Kultur im Wandel

Ansichten und Visionen einer Kulturmetropole (1993)

Foto Hermann Willers

In diesen Zeiten eines grundstürzenden gesellschaftlichen Wandels infolge des Zusammenbruchs politischer und staatlicher Ordnungssysteme ist es die Aufgabe kultureller Vermittlung, durch historische Erinnerung und durch Zukunftsentwürfe zur Orientierung beizutragen. Die Zeitmaschine stürzt auf die Jahrtausendwende zu; wie sich in den kommenden Schicksalsjahren die Konversion vollzieht, wird über universelle Fragen der Existenz entscheiden. Nicht mehr unvorstellbar sind Rückfälle in überwunden geglaubte vorzivilisatorische kollektive Verhaltensweisen. Im Osten stehen die Pulverfässer mit ökologischen, atomaren, aber auch nationalistischen und fundamentalistischen Sprengstoffen.

Werkstatt der Erinnerung, des Wandels und der Vermittlung

Berlin als seismographische Stadt, die das Schicksal des 20. Jahrhunderts vertritt, wird eine Schlüsselrolle innehaben. Denn in dieser Topographie des Jahrhunderts kreuzen sich die Linien und sind aus historischen Erfahrungen die Kräfte der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Befindlichkeiten zu erlernen. Berlin hat in reichen und schweren Zeiten die Techniken und Instrumente des Übergangs erprobt. Wie in einer Versuchsanordnung repräsentiert die gegenwärtige reale Situation der Stadt die mentalen Trennungen und gesellschaftlichen Divergenzen in Europa. Der experimentelle Charakter der Stadt war bislang eher eine Behauptung; jetzt ist die Hauptstadt eine Werkstatt der Erinnerung, des Wandels und der Vermittlung. Nur vordergründig geht es bei der olympischen Kandidatur um Sport und Spektakel: Die instinktive Gewißheit, daß Auftrag und Ausstattung nicht übereinstimmen, macht verstärkte Anstrengungen nötig, eine ungeliebte Hauptstadt aus Vernunft zu beschleunigen. Denn es ist nicht länger nur eine nationale Frage, wie die Kapitale des größeren Landes innerhalb Europas beschaffen ist. Eine wirtschaftliche und soziale Krise im Inneren ist gleichzeitig mit den katastrophischen Umstürzen im Osten eingetreten. Das erschwert Partnerschaft und Nachbarschaftshilfe, weil der Egoismus nicht nur ein individuelles Problem des Menschen ist.

Neue gesellschaftliche Rolle von Kulturarbeit

Arbeit ist das wichtigste Band zwischen Mensch und Welt, für die zwischenmenschlichen Beziehungen; Arbeit definiert die Stelle der Person in der Gesellschaft. Fähigkeiten entwickeln sich, Träume und Phantasie materialisieren sich in der Arbeit, Welt wird in Arbeit erfahrbar. Zwar soll Arbeit den Menschen nicht total besetzen; aber ganz ohne Werktätigkeit (= Tätigkeit am Werk) reißt das Band zur Realität. Der gesellschaftliche Wandel in Westeuropa wird durch den Wegfall von Arbeit in massivem Ausmaß auf Grund von Änderungen der Produktionsbedingungen herbeigeführt. Die Abschaffung physischer Überforderung mag als zivilisatorischer, humaner Fortschritt gelten; indes hat Massenarbeitslosigkeit die Aufhebung des Bezugs zwischen physischem Erleben und psychischer Leistung zur Folge. Wenn nun Massenarbeitslosigkeit auch in den Gesellschaften des Ostens auftritt, so hat sie dort weit verheerendere Folgen, weil die Menschen durch nichts darauf vorbereitet sind und bisher in der beruhigenden Gewißheit lebten, daß der Staat im Recht auf Arbeit seine höchste Priorität sah. In der heute als unproduktiv eingeschätzten Überbesetzung mit Personal in den östlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen – in Industrieproduktion, im Bildungswesen, in Sozialeinrichtungen und Kulturinstitutionen – konnte eine theoretische Weisheit als Vorwegnahme einer Utopie gesehen werden, die aber schließlich unter den ökonomischen Zwängen im Staatskonkurs durch öffentliche Überschuldung zusammenbrechen mußte. Eine andere Art von Arbeit zur Kompensation der seelischen Schäden, damit der soziale Frieden gerettet wird, kann in der kulturellen Eigentätigkeit in Form handwerklicher oder künstlerischer Selbstverwirklichung gesehen werden. Im tiefsten Fall von Politik und Wirtschaft könnten, wenn man sie denn ließe, die Instrumente der Kultur den Blick wieder nach oben lenken. Kulturarbeit in diesem Sinne findet eine neue und wichtigere gesellschaftliche Rolle; sie dient nicht länger nur der Verschönerung des Feierabends, der Entspannung und Unterhaltung (auch diese Funktionen bleiben selbstverständlich in Teilen erhalten), sondern wird zur Brücke in die Zukunft, zur Bewußtmachung, erfüllt das Leben mit Sinn, gibt Halt im schwankenden Gelände. Selbstachtung, Zeitempfinden und Wahrnehmungsfähigkeit für den Wandel sichern die Position des Individuums im Gemeinwesen. Frustration und Langeweile hingegen machen den Einzelnen zur leichten Beute ideologischer oder kommerzieller Verführer in Sekten, faschistoiden Zirkeln, okkulten Gruppen, ethnischen und rassistischen Kreisen. Hoffnungslosigkeit und Entwurzelung schaffen den Nährboden für Apathie oder Brutalität. Diese gefährlichen, auch im Westen vorhandenen Prozesse, gewinnen im Osten schon deswegen tragische Dimensionen, weil sie mit unerwarteter Plötzlichkeit und ohne jede Vorbereitung durch mentale Erziehung und bei fehlenden ausgleichenden Angeboten eintreten. Sie sind außerdem verbunden mit bitteren materiellen Notlagen. Das Gemisch hat krasse Formen der Ausbeutung und Selbstzerstörung zur Folge. In bislang unvorstellbarem Ausmaß und ohne jede Vorsorge zeichnen sich gesellschaftliche Umwälzungen ab, und es beginnt die Einsicht zu dämmern, daß zukünftig die Kriterien der Rationalisierung und Produktivität als Kriterien ökonomischer Ordnung werden abdanken müssen. All das geschieht hautnah unmittelbar vor den Toren Berlins. Wegsehen oder Verdrängen sind nicht mehr möglich.

Verstehen und Überbrücken von Gräben

Auf den Nägeln brennen die Probleme im eigenen Land nach staatlichem Zusammenschluß der in 40 Jahren unterschiedlich entwickelten Gesellschaften. Die Verwerfungen unserer Tage – aus gebrochenen Biographien, aus der Entwertung persönlicher Lebensleistungen, aus Skrupeln gegenüber eigener früherer Anpassung an herrschende Verhältnisse, aus der Umwertung bisher gültiger Normen, aus enttäuschten Idealen – können nicht daran hindern, repressiven Umständen abgetrotzte Leistungen aufzubewahren und zu würdigen. Die Erinnerung an Leiden und Erfolge darf nicht abgeschafft werden. Eine politische und ökonomische Überlegenheit gibt noch lange nicht das Recht, andere geistige, ästhetische, kulturelle Entwicklungen abzuurteilen und abzuwerten. Trotz vielfach deprimierender Verhältnisse wurden von Einzelnen Kunstwerke geschaffen, die legitime Positionen vertreten und ihre eigene Würde und Identität bewahren. Das hat nichts mit DDR-Nostalgie zu tun, sondern bezieht sich auf die verfassungsmäßig garantierte Würde des einzelnen Menschen, seine Freiheit und innere Autonomie als Maßstab für alle gesellschaftliche Ordnung. Verstehen und Überbrücken von Gräben setzen Wissen voraus, was das Aufbewahren von Fakten und Material einbezieht. Ein derzeit gebrochenes Selbstverständnis und die Scheu vor dem Bekenntnis sind ungünstige Voraussetzungen für die Entfaltung des notwendigen Dialogs. Keineswegs erfahren diejenigen Künstler Genugtuung, Wertschätzung oder Entschädigung für erlittenes Unrecht, die in der inneren Emigration oder im subversiven Widerstand gearbeitet haben. Jetzt prägt der Markt die Gesetze der Verteilung. Die Kriterien sind durcheinandergeraten; aber in der lange erlernten Kraft der Geduld liegt eine Hoffnung. Die Problematik zwischen Macht und Kunst kann gerade in Deutschland auf Grund seiner Geschichte nicht unbekannt sein: Auch vertretbare, legitime, historisch und biographisch fundierte ästhetische und inhaltliche Positionen können von den Instanzen des Staates oder einer Staatspartei mißbräuchlich in Dienst genommen werden. In jedem einzelnen Fall muß präzise nachgefragt werden, ob dadurch das Kunstwerk selbst an Qualität oder Glaubwürdigkeit einbüßte. Persönliche Überzeugungen verändern nicht den Rang des Geschaffenen. Es darf nicht verdrängt werden, innerhalb welcher Zusammenhänge und täglicher Geschehnisse Künstler gearbeitet haben. Zu erlernen ist die Kunst der Differenzierung. So zweifelhaft das pathetische Gerede von der Einheit der Nation zuvor war, so unfruchtbar wäre es jetzt, alle Verschiedenheiten einzuebnen und ein westdeutsch determiniertes Beurteilungsraster über das ganze Land zu legen.

Kulturelle Gegensätze machen den Reichtum des Landes aus

Geduldiges Lernen und genaues Hinsehen sind nötig. Zusammenwachsen heißt nicht einebnen und verschmelzen, bis alles Gewesene und für wenigstens zwei Generationen Prägende verwischt und verloren ist. Es soll in Deutschland unterschiedliche Kulturregionen verschiedenen Charakters geben – so wie die Alleen von Straßenbäumen, die im Norden des Westens dem Autoverkehr geopfert wurden, im Norden des Ostens erhalten bleiben. Kulturelle Gegensätze, aus unterschiedlichen Traditionslinien gespeist, machen den Reichtum des Landes aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es die gemeinsame Ausgangslage; aber es entwickelten sich – nicht nur staatlich verordnet oder parteipolitisch reglementiert – divergierende, manchmal auch konvergierende Abläufe über Jahrzehnte, die auch nach dem staatlichen Zusammenbruch und Zusammenschluß noch lange anwesend bleiben und das Leben bis in die entfernten Winkel hinein prägen. In Berlin – wie an keinem anderen Ort – sind diese Fragen der Zeit aktuell. Zwischen der Weststadt und der Oststadt bestehen trotz Einheit die kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Trennungen, bis hin in die alltäglichen Lebensweisen und Umwelteinflüsse. Die Kunst der Differenzierung, die Kunst der Vermittlung im Wandel werden hier im praktischen Zusammenleben erprobt – auf dem Hintergrund der auf Schritt und Tritt anzutreffenden historischen Relikte. Die Stadt ist geprägt von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Wer hier lebt oder hierher reist, versteht besser, woher er kommt, wohin er geht. Sie ist Fluchtpunkt für Menschen aus dem Osten, die Hilfe und Orientierung suchen. Es gehört zur Berufung und zu den besten Traditionen der Stadt, den Blick nach Osten offen zu halten und in westliche Richtung verstehbar zu machen, was in Mitteleuropa vor sich geht.

Ulrich Eckhardt, Berlin – offene Stadt, Ansichten und Visionen einer Kulturmetropole, forum GKB, Berlin 1993