Zum Millennium 2000
Am Ende des Jahres 1999 neue Nachrichten vom allmächtigen Markt: Strom sei gelb und im Kaufhaus vom Konkurrenzunternehmen günstig zu erwerben – eine unsichtbare Ware, so wenig mit Händen zu greifen wie die Frequenzen der globalen Telekommunikation, die uns millionenfach umkreisen und durchdringen. Science Fiction habe sich erledigt, weil alles machbar sei. Aktien- und Währungskurse nehmen in den Medien mehr Raum ein als der Zustand der Wirtschaft selbst. Der DAX ist die neue Maßeinheit, jede Nachrichtensendung meldet ihn. Die Börse wird zum globalen Spielkasino. Geldhändler werden an Kursschwankungen zu Milliardären. Mit den eigenen Händen und dem Boden ist nichts mehr zu gewinnen außer der Lust, Wachsen und Entstehen zu sehen. Alles verflüchtigt sich ins Irreale und Spekulative. Internet und andere neue Medien entführen uns in die Metaphysik. Astrophysiker nähern sich den Theologen an. Was macht die Phantasie in einer vollkommen phantastischen Zeit? Gleichzeitig ernähren sich in Kriegsgebieten (Kaukasus, Osttimor, Kosovo) in die Wälder fliehende Menschen von Gras, Wurzeln und Rinden. Afrika versinkt in Seuchen, Armut, Korruption und Gewaltherrschaft.
Die Kirchen und Religionen sind ermattet im selbstbezüglichen Formeldisput. So holen sich Menschen die als notwendig empfundene Spiritualität anderswo. Die Künste schalten um vom ethisch motivierten Anspruch auf Aufklärung zur immerwährenden vergnüglichen Geselligkeit und artistischer Selbstgefälligkeit. Die Partizipation im demokratisch verfaßten Staat nimmt ab. Es schwinden das Erlernen und die Fähigkeit, divergierende Interessen und Bedürfnisse zusammenzubinden im Gesetz der Gemeinsamkeit.
Wir erwachen nach der verabredeten, imaginierten Nacht der Jahrtausendumschaltung, und das Szenario ist das gleiche geblieben. Es wird wie im bürgerlichen, privaten Leben an Silvester beim Bleigießen sein: man nimmt sich vieles vor, aber es geht fast nichts davon in Erfüllung. Weiterleben, weitermachen – und was ist mit weiterdenken?
Entfernung der Politik von der Wirklichkeit
Die Zukunftserwartungen: Statt Prophezeiungen und revolutionärer Sprünge sind wohl eher evolutionäre Kontinuität und perspektivische Verlängerungen bereits angelegter, aus der Vergangenheit hereinreichender Entwicklungslinien zu erwarten. Hochrechnung ersetzt die Prophetie. Pessimismus herrscht vor bei den Nachdenklichen, Sorglosigkeit bei der Majorität. Aber keine Untergangsstimmung oder apokalyptische Empfindungen sind aufgekommen, leben wir doch im angeblich aufgeklärten Milieu säkularer Prägung. Einigermaßen sicher absehbar sind Unordnung, Leid und Konfusion, aber auch das Verlangen und die Sehnsucht nach einer Wertordnung (nach einer Weltordnung), die Schutz und Orientierung gibt.
Die Entfernung der Politik von der Wirklichkeit: In der Abhängigkeit von global gesteuerter Ökonomie verliert die Politik an Bedeutung, werden demokratische Strukturen unterlaufen. Die gesellschaftlich relevanten Entscheidungen entschwinden aus dem Blick der Staatsbürger, entziehen sich zunehmend demokratischer Kontrolle. Supranationale Organisationsformen entstehen. Großfusionen führen global zu ganz neuen, möglicherweise krisenanfälligen, einsturzgefährdeten Entscheidungsstrukturen und Instanzen. Deren Labilität kann weltweit zum ökonomischen Supergau führen. Oligopole beherrschen über die Wirtschaft auch den Verfassungsstaat. Wenn „Shareholder‘s Value“ das Ziel gesellschaftlich determinierender Großorganisationen wird, wenn anonyme Kräfte, die das Individuum weder selbst erkennen noch demokratisch mitbestimmen kann, den Zugang zum Wissen und die Gesetze der Wirtschaft kontrollieren, dann drohen dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ernste Gefahren. Das Heil soll nun aus dem Subsidiaritätsprinzip, aus regionalen Bindungen und Strukturen kommen, aber Skepsis ist angebracht, ob das wirklich effektive Gegenkräfte sein können.
Die Linien in die Zukunft sind gezogen. Sie zeigen eine deutliche Beschleunigung als das Schicksal der Menschheit. Wachstum und Beschleunigung, Fortschritt und Rückschlag bestimmen den Rhythmus der Welt. Alles scheint unaufhörlich zu wachsen: die Bevölkerung, die klimazerstörenden Treibhausgase, der Reichtum in Händen Weniger, die Armut von immer mehr Menschen, die dadurch verursachten sozialen Lasten und Wanderungsbewegungen.
Armut wird zum Wesensmerkmal menschlicher Existenz
Wachstum der Erdbevölkerung: Im zweiten Jahrtausend ist die Erdbevölkerung auf das 15-fache von ca. 400 Millionen auf 6 Milliarden gewachsen – im 20. Jahrhundert um das Vierfache, von 1,5 Milliarden auf 6 Milliarden. 1950 hatte die Erde 2,378 Milliarden Bewohner. Die maximal mögliche Bevölkerungszahl wurde damals auf 8,12 Milliarden geschätzt. In nur zwölf Jahren wuchs also die Menschheit von der 5. auf die 6. Milliarde. Von der 1. zur 2. Milliarde zwischen 1804 und 1927 hatte es noch 123 Jahre gedauert. Derzeit wächst die Erdbevölkerung jährlich um ca. 80 Millionen. Rund 60 Millionen davon werden Stadtbewohner sein.
Die UNO feierte am 12. Oktober 1999 die Geburt eines kleinen muslimischen Bosniers in Sarajevo, weil mit ihm die Zahl von 6 Milliarden Erdbewohnern überschritten sei – wohl eher eine symbolische Geste im leidgeprüften Balkanstaat für friedliches, tolerantes Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan wollte zugleich darauf hinweisen, daß die Menschheit zwar inzwischen etwas langsamer, aber immer noch zu schnell wachse. Beim derzeitigen Wachstum werde sich die Zahl der Menschen auf der Erde alle zwölf bis vierzehn Jahre um eine Milliarde erhöhen. Noch vor 2050 könne das für die Erde zuträgliche Maximum der Erdbevölkerung (9 Milliarden) erreicht sein – mit allen Folgen für mögliche Konflikte um den Zugang zu Wasser, Nahrung und Energie.
Die Armut wird zum Wesensmerkmal menschlicher Existenz werden. Der UNO-Umweltbeauftragte Klaus Töpfer teilte kürzlich in seiner „Berliner Lektion“ mit, daß der Unterschied zwischen Reich und Arm auf der Welt 1992 die Relation von 1:30 ausmachte, heute – nur sieben Jahre später – hat sich die Entwicklung beschleunigt und verschärft auf einen Armutsquotienten von 1:75. Eine neue (Nord-Süd-) Mauer werde aufgerichtet, härter und folgenreicher als alle vorigen. Das Problem der Armut wird zwangsläufig in das gesellschaftliche Bewußtsein zurückkehren. Die globale Wirtschaftsordnung setzt die grenzenlose Verfügbarkeit des Einzelnen voraus. Arbeitslosigkeit führt über Sozialhilfe zum Abstieg, der nicht auf Dauer von staatlichen Sozialsystemen aufgehalten wird. Die Armen sind von gesellschaftlicher, politischer Teilhabe ausgeschlossen. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind mittelbare Reaktionen auf die Armutsbedrohung. Der soziale Bruchpunkt ist vorhersehbar. Noch fehlt es an konkreten Szenarien für eine fundamentale Neuordnung. (…)
Herausforderungen ungeahnten Ausmaßes
Die Berliner Aktivitäten des Jahres 2000 – also nach der fiktiven Jahrtausendwende – sind gedacht als Wegzeichen, als Signale am Fahrweg in die Zukunft. Die im Zentrum stehende Ausstellung „Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts“ breitet im Martin-Gropius-Bau ein anschauliches Arsenal des Wissens aus, um die Linien aus der Vergangenheit in die Zukunft weiterzuziehen. Der Wissensstand der Epoche justiert die Perspektive. Überlieferte Kulturtechniken behalten auch im Zeitalter neuer Medien und virtueller Realität ihre Bedeutung. Lesen, Schreiben, Sehen, Hören, Schaffen, Fühlen, Träumen bleiben Mittel der Wahrnehmung, des Bewußtseins und Verstehens, woher etwas kommt und wie es gemacht ist. Wie in einer großen Wunderkammer werden wissenschaftliche Erkenntnisse den Visionen der Künste gegenübergestellt. Zur Bewertung des Kommenden gehört der Blick zurück auf die geschichtlichen Wurzeln von Mensch und Welt.
Der jungen Generation, die vor Herausforderungen ungeahnten Ausmaßes gestellt ist, dienen als Orientierung die Projekte „ZeitReise“ und „Z 2000 – Positionen junger Kunst und Kultur“. „URBAN 21“, die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte, und die Konferenz der Bürgermeister von Megastädten befassen sich in öffentlichem Diskurs mit weltweiten Fragestellungen, die auf den Nägeln brennen: globale Märkte, regionale Wirtschaft, Wissenschaft und technische Innovation im Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung – gegen Armut und für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Den historischen Hintergrund bereitet eine Ausstellung zur Geschichte der Stadtplanung und Architektur am Beispiel Berlins.
„Agora“ nennen sich die in drei Jahren im Wissenschaftskolleg zu Berlin entwickelten Zukunftsszenarien, in deren Mittelpunkt die Problemfelder „Arbeit – Wissen – Bindung“ stehen. Die Forschungsarbeit mündet in zwei öffentliche Präsentationen, die der Politikberatung dienen und das breite Publikum für die zentralen Themen der Zeit sensibilisieren sollen. „Agora“ ist der Schwerpunkt der Arbeit im Wissenschaftskolleg seit 1998. Das Projekt verbindet eine Gruppe von 14 jüngeren Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen aus allen Erdteilen (u.a. aus Mozambique, USA, Bulgarien und Indien). Mit ihrer vielfältigen wissenschaftlichen und kulturellen Kompetenz wollen sie einen auch historisch und geographisch differenzierten Blick auf die Problemfelder „Arbeit – Wissen – Bindung“ werfen. In ihrer Forschung befassen sie sich z.B. mit spezifischen Themen wie Konzepten von „Arbeit“ in anderen Kulturen, oder der an konkreten Fallbeispielen untersuchten Frage, wie lokale Lösungen für globale Probleme gefunden werden oder welche sozialen Bindungskräfte wirksam bleiben, wenn soziale Gruppen ihre gewohnten Zusammenhänge verlassen (müssen).
Das 21. Jahrhundert muß ein Zeitalter der Anthropologie werden, schon wegen der anstehenden Menschheitsfragen, der Population, der Erhaltung und gerechten Verteilung von Lebensgrundlagen. Oder wird es gar ein Zeitalter der Anthropotechnik? Dann gäbe es um so mehr den dringenden Bedarf an ethischen Maßstäben und Kriterien für verantwortliches Handeln: soziale Experimente, neue Lebensformen, gerechte Wirtschaftsordnung. Es gibt kein Abwarten im Fatalismus angesichts der furchteinflößenden Dimensionen der Probleme.
Wolf Singer: „(…) und so bleiben uns kaum andere Optionen, als zu versuchen, in kleinen Schritten unsere Bedingungen zu verbessern, alles daranzusetzen, Irrtümer nicht intendierter Entwicklungen so schnell wie möglich wieder rückgängig zu machen und zu hoffen, daß die Selbstorganisationsprozesse trotz unserer ständig vorgenommenen Eingriffe stabil bleiben. Auch werden wir uns damit abfinden müssen, daß wir nicht wissen können, wohin wir treiben, und wir werden lernen müssen, dies auszuhalten.“ (FAZ, 6.10.1999)
Ulrich Eckhardt, Typoskript Oktober 1999
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