisches, allegorisch verziertes Denkmal mit Text in Spiegelschrift, obwohl der Prager Notenstecher niemals über die Main-Linie hinausgekommen war. Von hier aus gabeln sich zwei Ausfallstraßen. Die Bebauungspläne ließen wie so oft in der Stadt eine dreieckige Restfläche zurück. Hier beginnt ein magischer Bezirk, in dessen Inneren eine aufgelassene, verlorene Straße verläuft, Öffentliches Straßenland nach dem Kataster, entlang der Friedhofsmauer des 1827 angelegten jüdischen „Orts der ewigen Ruhe“, versteckt hinter den Gartenhäusern der gründerzeitlichen Miethäuser in der Kollwitzstraße, zugänglich nur von einer stets verschlossenen Hintertür des jüdischen Friedhofs, Judengang, Judenstraße oder Kommunikation genannt. Knaackstraße 40 am Kollwitzplatz: Das geflickte rostige Tor wird auf immer verriegelt sein, die Straße wird niemals mehr benutzt werden. Sie ist parzelliert in girlandenumsäumte, lampionbestückte Feierabendidyllen mit ausrangiertem Mobiliar zur friedlichen Nutzung an lauen Berliner Sommerabenden. Die Erhaltung der gemauerten Pforten und geschmiedeten Gartentörchen läßt noch den Respekt vor fremdem Areal erkennen.
Arnold Munter weiß, was es mit dem verwunschenen Weg auf sich hat. Er kennt sich hier aus, ist sonntags um 11 auf dem jüdischen Friedhof anzutreffen, der um diese Zeit für Besucher geschlossen ist, auf einer Führung des Prenzlauer Berg Kulturvereins. Der stille Ort im magischen Dreieck zwischen Schönhauser Allee, Kollwitz- und Knaackstraße hat nahezu 25.000 Gräbern unter Efeu, Ahorn, Linden und Kastanien, hell im Winter, dunkel im Sommer, ein lebendiges Geschichtsbuch über jüdisches Leben und Berliner Kultur, veranschaulicht in erhabenen, kostbaren Grabmälern. Und wieder ein Dreieck bilden die unter Blattwerk hügelig verschwundenen Gräber der Namenlosen aus dem Scheunenviertel. Es waren nicht immer so prächtige Kondukte wie für Giacomo Meyerbeer im Mai 1864. Meist waren jüdische Beerdigungen, die aus dem Scheunenviertel vom Schönhauser Tor heraufkamen, traurige Prozessionen, denen in großer Zahl die armen Schlucker und Schnorrer von der Mulackritze, Schendelgasse, Dragoner- und Grenadierstraße folgten. Kaiser und Hofadel, wenn sie auf der Prachtallee hinaus nach Pankow und Schloß Niederschönhausen kutschierten, wollten nicht durch dunkle, notleidende Gestalten gestört werden. So entstanden Hintereingang und Judengang.
Der gute Ort war früher eine Brauerei oder Meierei, noch finden sich die Reste von Zisternen auf dem Gelände. In einer der Zisternen, so wird überliefert, versteckten sich junge Deserteure in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945. Die Gestapo habe sie entdeckt und an den Friedhofsbäumen erhängt. („Den Tod anderer nicht zu wollen, das war ihr Tod“, ist auf einer Gedenktafel zu lesen.) Die letzten hier Begrabenen sind Vera Frankenberg, ein 1945 auf dem Friedhof von einer Granate tödlich getroffenes junges Mädchen, und Martha Liebermann. In Erwartung der Deportation gab sie sich 1943 den Tod. Sie wurde nach dem Krieg von Weißensee neben ihren 1935 verstorbenen Mann Max Liebermann hierher umgebettet.
Und Arnold Munter? Seine Geschichte beschreibt das Jahrhundert. Zeit- und Augenzeuge des faschistischen Straßenterrors am Bülowplatz, des Hungers und Elends der Inflationszeit, der Pogrome. Er überlebte das KZ Theresienstadt und war Baustadtrat im Magistrat, als das Berliner Stadtschloß gesprengt wurde, Sozialist zwischen SPD und SED, aktiv im Pankower „Runden Tisch“ und Hüter des „guten Orts“. Wie Hans Sahl schrieb: „Wir sind die Letzten, fragt uns aus“.
Ulrich Eckhardt, Textentwurf, 1995