Schon Friedrich Schiller hat geschrieben, daß ein tabellarischer Verstand und mechanische Fertigkeiten nicht ausreichen, um ein ganzer Mensch zu werden.
Hilmar Hoffmann in einem dpa-Gespräch am 18. August 2015 mit Verweis auf Friedrich Schillers 6. Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“
Wann denn sonst?
Kultur durch Bildung tut heute not – als Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Damit der Mensch Mensch bleibt. Wem das zu altmodisch klingt, der sehe sich die Welt an. Wie Tag für Tag schamlos die Interessen des Individuums und die Würde des Menschen missachtet und verletzt werden – ökonomisch, ideologisch, politisch, militärisch, sozial – überall und in allen Varianten. Wie weltweit zunehmend die Freiheitsrechte von Demagogen, Oligarchen, Autokraten untergraben und abgeschafft werden – entgegen der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948, Reaktion auf die Katstrophe des Zweiten Weltkriegs. Ist das die eigentliche Globalisierung? Immer mehr Grenzen und Mauern sind nicht nur deren äußere Merkmale, ihre Wirkung gilt auch für das Innere.
Kultur im Allgemeinen, einzelne Kulturtechniken und Bildungsinhalte vermitteln Selbstvertrauen als notwendige Voraussetzung für existentielle Veränderungen und Verbesserungen, um durchschauen, entlarven zu können, was die Modewörter Fake News oder „alternative Fakten“ bezeichnen – um zu erkennen, was gerecht ist – um Verstand und Anstand im Leben und Wirtschaften wieder in Kraft zu setzen – um sich den offensichtlichen Prozessen der Selbstzerstörung entgegen zu stellen.
Was geschieht hier und jetzt eigentlich? Die vernünftige Entwicklung einer universalen Humanität verkehrt ihre Strömungsrichtung und wird gegenläufig: Verloren und vergessen die guten Sitten, Moral und Ethos auf dem Abstellgleis.
Das Ökonomische und das Pekuniäre beherrschen unziemlich und unheimlich den Alltag, unterwerfen alle Lebensverhältnisse ihren Gesetzen und Kriterien. Hab-, Geld- und Machtgier beherrschen die Szene: Zum eigenen Nutzen der Profiteure werden Ängste geschürt, um die Menschen in Angst zu halten. Existentielle Ängste durchdringen schändlich, nahezu unentrinnbar und zerstörerisch alle Lebensbereiche und beeinflussen negativ personale Lebensentscheidungen.
Grenzenlos und anonym agieren Finanzsektor, Börsenhandel, Geldtransfer, mit entsprechenden Risiken und Auswüchsen. Gleichzeitig wird von Verführern der selbstbezogene Nationalstaat als Rettungsboot für verunsicherte Gesellschaften und Individuen angepriesen – hinter Mauern und Grenzen sei das Volkswohl besser zu schützen. Der Nationalstaat erwacht zu neuer Blüte. Grenzen zu schleifen, war einmal das große Ziel. Die Verhältnisse kehren sich um: Wo es vordem um Öffnung, Austausch und Vielfalt ging, werden vermehrt Grenzzäune hochgezogen: eine Ablenkungsstrategie. Sie zu durchschauen hilft Bildung als wirksamer Störfaktor gegen gleisnerische Verlockungen und populistische Täuschungen.
Was passiert eigentlich im Zusammenleben und in der mentalen Verfassung des Einzelnen, wenn alles, alle Lebensbereiche und alle Lebensentscheidungen, dem Renditedenken unterworfen sind? Ein entfesseltes Finanzsystem begünstigt die Akkumulierung von Kapital in Händen Weniger, untergräbt Selbstvertrauen und Zuversicht, entmutigt und treibt Menschen in die Arme von Rosstäuschern, Verführern und Despoten. Die Schwächeren oder Hilflosen werden übersehen. Die Besitzlosen schauen müde zu in Lethargie und fühlen sich verstoßen und ausgegrenzt. Gewinnsucht zerstört jede Rücksichtnahme.
Der Glaube an eine bessere und gerechtere Welt lebt nur noch in Nischen, bei vermeintlichen Träumern, Phantasten oder Utopisten. Kultur und Bildung stören die Geschäfte, es sei denn, sie passen sich den Gesetzen des Marktes an.
Wozu dann jetzt noch Kultur?
Der aufgeklärte Staat basiert auf umfassender Pflege und Kräftigung von Kultur und Bildung und auf friedvollem Gedankenaustausch im Innern und mit den Nachbarn. Eine rein nationale Kultur ist immer beschränkte Kultur und Feind der Aufklärung. Die Bindungskräfte der Aufklärung und Demokratie werden absichtsvoll von außen gestört und geschwächt. Die Hoffnung auf die Kraft demokratischer Teilhabe weicht dem Zweifel, Menschen wenden sich zu ihrem eigenen Schaden ab und vertrauen den Verführern und deren Heilsversprechen.
Ökonomische Erfolge und Wohlstand machen müde. Autoritäre Strukturen sind allenthalben im Vormarsch. Grenzen und Mauern korrumpieren Solidarität, höhlen Empathie aus, säen Misstrauen, hetzen Menschen gegeneinander, legitimieren undemokratische Regime.
Widerstand durch Kultur und Bildung heißt: genau hinhören, nüchtern analysieren, durchschauen und entlarven!
Lebenslanges Lernen
Kulturarbeit jetzt! Nach außen – gegen Grenzen, Mauern, Spaltungen, Aggressionen; nach innen – gegen die Folgen einer beschleunigten Digitalisierung für das Individuum und seine Würde. Noch nicht abschätzbar sind deren Auswirkungen auf die tradierte Arbeitswelt und auf die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit; es droht eine weitere Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Technologischer Fortschritt vernichtet Arbeitsplätze – insbesondere in der Mitte. Berufsbilder ändern sich drastisch – der ausgebildete Berufsweg verschafft keine Sicherheiten mehr. Der Wandel kommt schneller, als zu bewältigen ist. Der Staat hat für Regulierung und Ausgleich keine Zeit mehr. Das Individium muss sich selbst kümmern, flexibel sein, schnell umsatteln können. Fähigkeit rasch dazuzulernen vermittelt lebenslanges Lernen. Von Anfang an gehört es zur erzieherischen Hauptaufgabe, Eigenverantwortung zu erlernen und Selbstbestimmung einzuüben. Allgemeinbildung wiegt schwerer, ist wichtiger als Fachwissen.
Weil Digitalisierung, Maschinen und Roboter soziale Empathie nicht leisten können, steigt der Wert sozialer Dienstleistungen. Aus überlieferter ehrenamtlicher oder familiärer Fürsorge werden Berufe für den Lebensunterhalt. Aus akuter Notlage erwächst unverhofft eine Erfüllung des Begriffs von der Würde des Menschen und der Solidarität als Kern des Menschseins.
Ulrich Eckhardt, aus „Über Mauern geschaut“, Berlin, 2018
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