Der Verein der Berliner Künstlerinnen
Zehn Jahre später eine Zwischenbilanz: Die große hochbeachtete Retrospektive des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1967 der Berlinischen Galerie im Martin-Gropius-Bau zum Thema „Profession ohne Tradition“ (ein vieldeutiger Titel) war Markstein in der aktuellen Auseinandersetzung mit spezifischen Aspekten von Leben und Arbeit der Künstlerinnen – weit hinausgreifend über Vereins- oder lokale Kunstgeschichte Berlins. Der Verein entfaltete seitdem trotz geringer Mitgliederzahl weitere Aktivitäten mit mehr als 200 Gästen und arbeitete beharrlich und sorgfältig an der Erhaltung und Weiterentwicklung seines bedeutsamen, international renommierten Archivs. Dieser für die Kunstgeschichte wichtige Schatz ist noch immer unzureichend gesichert. Er bedarf dringend intensiver Pflege. Notwendig sind stärkere Beachtung in der Öffentlichkeit und finanziell wie personell angemessene Ausstattung. Ebenso wichtig ist es aber auch, den Bestand in seiner Gänze und Vielfalt zusammenzuhalten und nicht nach jeweiliger Einschätzung einzelne Teile des Archivs herausnehmen zu lassen. Dem Verein könnte bei seinem Bemühen um die Pflege des Archivs die Vernetzung mit anderen angesehenen künstlerisch orientierten Archiv-Stiftungen sowie mit Einrichtungen der Wissenschaft und Forschung hilfreich sein.
Ein signifikanter Kontrast: inmitten der sich erneut häutenden Metropole ein weithin unbekannter Ort. Wo Berlin besonders authentisch ist, wo Geist und Seele der Stadt ganz unmittelbar zu empfinden sind, hat der Verein seinen Sitz, im Schadow-Haus in der Schadowstraße, nächst Unter den Linden und Pariser Platz. Bedrängt und gefährdet vom Bauboom des Neuen Berlin mit seinen auftrumpfenden neuen Häusern ringsum, liegt seltsam verborgen und wohltuend still das edle, schlichte Haus, wo der Protagonist preußischer Bildhauerkunst lebte und arbeitete. So karg und eng auch die Vereinsgeschäftsstelle und das Archiv im einstigen Gipsatelier untergebracht sind, so anregend und inspirierend wirkt Schadows Genius auf die hier geleistete Arbeit. Seine schönsten Skulpturen galten der Schönheit von Frauen: Das ruhende Mädchen und das Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen.
Zweihundert Jahre Unterschied: 1800 schrieb Susanne von Bandemer, Freundin der Preußischen Sappho Anna Louisa Karsch (die „Karschin“), in ihren „Gedanken über die Frauenzimmer und den Einfluß, den ihre Grundsätze auf das andere Geschlecht haben“: „Ist es also nicht höchst notwendig, daß wir die Sklavenkette der Vorurteile verlassen und indem wir unsere Seele veredlen und unsere Kenntnisse erweitern, das Glück rechtschaffener Männer machen?“
Mit anderen Worten: Nur eine (aus)gebildete Frau sei Familie und Staat nützlich.
2000 äußerte die Dichterin Zsófia Balla: „Berlin ist wie eine große Frau mit großen Knochen, riesig und überhaupt nicht schön, aber sehr klug und spirituell.“
Ist der Staat männlich, ist die Stadt weiblich, der Staat herrisch, aggressiv, expansiv, die Stadt dienlich als Schutzraum und Lebensspenderin? Ist die Kunst männlich oder weiblich oder beides gleichzeitig oder kontrapunktisch? Ist der Unterschied in Zeit und Raum groß oder klein? Die ewig neuen Fragen.
Die Geschichte reicht hinein in die Gegenwart: Der Verein von 1867 versteht seine historische Rückbindung als Vergegenwärtigung. Was war damals auf der Tagesordnung wichtig zu erobern, welche Pionierleistungen gingen aus gutem Grunde ausgerechnet von Berlin aus, und was gilt davon noch heute? Manches ist durchgesetzt, viele kulturelle und soziale Errungenschaften sind selbstverständlich geworden, ohne daß wir uns noch der Kämpfe und Dispute erinnern. Nach dem Verfassungsrecht ist die Position der Frauen gesichert, aber im täglichen Leben unvollendet und latent gefährdet durch wechselnde Bedrohungen in veränderter Gestalt. Und die Besonderheiten der Geschlechter sind ohnehin nicht aus der Welt zu schaffen, die Konkurrenzen und Verteilungskämpfe werden anhalten. In vieler Hinsicht geht es also doch eher um Strategien der Auseinandersetzung. Solidarität ist die Tugend der Schwächeren, Gemeinsamkeit gibt Stärke im Konzert der Kräfte. Die Neigung von Künstlerinnen, ihren Weg alleine zu gehen und sich jeglicher Vereinsbindung zu enthalten, ist zwar berufsimmanent, aber auch Versäumnis und Verlust. Der Brückenbau zwischen den Generationen ist auch in künstlerischer Hinsicht ein Gewinn: Profession aus Tradition ist da» bessere Motto l Die Jungen lernen von den Alten. Es ist die alte und immer neue Präge: neu oder alt, revolutionär oder konservativ. Dem Menschen ist seine Zeit zugemessen, und kontingentiert ist sein Wirken. Von Generation zu Generation werden Erfahrungen und Werte weitergegeben oder abgelegt oder widerrufen oder verworfen. Das Alte ist manches Mal überraschend das ganz Neue, das Richtige, weil das Andere und Unerwartete. So notwendig wie die Erprobung ungesicherter Inhalte und Formen ist die Vergewisserung und Befragung der Überlieferung. So wichtig wie Verstörung und Experiment ist die Orientierung am Zeitfluß. Zutiefst human ist die Übernahme von Verantwortung für die Alten und ihre Lebensumstände. Die eigene Arbeit zu messen an der Tradition und den vorausgegangenen Maßstäben, macht sicherer gegenüber Moden und ihren Versuchungen.
Die Frauenfrage ist nicht erledigt: Das Verfassungsgebot der Gleichstellung wird fiskalisch ausgehöhlt, denn die Rücknahme sozialstaatlicher Errungenschaften erschwert die kreative Verknüpfung von Mutterschaft und Künstlerberuf. Physische Gewalt aus der Männerwelt beeinträchtigt den Sozialkontrakt friedfertiger politischer Auseinandersetzung. Der Druck einer globalisierten Ökonomie trifft Frauen besonders stark und bürdet ihnen mehr Lasten auf. Ihnen fällt die Selbstbehauptung im Marktgeschehen weitaus schwerer, und das macht untereinander praktizierte Solidarität um so notwendiger. Die Frauenfrage ist also bei weitem nicht erledigt. Beweis dafür sind die zahllosen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekte, „Gender Studies“, zum Verhältnis der Geschlechter und ihrer Rollendefinition.
Aufbruch zu neuen Zielen: Profession mit Tradition als praktizierter Beitrag zur Zukunftsorientierung wird das Wirken des Vereins kennzeichnen. Sein Spezifikum einer Verknüpfung von ausübenden Kunstschaffenden und fördernden Kunstenthusiasten, also die Kombination von Berufsgruppierung und Kunstverein ist möglicher Ansatzpunkt, um sich einer größeren Öffentlichkeit zu vergewissern. Die Begegnung von Kunstproduktion und Rezeption auf ganz unvermittelte, nicht kommerziell orientierte Weise ergibt neue Impulse zur weiteren Öffnung. Das ist mehr als Selbsthilfe, vielmehr ein höchst aktueller Beitrag zur Erneuerung der Kunst. Sie braucht gerade jetzt Ermutigung.
Ulrich Eckhardt, 1977