Plädoyer für ein kulturpolitisches Engagement des Bundes in seiner Hauptstadt (1995)
Der Beschluss des Bundestages, den Bund künftig von Berlin aus zu regieren, hat seine Motivation einerseits in der historischen Begründung, andererseits in der Erwartung und Annahme, von Berlin aus sei der anstehende Integrationsprozess und die Identitätsfrage besser zu gestalten. Der in einer neuen geschichtlichen und geopolitischen Lage der Bundesrepublik größere Bedeutung gewinnende Dialog zwischen Politik und Kultur im Interesse verbesserter Außenwirkung wird aufgrund der Sogwirkung der neuen Bundeshauptstadt eine neue Qualität erreichen. Die Erwartungen von außen sprechen dafür, die Bundeshauptstadt zu einem sympathisch anziehenden Schaufenster und zu einem internationalen geistigen Treffpunkt zu machen.
Im Verhältnis zwischen Politik und Kultur geht es um mehr als den schönen Schein und die Gestaltung der Freizeit. Die Ausfüllung der Staatsidee mit geistigen Inhalten ist eine eminent kulturelle Aufgabe. Der neue Dialog bedingt von beiden Seiten Bereitschaft zur Veränderung: Politik und Administration machen sich die Möglichkeiten des kulturellen Instrumentariums zur Erreichung der Staatsziele zunutze, Künstler und Kulturvermittler öffnen sich bei Wahrung von Autonomie und Freiheit den Bedürfnissen des Gemeinwesens.
In Berlin kann der fruchtbare Dialog schon deswegen eine neue Dimension gewinnen, weil der Ort getränkt und verwundet ist von Geschichte, der man täglich begegnet und nicht entrinnen kann.
Neben die stabilen Leuchttürme, den Gesamtstaat und eine Nationalkultur repräsentierend, treten gleichwertig und als notwendige sinnvolle Ergänzung – quasi als Spielbein neben dem Standbein – die beweglichen Projekte mit ihrer besonderen Befähigung, aktuelle Fragen innerhalb kurzer Vorbereitungszeit aufzugreifen, dem Bundesinteresse entsprechende Initiativen thematisch zu bündeln. Projekt meint den versammelten Einsatz von Medien, Ausstellung, Konzert, Lesung, Film, Theater zur Darstellung eines Themas, wie unter einem Brennglas, wie dies beispielhaft die Berliner Festspiele seit langem praktizieren: in diesem Jahr als ausgereiftes Exempel „Berlin-Moskau“ wie schon in der Vergangenheit „Japan und Europa“, „China und Europa“, „Europa und der Orient“, im nächsten Jahr „Frankreich – Deutschland Kulturtransfer“ oder die Vorhaben zur Jahrhundertwende 1999/2000. Hier kommt Geschichte als essentieller Bestandteil von Kultur ins Spiel. Die Voraussetzungen dafür sind in Berlin reichlich vorhanden: Vitalität und Neugier, Köpfe und Ideen, Institutionen und Initiativen, auch unter Beteiligung flexibel reagierender freier Gruppen.
Die Berliner Festspiele mit ihren alljährlichen Themenausstellungen – von Preußen vor 15 Jahren bis Berlin–Moskau sind ein typisches Projektinstitut ohne Repertoire – darin vergleichbar dem Haus der Kulturen der Welt und Hebbeltheater – 1951 als Element der Bundespräsenz gegründet und kulturelle Interessen des Bundes wahrnehmend.
Ulrich Eckhardt, Sprechzettel zum Treffen des „Rats für die Künste“ mit Bundeskanzler Helmut Kohl am 23. August 1995 im Hotel Kempinski in Berlin
Anmerkung: Als nachhaltige Folge dieser Begegnung wurde die „Leuchttürme“-Förderung um Projekt-Förderung ergänzt und der Hauptstadt-Kulturfonds gegründet – mit seiner segensreichen Wirkung bis heute und auch in Zukunft.