Friedrich Dieckmann und Ulrich Eckhardt im Gespräch mit Sven Ahnert (2002)
Gibt es, Herr Dieckmann und Herr Eckhardt, einen nationalen Kulturbegriff, der sowohl im geteilten wie auch im wiedervereinigten Deutschland Bestand hat?
FRIEDRICH DIECKMANN: Ich hatte vor ein paar Jahren einen Disput innerhalb des Goethe-Instituts, dessen Trägerverein ich angehöre; es stellte sich heraus, daß dort eine Sprachregelung zustande gekommen war, die den Begriff deutsche Kultur durch „Kultur in Deutschland“ ersetzte. In der Presse hatte sich Hilmar Hoffmann im Zusammenhang mit dem jugoslawischen Krieg dahingehend geäußert, daß man an diesen mörderischen Zerwürfnissen sehe, wie schädlich ein nationaler Kulturbegriff sei. Das fand ich ganz unstimmig; Krieg ist ja immer Widerruf und Gegenpol von Kultur, zu deren Begriff der friedliche Austausch, die Anregung durch das Andersartige substantiell gehört. Das zu erkennen und darauf zu bestehen, bedeutet aber keineswegs, die Bedeutung der eigenen Kultur gering zu schätzen oder gar ihren Begriff aufzugeben. Händel in England, Gluck in Paris – das waren Protagonisten deutscher Kultur innerhalb andersartiger, obschon vielfach verknüpfter Kultursphären; Anregung und Aneignung geschahen wechselseitig, aber sie führten nicht zur Aufhebung der korrespondierenden Individualitäten. Wenn Simon Rattle jetzt das Berliner Philharmonische Orchester leitet, dann tritt er als Brite in die deutsche Kultur ein; das ist sehr fruchtbar, aber es erfordert keine neuen Begriffe.
So erfreulich es ist, daß wir einen national gemischten Kulturbetrieb haben und die Mitglieder unserer Orchester, Opernhäuser, Theater aus vielen Ländern kommen – es wäre absurd, deswegen den Begriff der deutschen Kultur aufzugeben. Er hat sich in Zeiten politischer Teilung bewährt und bezeichnete, bei allen sich ausbildenden Verschiedenheiten, ein wirksam verknüpfendes Band – nicht nur in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, aber in dieser Zeit ganz besonders. Die Wirksamkeit einer geschichtlich verwurzelten und unter sehr verschiedenen Bedingungen produktiven Nationalkultur hat in diesen Jahrzehnten dazu beigetragen, wechselseitiger Entfremdung entgegenzuwirken.
Es gibt den Grundstock einer gemeinsamen Kulturüberlieferung, die angesichts der Amokläufe des deutschen Imperialismus zu verleugnen nur jenen Toren einfallen konnte, die sich in jeder geschichtlichen Lage einstellen, um sie zu verwirren. Daß es die Prüfung und Erweiterung dieses kulturellen Fundus galt, verstand sich im Osten des geteilten Landes von selbst, wo man an Schulen und Universitäten niemals auf den Gedanken kam, ihn mit dem Unsinnswort Kanon zu belegen, und ebensowenig, die Befassung mit Dichter-Biographien aus dem Deutsch-Unterricht auszumerzen. Es ging in der DDR nicht um Kanon, sondern um Kulturerbe. Ein Begriff, der zur kritischen Differenzierung einlud und sie implizierte, in einem selbst immer wieder kritisch zu befragenden Sinn.
So gibt es keinen ernsthaften Grund, auf den Begriff deutsche Kultur zu verzichten; sinnvoll gefaßt, ist er durchaus zentral. Daß die Lehrpläne der Schulen ihn vielerorts aufgegeben, banalisiert oder zurückgesetzt haben, muß für eine spezifisch westdeutsche Erscheinung gelten. Man kann von einer gezielten Unterminierung des nationalen Kulturbewußtseins sprechen, natürlich mit Unterschieden zwischen Bremen und Bayern. Der Hintergrund dafür war die nach 1945 ausgebliebene Generalrevision der gesellschaftlichen Machtverhältnisse – Kulturrevolution und Denationalisierung als Revolutionsersatz.
Ich sage Fundus und nicht Kanon und würde noch lieber von Spektrum reden. Versteht sich, daß dieses Spektrum auf schulischem Gebiet nach 1943 höchst revisionsbedürftig war. in den östlichen deutschen Ländern wurde diese Revision rasch und zielstrebig vollzogen, ohne daß die aus dem Exil oder den Gefängnissen kommenden Literaturdidaktiker, die diesem Prozeß vorstanden, auf den Gedanken gekommen wären, den Maßstab der Nationalliteratur aufzugeben. Anders im westlichen Deutschland, wo die Überprüfung zwei Jahrzehnte lang aufgehalten wurde; Heine kam. wie ich von Fachleuten höre, in dieser Zeit nur ausnahmsweise in den Lehrplänen vor. Die Folge war, daß man dann das Kind mit dem Bade ausschüttete und, anstatt den Fundus elastisch zu halten, den Deutschunterricht auf den Kopf stellte; die Befassung mit Autorenbiographien und literarischen Hauptepochen wurde für schlechthin unzeitgemäß erklärt. Diese Selbstamputation war umso unsinniger, als der Oppositionsdrang jeder jungen Generation ja von sich aus Gegenkräfte wider die Überbetonung des Klassischen, gar des Kanonischen entwickelt. Die Folgen der verordneten Horizontschrumpfung zeigen sich nun als Indifferenz und Ignoranz. Das ist schädlich auch und gerade unter den Auspizien der europäischen Vereinigung, die nur unter selbstbewußten Kulturnationen reifen kann.
ULRICH ECKHARDT: Mein Zugang ist ein völlig anderer. Ich komme einmal von dem nordwestdeutschen Rand, also Münsterland, holländische Grenze, und zum anderen vom südwestdeutschen Rand, nämlich Freiburg im Breisgau, das sind meine beiden Wurzeln. Es waren nicht so viele Leute, die sich in den 1950er Jahren für das interessierten, was sich in der DDR kulturell ereignete. Man interessierte sich mehr für sich und seinen jeweiligen Aufbau – in der DDR sicherlich eher zwangsweise. In der Bundesrepublik war es keineswegs Konsens, daß man sich darum kümmern mußte, was in der DDR vor sich ging. Aber diejenigen, die sich für diese kulturelle Klammer interessierten, die es da möglicherweise noch gab, gingen nach Berlin. Es waren eigentlich mehr politische Interessen, die die Ursache waren für das Interesse an der Kultur, einer möglichen Kulturklammer.
Wir waren nach dem Krieg in so eine Art historische Betäubungssituation gekommen. Ich habe die Existenz der DDR und auch den Aufbau von zwei Kulturen auch als eine Folge des Vorherigen verstanden. Im Grunde war es das Opfer, das man bringen mußte. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, durch meine vielen Kontakte in die DDR die Fahne einer gesamtdeutschen Kultur hochzuhalten. Das war nicht der Impuls, sondern mich interessierte gerade das Unterschiedliche. Mich interessierte vor allem auch, was an historischen Anknüpfungspunkten zur Zeit vor Hitler anders war als bei uns. In der DDR haben wir tatsächlich doch etwas erlebt wie Anknüpfungen an Künste und die Entwicklung der Künste in den 20er Jahren. Wohingegen man im Westen Deutschlands einen Schnitt machen und die Illusion eines Neubeginns praktizieren wollte. Sie, Friedrich Dieckmann, haben gerade erwähnt, was man aus den Lehrplänen strich. Man wollte sich gar nicht mehr mit dem aufhalten, was vorher war.
Ich hatte zunächst einmal mit der Teilung Deutschlands gar nicht das Problem, daß es mir Schmerz oder Trauer bereitet hätte, sondern sie war einfach eine Versuchsanordnung, die unglaublich spannend war und die man untersuchen wollte auf ihre historische Verwurzelung hin und auch auf ihre mögliche historische Perspektive. Es war allen klar, daß die Entwicklung dieser zwei kulturellen „Deutschländer“ nur eine Übergangszeit sein konnte. Das war nun im Grunde genommen eigentlich die Ursache, warum ich dann vom Rand in die Mitte wollte – Berlin war die Mitte, ich bin auch fest davon überzeugt, diese ganze Entwicklung hätte es nie gegeben, wenn tatsächlich Westberlin nicht existiert hätte. Das macht auch heute immer noch die Besonderheit Berlins aus, daß an keinem anderen Ort diese Auseinandersetzung mit Vergangenem oder was man hinter sich gelassen hat, und dem, was man nun dadurch noch vor sich hat, so intensiv geführt wird.
Was wußte die westdeutsche Gesellschaft von der ostdeutschen und umgekehrt, bzw.: Was wußten die künstlerisch interessierten Kreise von den jeweils anderen?
ULRICH ECKHARDT: Der Informationsfluß war unterschiedlich intensiv und dicht, je nach dem und von wo nach wo er floß. Es ist mir schon aufgefallen, daß man in der DDR sehr viel besser Bescheid wußte und auch sich mehr dafür interessierte, was sich im Westen ereignete. Das war im übrigen auch der Grund dafür, warum man nach Westberlin ging. Die Leute, die nach Westberlin gingen, die interessierte das.
Natürlich wissen Sie, Friedrich Dieckmann, sehr viel präziser, was diese Anknüpfung, diese historische Kontinuität angeht. Meine etwas gröbere Betrachtung sagt mir aber doch, es sah wirklich von uns aus so aus, daß sich die DDR viel mehr um Remigranten bemühte und die Leute zurückholte, die von Nazideutschland vertrieben worden waren. – Natürlich auch selektiv, wenn ich nur an diese Tragödie mit Walther Mehring denke, den ich versucht hatte, aus dem Züricher Exil nach Westberlin zu holen, und wie sich eigentlich kein Mensch dafür interessierte und er traurig wieder abfuhr und dann starb. Im übrigen war auch nach meinem Blick der Einfluß der sowjetischen Militäradministration ein hoch interessanter. Welche Leute waren das, die das Kulturleben in dem anderen Deutschland wieder aufzubauen versuchten? Die hatten durchaus auch im Sinn, eine Anknüpfung zu finden, an die Zeit, bevor die Zerstörung begonnen hatte. Das war schon für einen Außenstehenden ein bemerkenswerter Unterschied. Diese Sicht war im Grunde viel nationaler als die international orientierte westliche Gesellschaft. Die wollte von dem Nationalen gar nichts mehr wissen. Es ist auch nicht uninteressant, daß im Grundgesetz an keiner einzigen Stelle etwas über einen nationalen Staat gesagt wird, wohingegen die Verfassung der DDK das Nationale ausdrücklich betonte.
FRIEDRICH DIECKMANN: Der Nationalbezug – ich rede ungern von Identität, der Begriff gehört eher in die Mathematik und die Philosophie – ist den Jungen und Jüngeren in Westdeutschland zugefallen durch geschichtliche Begebenheiten, an denen sie, zum Unterschied von ihren Altersgenossen im östlichen Deutschland, 1990 nur als entfernte Zuschauer Anteil hatten; sie haben diesen Bezug nun und müssen ihn für sich nutzbar machen. Sie sind in einer unvergleichlich günstigeren Lage als die Nachkriegsgenerationen; das vereinigte Deutschland ist ihnen zugefallen als ein Land, das zum ersten Mal in der deutschen Geschichten ganz und gar von befreundet-verbündeten oder freundschaftlich-neutralen Staaten umgeben ist. Das ist für diese generatio felix, die sich den treffenden Namen Golf-Generation gegeben hat, das Vorgegebene – ein Geschenk der Geschichte. Aber natürlich: auch der Mangel an Lasten kann eine Last bedeuten; jedenfalls hat man ihm standzuhalten.
Herr Dieckmann, Sie haben vorhin leicht mit dem Kopf geschüttelt, als Herr Eckhardt seine Beobachtung über Anknüpfungen in der DDR-Kultur schilderte?
FRIEDRICH DIECKMANN: Ich hatte keinen Widerspruch anzumelden zu dem, was Herr Eckhardt gesagt hat, es ist nur ein anderer Blickwinkel auf dieselbe Situation. Die Sache mit den zwanziger Jahren ist insofern komplizierter, als nach 1945 erst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR eine markante, geradezu emphatische Abkehr von den zwanziger Jahren herrschte. Auch Brecht konnte nicht dort anknüpfen, wo er 1932 aufgehört hatte. Das konnte keiner, und nicht nur, weil das damals gegebene Niveau verloren und verschüttet war, sondern vor allem, weil die künstlerisch so produktiven zwanziger Jahre in Gestalt des politischen Rückschlags, in den sie ausgingen, umfassend gescheitert waren. Hier herrschen komplizierte Wechselbeziehungen; Stalins Politik wie in gewissem Umfang auch die Hitlersche (Dahrendorf hat das früh beschrieben) trugen ja Züge einer rabiaten Modernisierung, die von einer dem Geschmack der Massen und den Bedürfnissen der Propaganda entsprechenden Kulturpolitik flankiert wurde; eins hatte mit dem andern zu tun. So auch, auf eigene Weise, in der DDR: Die Modernität einer egalitären Gesellschaftspolitik korrelierte mit dem Konservatismus der Kulturpolitik. Die Kunst sollte volksnah sein, Avantgardismus war als Formalismus verpönt. In der Weimarer Republik war es umgekehrt gewesen: viel kultureller Avantgardismus bei weitgehendem Festhalten an veralteten politischen und sozialen Strukturen. Die Avantgarde hatte den Kontakt zur Armee verloren, so daß die derriere garde die Führung an sich riß.
Brechts
„Mutter“-Inszenierung von 1950, mit einem vom Politbüro gegründeten
Staatstheater-Ensemble ins Werk gesetzt, hatte denselben Text, aber eine ganz
andere, ins Realistisch-Gelassene gerückte künstlerische Gestalt als die
agitatorisch-direkte der Uraufführung von 1932, und diese andersartige
Auffassung war weder Zugeständnis noch Rückschritt, sondern das Ergebnis der
Geschichte, ein Vorgang der Reifung angesichts völlig veränderter
Rahmenbedingungen.
Ein für die zwanziger Jahre so signifikantes Stück wie die „Dreigroschenoper“
konnte erst 1960 am Berliner Ensemble wieder gespielt werden, gegen lebhafte
Widerstände von außen, und die großartige Inszenierung, die Erich Engel und
sein Bühnenbildner von Appen zustande brachten, versetzte die Szene mit
realistisch-dialektischen Mitteln in die Welt des viktorianischen Englands. Das
war auch insofern zwingend, als das Personal dieser Gesellschaftssatire in der
radikal modernisierten DDR ins völlig Historische entrückt war.
Durch die Rückkehr zahlreicher Emigranten verfügte die DDR über bedeutende Kräfte, die in jener Epoche angetreten und von ihr geprägt gewesen waren, aber alle hatten ihre Avantgarde-Jugend hinter sich gelassen und waren in Ost oder West durch schwerwiegende persönliche wie politische Erfahrungen hindurchgegangen. Natürlich war ihre Präsenz überaus wichtig; sie verschafften dem Land, das sie heimgerufen hatte, einen deutlichen geistigen Vorsprung vor seinem restaurativ versperrten westlichen Nachbarn. Sie haben, lieber Herr Eckhardt, sehr mit Recht auf die Rolle der sowjetischen Kulturoffiziere bei diesen Rückberufungen hingewiesen; das waren Leute mit großer Sachkenntnis und Einsatzbereitschaft, Germanisten zumeist, vielfach jüdischer Herkunft. Sie betrieben in der Sowjetischen Besatzungszone eine Kulturpolitik, die sie im eigenen Land den Kopf gekostet hätte. Stephan Hermlin erzählte einmal von dem Abschiedsempfang, den er und ein paar Freunde Alexander Dymschitz, dem leitenden Berliner Kulturoffizier, gegeben hatten, als dieser nach der Gründung der DDR in die Sowjetunion zurückging. Alle waren voller Sorge gewesen, daß Dymschitz verhaftet würde, wenn er wieder in Stalins unmittelbaren Machtbereich einträte.
Mut und Kennerschaft dieser Leute waren das eine, das andere war die gesamtdeutsche Orientierung der sowjetischen Deutschlandpolitik; sie war die Voraussetzung für die Berufung so vieler eigenständiger Köpfe aus der Westemigration. Die Wiedereroberung der Avantgarde-Kunst der Weimarer Republik hat sich erst in den sechziger Jahren vollzogen, gegen vielfachen Widerstand nicht nur bei den Älteren, den Dogmatikern. Der nach Ulbrichts Sturz voll ausbrechende Konflikt zwischen Peter Hacks und Heiner Müller betraf auch den Umgang mit dem Erbe der zwanziger Jahre. Das Ringen der Jungen um die Durchsetzung der eigenen Form, des eigenen Blicks verband sich mit der Berufung auf die Avantgarde von einst, auch die des Sturm und Drang und der Romantik; Jugend orientiert sich immer an den Jugendbewegungen von einst. Alles dies vollzog sich auf einem Feld kulturellen Austauschs mit einem nach links rückenden Westdeutschland, das durch die Berliner Grenzschließung stark behindert, aber nicht völlig blockiert war. Eine besondere Rolle spielten die Dritten Programme der westdeutschen und Westberliner Rundfunkanstalten. Und übers Fernsehen kamen wichtige Informationen über das westdeutsche Theater, das bei den Jungen die Brechtsehe Ästhetik, einschließlich deren politischer Haltung, umfassend aufgenommen und weitergeführt hatte. Auch einige Verlage taten in späterer Zeit, im Rahmen sich allmählich und unter Kämpfen erweiternder Möglichkeiten, das Ihrige – und natürlich die reisenden Rentner. Als allerdings die Evangelische Akademie in Berlin-Weißensee Mitte der sechziger Jahre anfing, Autoren aus Ost und West zu öffentlichen Lesungen einzuladen, wurde es der SED bald zu viel und sie schritt ein, was ihr verwehrt war, als in den siebziger Jahren die westdeutsche Vertretung entsprechende Aktivitäten entfaltete. In den achtziger Jahren gab es dann sogar ein Kulturabkommen, das sich nicht, wie von vielen befürchtet, als Instrument der Restriktion entpuppte, sondern ernstgemeint war, als Instrument einer sich allmählich auf die kulturellen Realitäten einstellenden Annäherungspolitik.
Was unterscheidet Künstler in der DDR von Künstlern aus Westberlin und der Bundesrepublik Deutschland?
ULRICH ECKHARDT: Als ich Maler oder Bildhauer aus der DDR kennenlernte, fiel mir auf, daß die immer in ihrer Biographie vorher einen Beruf hatten. Die seltsamsten Berufe. Sie waren teilweise nicht entfernt von der künstlerischen Arbeit, aber sie lagen meistens im angewandten Bereich. Das fand ich eine bemerkenswerte Sache, die bis heute auch noch wirksam ist. Die handwerkliche Komponente des Künstlerseins hat in der DDR eine große Rolle gespielt. Das hat mit Ideologie überhaupt nichts zu tun. Das hat einmal damit zu tun, daß die Künstler, ehe sie studieren durften, irgend etwas tun mußten, in einer Fabrik, in einer Werkstatt oder in einer Manufaktur. Im übrigen gab es auch eine Auslese, zugunsten solcher Menschen, die nicht aus Häusern kamen, wo das Gang und Gäbe ist, Künstler oder Intellektueller zu werden. Es wäre einmal interessant, die bedeutenderen bildenden Künstler der DDR biographisch daraufhin anzusehen, aus welchen Familien sie stammen. Es sind im Osten überwiegend soziale Schichten, die im Westen keine Künstler hervorgebracht haben. Und sie haben alle mal mit ihren Händen etwas getan, was sie auch in die Nähe der arbeitenden Menschen brachte.
FRIEDRICH DIECKMANN: Das trifft nicht nur auf die bildenden Künstler zu, sondern auch auf die Schriftsteller. Auch dort waren die meisten in einem praktischen Beruf tätig gewesen, ehe sie zur Literatur übergingen; eine bestimmte Lebensnähe war von daher vorgegeben. Entsprechend groß war die Bedeutung, die das Leipziger Literaturinstitut für die junge Generation gewann; viele Autoren, die aus praktischen Berufen kamen, konnten dort wiederum praxisorientiert – auf poetische Praxis hin – Literatur studieren.
In den fünfziger
Jahren war die Rolle der Arbeiter- und Bauernfakultäten für den literarischen
Nachwuchs erheblich; sie ermöglichten jungen, begabten Leuten, die eine Lehre
hinter sich hatten und in Betrieben arbeiteten, den Zugang zum
Hochschulstudium. Der systematischen Förderung von Jugendlichen aus den ehemals
unterprivilegierten Schichten stand die ebenso systematische Behinderung von
Kindern aus bürgerlichem Hause beim Zugang zu Oberschule und Studium gegenüber,
die vielfach zur Abwanderung der Betroffenen in den Westen führte.
In Westdeutschland, wo viele Reformen der DDR auf dem Polster eines stupenden
wirtschaftlichen Wiederaufbaus mit evolutionärer Gelassenheit im Abstand von
fünfzehn bis zwanzig Jahren nachgeholt wurden, hat man das Problem später durch
drastische Erweiterung der Hochschulkapazitäten gelöst, unbekümmert um das
Entstehen eines akademischen Proletariats.
Welche Rolle spielte Gesamtberlin für deutsch-deutsche Kulturtransfers?
ULRICH ECKHARDT: Ich habe früh schon angefangen, die DDR zu den Berliner Festspielen zu holen. Deshalb bin ich oft nach Ost-Berlin gefahren. Ich hatte allerdings auch von der Westseite ein Kontaktverbot. Diese Abgrenzung gab es nicht nur vom Osten. Nicht nur mein Kollege Lippert von den Festtagen hatte ein Kontaktverbot, sondern ich eigentlich auch. Nur: Es hat mich nicht interessiert. Also fuhr ich in die DDR und sagte, ich bin der Geschäftsführer einer GmbH und möchte hier einkaufen. Die sagten: „Sie sind verrückt: Sie sind doch ein Teil der Bundespräsenz. Mit Ihnen wollen wir nichts zu tun haben.“ Ich betonte so lange immer wieder, „ich bin der Geschäftsführer einer GmbH und will hier einkaufen“, bis die es endlich begriffen. Nur über diese ganz materialistische Ebene konnten etliche Dialog zustande gebracht werden.
Muß man im Zusammenhang mit einer West- und Ostkultur nicht auch von Verlusten sprechen, von vielleicht höchst dramatischen?
ULRICH ECKHARDT: Es verstummten auch Leute, deren Sprache uns nach wie vor wichtig wäre. Da sind wir bei einem ganz trüben Kapitel, nämlich die Überwältigung vom Westen her, was die Organisation des Kulturlebens betrifft. Nur in Ausnahmen haben in der DDR studierte und gelernte Leute Leitungsfunktionen übernommen. Und es ist auch immer noch so, daß in den informellen Gruppierungen, von denen eine Gesellschaft auch lebt, die Dominanz der westlichen Leute übermächtig ist. Bis heute ist man nicht bereit, sich auf die Suche zu machen nach entsprechenden Gesprächspartnern. Daß man noch immer unter sich bleibt.
FRIEDRICH DIECKMANN: Bei einem Umbruch wie dem, der 1990 binnen kurzem nicht nur den Staat, sondern auch Ökonomie und Gesellschaft aus den Angeln hob, hat, trotz des Substanzerhaltungs-Artikels im Einigungsvertrag, auch die Kultur Verluste hinnehmen müssen; zu ihrem Ausdruck wurden die Bücherhalden, die das zentrale Auslieferungslager der DDR damals auf die Felder kippte. Pfarrer Weskott hat einiges davon retten können; was vernichtet wurde, war vor allem die von Zensurbanden befreite, gleichsam entfesselte Buchproduktion der ersten Monate des Jahres 1990. Die Irritation ging damals so weit, daß westdeutsche Literaturhistoriker, die viel über DDR-Literatur veröffentlicht hatten, daran zu zweifeln begannen, ob in diesem Land relevante Literatur überhaupt entstanden sei; wo solche Zweifel, die projizierte Selbstzweifel waren, vermieden wurden, kam es zu Fehlschlüssen wie dem, daß die in der DDR entstandene Literatur schlechthin aus der Perspektive des Tragischen zu fassen sei, während es Witz, Heiterkeit, Lachen nur im Westen gegeben habe. Also ein Verlust an Wirklichkeitssinn, an realistischer Perspektive, der andere Verluste nach sich zog.
Die Bundeshauptstadt steht vor der Pleite, nur Kultur und Künste sorgen noch für nennenswerten Profit für Bewegung und Ansehen. Was bedeutet das für die Zukunft?
FRIEDRICH DIECKMAN: Staat und Kunst haben es nicht leicht miteinander. Einerseits völlige Liberalität im Bereich künstlerischer Formen und Inhalte und andererseits eine hochgradige Abhängigkeit betreffs der pekuniären Mittel – man muß, um keine unfruchtbaren Klagelieder anzustimmen, die hier waltende Paradoxie erkennen. Es war ein Vorzug der Kunst alter Zeiten, daß sie sich in den Dienst herrschender Mächte und Verhältnisse stellen konnte, ohne ihren Charakter als Kunst dabei zu verlieren. Im Gegenteil: die Voraussetzung des Dienstes gab ihr ein spezifisches Maß an künstlerischer Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit. Dies auch insofern, als man den Dienst unter Umständen wechseln konnte. Wo die Stadt versagte, gab womöglich ein Fürstenhof erwünschten Rückhalt, und war die Anstellung bei einem Provinzpotentaten zum Hindernis geworden, so konnte man es – das war Mozarts Fall – beim Kaiser versuchen und kam dann womöglich dahin, die Hofoper mit Kompositionen aufzumischen, die Partei für dessen waghalsige Reformpolitik nahmen. Noch Brecht hat so, im Reich des proletarischen Absolutismus, in völliger künstlerischer Souveränität (die ist etwas anderes als Autonomie) Theater für eine sozialistische Reformpolitik gemacht. Diese spannungsgeladene Beziehung zwischen Dienst und Freiheit, Kunst und Politik ist von einem Autonomiebegriff abgelöst worden, in dessen Wesen es liegt, daß die Kunst völlig auf sich gestellt ist, ihrem Eigen-Sinn rettungslos ausgeliefert. Daß sie dazu öffentliche oder private Subventionen anfordert, ist einerseits verständlich, andererseits führt es in ein Dilemma; daß die Forderung erfüllt wird, mag mit dem schlechten Gewissen zu tun haben, das die andern Partikularsysteme gegenüber dem versagten und verfehlten Ganzen haben. Denn auch sie – politische wie ökonomische Mächte – haben sich ja in eine parasitäre Schein-Autonomie verkapselt; die Kunst erpreßt sie gleichsam damit, daß auch sie, als ein anderes l’art pour l’art, vor allem an sich selbst denken.
Die Zeit für den Übermut selbstverliebter Alleingänge scheint auf beiden Seiten vorbei zu sein – und wir wollen den Autismus der Gewerkschaften im Umgang mit einem bis über den Hals verschuldeten Gemeinwesen als die dritte Seite keineswegs vergessen: Dieses Abpressen von Tariferhöhungen, die der gemeinnützige Arbeitgeber nur mit uneinholbaren Bankkrediten bezahlen kann, die er vielfach bei denen aufnimmt, die Nutznießer der Operation sind. Wir haben es mit einer Lage zu tun, in der hochorganisierte (und zugleich miteinander verzahnte) Gruppeninteressen – und die der Kapitalinhaber sind natürlich immer noch mächtiger als die der Lohnabhängigen, die auch nicht von Pappe sind – das gesellschaftliche Ganze aufzureiben drohen. Was dann passiert, nämlich politisch passiert, ist nicht abzusehen. Werden die deutschen Südstaaten sich dann von den nördlichen separieren und diese wiederum in einen östlichen und einen westlichen Teil zerfallen? Welcher Art werden die Charismatiker sein, die dann die Idee des Ganzen vertreten? Gerade im Blick auf die Zukunft gilt es, das große Erbe der Nationalkultur mit Intensität und Bewußtsein zu durchdringen. Übrigens ist das ein Punkt, wo Walser und Reich-Ranicki an demselben Glockenseil ziehen; so schwer es der letztere, ähnlich wie sein Lehrmeister Lukács, mit der Gegenwartsliteratur hat, so groß sind seine Verdienste um das literarische Erbe. Diesem Kulturerbe einerseits ins Beliebige auszuweichen und es andererseits als Standortfaktor zu verramschen – auch das heißt Schulden bei der Zukunft aufzuhäufen.
Das Gespräch wurde moderiert von Sven Ahnert
Aus: Kunst & Kultur, Kulturpolitische Zeitschrift, Nr. 7, Nov. 2002