Adieu Feuilleton

Kritik im Wandel (1998)

Feuilleton – dieses merkwürdige Wort, wie aus einer vergangenen Zeit in unsere Gegenwart verirrt – heißt kleines Heft, Beiblatt, Belehrungs- und Unterhaltungsteil einer Zeitung, Plau­derei und kommt von feuille, Blättchen, Splitter oder Schuppe. Zur Goethe-Zeit aus dem Französischen entlehnt, war es publizistisches Element intellektueller Aufklärung hin zur Mündigkeit des Einzelnen in seinem Urteil, in seiner Wahrnehmung der Welt, Bestandteil des Aufstiegs bürgerlicher Bildungs- und Kulturgesellschaft hinein in Teilhabe an den ererb­ten geistigen wie künstlerischen Gütern. Im klassizistischen Gebäude des abendländischen Kulturtempels markiert das Wort Feuilleton eine tragende Säule. Es bezeichnet eine ebenso spezifisch deutschsprachige Ausprägung kultureller Tätigkeit wie das weltweit einzigartige öffentliche Theater- und Orchestersystem.

Und wo ist es heute angekommen, wohin hat es sich entwickelt? Wie hat ein Mitspieler auf der Gegenseite der Kritik über mehr als 25 Jahre der Kohabitation den Wandel des Feuille­tons, seine Entwicklung vom Widerstand zur Anpassung erlebt? Schon das Wort wirkt heute für Jüngere gestrig und altmodisch. Vielleicht wird es bald niemand mehr richtig schreiben können: F-E-U-I-L-L-E. Doch noch hält es sich hartnäckig.

Das Pflichtblatt der Intelligenz, „Die Zeit“ aus Hamburg allwöchentlich, gab sich ein neues Outfit und widerstand nach ihrer Auffrischung der Versuchung, das Feuilleton in „Kultur“ umzubenennen, wie es beispielsweise der Berliner „Tagesspiegel“ aus demselben Konzern und mit demselben Zeitungsdesigner tat. Die „Berliner Zeitung“ beim zweiten Anlauf zur deutschen „Washington Post“ machte gar das Feuilleton zum zweiten Heft des Blatts noch vor der Wirtschaft und stopft es bis zum Platzen voll mit Themen und Texten weit über das Alltäglich Verträgliche hinaus.

„Kultur“ bedeutet vielerlei, heute eher Lifestyle in der Konsumgesellschaft; „Feuilleton“ hingegen ist präziser, auch wenn es sich gewandelt hat und die Reichweite seines Stoffes nicht selten über Gebühr ausdehnt.

Was ist geblieben? Was ist es noch, unser geliebtes und gehaßtes Feuilleton? Von der Auf­klärung kam es zur Dienstleistung, von der Instanz zum Service, von der Kritik zur Animati­on. Auch das kurze letztlich folgenlose revolutionäre Feuerwerk um die „Badische Zeitung“ nach der Entlassung ihres Feuilletonchefs verdeckt nicht, daß Zeitungen allgemein und ihr Feuilleton im Beson­deren in der Defensive sind. Die jüngeren Leser bleiben weg und bevorzugen sogenannte „Stadtmagazine“, die allerdings wesentliche Aufgaben des Feuilletons aufgegriffen haben und sich teilweise über Kultur definieren.

Zeitungsverleger und Herausgeber unternehmen hektische Versuche, der Abwanderung von Lesern durch Facelifting, Design, mehr Service, mehr Bilder, mehr Grafiken, ja gar durch mehr Weißflächen zu begegnen – eine postmoderne Strategie der Textverdrängung. Aber das Fossil Feuilleton konnte sich halten – wenn auch nicht selten nur als Aushän­geschild oder Feigenblatt.

Ein neues Phänomen, das die Wahrnehmung des Weltgeschehens drastisch verändern wird, ist das sogenannte Infotainment, absurdes Welttheater und Scheinrealität im Zwei-Minuten-Takt: keine Zeit mehr zum Nachdenken und zur gründlichen Reflexion. Und stattdessen beschleunigter Redefluß von Moderatoren. Der Leitartikler, ohnehin eine aussterbende Spezies, wird vom Art Director verdrängt. Das Feuilleton gerät zu­nehmend in das Räderwerk der Kulturindustrie und ihrer PR-Strategen.

Journalistenleben wird zum Opferleben, zum Martyrium zwischen den Fronten, zwischen Verleger und Leser, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zur Folgenlosigkeit verurteilt. Was mag noch dazu reizen, Journalist im Feuilleton zu sein? Da ist die angebliche Ver­führung zur angeblichen Macht, zum angeblichen Einfluß. Aber in der Kultur gilt nicht, was für den Politikjournalismus gelten mag. Kläglich scheiterten manche Versuche, über Kritik im Feuilleton Kulturpolitik zu machen. Was gilt es noch, das geschriebene Wort, das Urteil im Feuilleton? Ohne Zahlung von Honorar werden Zitate aus Kritiken entwendet, zur Pro­duktwerbung verwendet, selbst noch dort, wo im ganzen gelesen eine Empfehlung gewiß nicht gegeben war, eher das Gegenteil. Selbst der Verriß wird zur Werbung vereinnahmt. Hauptsache es steht im Blatt – egal wie die Bewertung ausfiel. Das ist geistige Neutralisierung.

Schwindender Einfluß des Feuilletons auf das Kulturleben wird auch erkennbar in dem Phä­nomen, daß – anders als noch vor Jahren – Nichtbeachtung im Feuilleton keineswegs dazu führt, daß eine kulturelle Veranstaltung nicht ihr Publikum fände. Vice versa führen jubeln­de, mehrstimmig gesungene gut begründete Zustimmungschöre nicht notwendig zu einem Publikumserfolg. Jüngstes Beispiel ist die Ausstellung „Deutschlandbilder“, deren Schwie­rigkeitsgrad trotz massiven Beifalls die erwarteten hohen Besucherzahlen behinderte. Junges Publi­kum ist präsent, wenn sein Lebensgefühl getroffen wird, unabhängig davon, ob die Kritik sich versagt. In manche Bereiche reicht das Feuilleton nicht mehr hinein.

Dem Zeitgeist gelingt es, anspruchsvolle Kritik abzuschleifen und ihres Stachels zu berau­ben. Das war nicht immer so. Es gab die große Zeit des Feuilletons in den 70er Jahren in der gemeinsamen Durchsetzung einer Kulturreform mit dem Ziel emanzipierter, gesellschaft­lich relevanter Kulturarbeit von der Basis bis zur Spitze. Das Bündnis hatte durchschlagen­den Erfolg im Zusammenspiel der Kräfte mit unterschiedlicher Rollenverteilung. Dann und wann funktioniert die Arbeitsteilung auch heute noch, zum Beispiel in Leipzig, wo die von Udo Zimmermann geleitete Oper im vollständigen Gegensatz zum allgemeinen Trend zeitge­nössisch orientiert ist. Der konzertierte Einsatz überregionaler und internationaler Presse stützt das Langzeitexperiment gegen manche Abstinenz des Publikums und mangelnde politische Unterstützung. Kommerzielle Aspekte, Gesichtspunkte des Marketings oder Kriterien von MC Kinsey liegen auf der Lauer, bleiben aber noch vor der Tür – und doch gewinnt die Stadt daraus großen Imagegewinn – ein Lehrstück. Kritik hilft also, Aufmerksamkeit herzustellen und einen kulturpolitischen Ansatz gegen Widerstände durchzusetzen – ein ermutigender Vorgang. Aber leider ein Einzelfall.

Ist das Feuilleton erschöpft? Hat es sich teilweise selbst abgeschafft? Ist es an den Rand ge­schrieben worden? Hat es sich überhoben? Dazu Anmerkungen in Stichworten: Nicht selten verletzen die Schreibenden ihre Chronistenpflicht, denn sie wollen zuviel im großen ganzen. Was hat Monica Lewinsky, die Praktikantin aus dem Weißen Haus, im Feuilleton zu suchen? Oder: Ambition in Ehren, aber die Unfähigkeit zur Kürze, die Eitelkeit der Pointen, der prätentiöse Bildungsnachweis in Besinnungsaufsätzen ohne Proportion, die Penetranz re­petierender Kampagnen, das alles legt sich wie Mehltau auf ein Feld der Vernunft. Feuille­ton ist eine stumpfe Waffe, und mangelnde Distanz zu Produzenten machen Urteile nicht si­cherer. Leidenschaft und Lust, auch Parteilichkeit mit sternklaren Argumenten sollten die Wege markieren. Kritik ist Liebe, aber diese Art der Zuwendung wird auf beiden Seiten oft verkannt, oft mißverstanden.

Aber genug der Kritik an der Kritik, gewiß überzogen und überpointiert. Wichtiger für die Einschätzung der Rolle des Feuilletons ist die Veränderung des geistigen Umfeldes, die Gel­tungskrise der Kultur, begleitet vom Versagen der Kulturpolitik. Der Kulturbegriff ist bis zur Unkenntlichkeit und bis zum Überdruß erweitert worden. Die Erscheinungsformen sind inflationär. Kommerzialisierung hat die Kultur weitgehend entmündigt.

Die Beziehungen zwischen Schaffenden, Nachschaffenden, Verteilenden, Urteilenden, Ma­nagern, Vermittlern und Agenturen wie Politikern haben sich entscheidend verändert. Die Streitkultur ist erlahmt. Das Bildungsideal ist geschwächt, das Fundament aus den Maßstä­ben, von denen Kritik herzuleiten ist, ging weitgehend verloren. So geht es dem Feuilleton wie der Kultur selbst. Alles wird in diesem verdammten Medien-Event-Zeitalter verein­nahmt. Kultur ohne Biß schafft sich selbst ab.

Was ist zu tun? Die Kritik im Feuilleton ist nach wie vor für das Kulturleben ein notwendi­ger spezifischer Akkumulator. Die diesen Beruf ausüben, spielen eine eigenständige, bedeutsame Rolle, wenn sie sie denn richtig erkennen. Grenzgänger sind meist erfolglos auf dem Weg vom Journalisten zum Regisseur, Dramaturgen oder Manager. Das beweist nur das je Eigene dieser Berufe. Die Kritikerleistung wird im allgemeinen unterschätzt. Sie ist Teil der kultu­rellen Verantwortlichkeit. Je entschiedener ein Kritiker seinen Beruf ausübt, desto mehr muß er mit Unterschätzung, gar Ablehnung, Geringschätzung, Unverständnis rechnen. Auszuhal­ten ist das nur, wenn man es in Rechnung stellt. Ein Beispiel ist der alljährlich anhaltende Streit um die Kritikerjury des Berliner Theatertreffens. Da meint jeder, er könne es besser, oder ein bestimmter Einzelner sei geeigneter als eine Gruppe aktiver Theaterkritiker, die sich im Streitgespräch auf dem Weg zu einem zutreffenden Gesamtbild aktueller deutsch­sprachiger Theaterleistungen macht.

Die Autonomie des Feuilletons bedarf ständiger Wachsamkeit gegen Mißbrauch zu politi­schen kulturfeindlichen Zwecken. Mißverstandene kritische Auseinandersetzung mit Institutio­nen oder Produktionen wird infam zur Evaluierung benutzt bis hin zur Abwicklung, zum Exitus.

Nur Distanz führt zur Instanz. Es schadet nicht und gehört zur notwendigen, Spannung er­zeugenden Entfernung, ähnlich der Gewaltenteilung in der staatlichen Verfassung, wenn sich Kritiker und Macher nicht verstehen, wenn es einen anscheinend unauflöslichen Gegensatz zwischen ihnen gibt. Jeder von Kritik Betroffene liest doch gleich am frühen Morgen das Feuilleton, auch wenn er es stets heftig und ostentativ bestreitet. Es ist nicht problematisch, wenn der Kritiker vice versa die spezifische Arbeitsleistung des Machers und seine Arbeits­bedingungen sehr oft sehr falsch einschätzt. Das gehört zur Rollenverteilung. Das fördert die Unabhängigkeit. Über allem steht jedoch der Dienst an der gemeinsamen Sache und der ge­meinschaftliche solidarische Widerstand gegen Verflachung und Verarmung von Maßstäben und Hervorbringungen. Notabene ist das Feuilleton auch wertvoller Rückzugsort für die heimatlos gewordene Gattung des literarischen Essays. Wie einst Jakob Knerz alias Ernst Bloch in der Frankfurter Zeitung zwischen 1928 und 1933.

Fazit: Wir brauchen das Feuilleton gerade jetzt zur Formulierung der Neu­definition öffentlicher Kunstförderung. Es lebe das Feuilleton im Widerstand gegen kollekti­ve Entmündigung. Adieu Feuilleton muß nicht Abschied heißen kann auch bedeuten: Schon morgen sehen wir uns wieder.

Ulrich Eckhardt, Festrede für den Verband Deutscher Kritiker am 1.3.1998 in Weimar