„Preußen – Versuch einer Bilanz“ – Rückblick auf eine schwierige Ausstellung (1982)
„Revision eines Geschichtsbildes“ sollte zuerst der Titel der Preußen-Ausstellung sein; „Versuch einer Bilanz“ hieß sie dann nüchterner. Bilanzieren läßt sich mit den nüchternen Zahlen eines Kaufmanns jetzt am Ende des preußischen Herbstes 1981, nachdem die Gegenstände preußischen Lebens und Nachwirkens wieder verpackt und versandt sind.
Weit über eine Million Begegnungen mit dem schwierigen Thema Preußen sind den Berlinern und ihren Gästen vermittelt worden: 589.000 Besucher empfingen die drei von den Berliner Festspielen selbst organisierten Ausstellungen im Gropiusbau (494.000), Berlin-Museum (80.000) und in der Festspielgalerie (15.000). Die Begleitausstellungen hatten 390.000, die musikalischen und literarischen Veranstaltungen der Berliner Festwochen 140.000, Filme, Diskussionen und Vorträge 27.000 Interessenten. Wer zu Preußen ging, wußte, daß ihn nicht abgeklärter Genuß und ehrfürchtige Verehrung erwarteten, sondern Herausforderungen zu kontroverser Diskussion und Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen. So gesehen ist dies eine stolze Bilanz, die nicht – wie sonst so oft – von finanziellen Defiziten überschattet ist, auch nicht von Verlusten durch Diebstahl oder Beschädigung. Kleinliches Mäkeln vermag nicht zu verdecken, daß das Unternehmen für Berlin ehrenvoll verlaufen ist und insgesamt in die Spitzengruppe großer kultureller Ereignisse gehört. Hinzu kommt die dauerhafte Wirkung, die – abgesehen von den unzählbaren Begleitpublikationen der Verlage – die annähernd 260.000 Exemplare der direkt auf die Preußen-Ausstellungen und -Veranstaltungen bezogenen Kataloge und Broschüren haben werden.
Auf die Habenseite einer Bilanz gehören auch:
• Der historische Forschungsstand über Preußen ist in vierjährigen Recherchen
einer Gruppe engagierter junger Wissenschaftler weitergetrieben worden – nicht
nur in den Ausstellungen, sondern auch in Aufsätzen und Büchern.
• Verschollene, vergessene Zeugnisse preußischer Geschichte sind aufgespürt,
wiederhergestellt, gepflegt worden.
An geschichtsträchtigem Ort
Das ehemalige Kunstgewerbemuseum, letztes Zeugnis eines großartigen preußischen Klassizismus, wie auch das Umfeld mit den Trümmern des Prinz-Albrecht- Palais mit allen daran geknüpften Erinnerungen, sind dem Vergessen entrissen worden. So gab die Preußen-Ausstellung an diesem geschichtsträchtigen Ort den Anstoß zum tiefen Verlangen vieler Menschen nach einer dauernden Befassung mit deutscher Geschichte – als einer besonderen Aufgabe für Berlin als Ort historischen Gedächtnisses. Die Preußen-Ausstellung hat exemplarisch erprobt und erwiesen, daß dem Gropius-Bau und seinem Umfeld, die allzu lang dem Verfall und Vergessen preisgegeben waren, große Aufgaben zukommen müssen. Hier kann in einzigartiger Weise ein kraftvoller Zugriff auf Geschichte mit allen Mitteln der Inszenierung aus Raum, Licht, Farbe, Text und Bild praktiziert werden. Diese Chance muß genutzt werden.
In vorbildlicher und bislang unbekannter Dichte hat das Thema Preußen alle Medien, Kunst, Geschichte, Musik, Theater, Literatur zusammengebracht und Berlins Kulturinstitute zum gemeinsamen Handeln vereinigt. Das System aufeinander bezogener, systematisch abgestufter Ausstellungen und Veranstaltungen hat sich bei nachträglicher differenzierender Betrachtung bewährt und die Einsichten beim Publikum intensiviert. Preußen stiftete über alle Auffassungsunterschiede hinweg ein engagiertes Bündnis zwischen Bürgern, Museen, Sammlern, allen voran dem Hause Hohenzollern. Preußische Vernunft, Liberalität und Toleranz anstelle von Indoktrination, unduldsamer Einseitigkeit oder Besserwisserei, Skepsis statt Kritiklosigkeit, Distanz statt Euphorie, menschliche Maßstäbe statt überlebensgroßer Denkmalsgebärde – dies waren die Kriterien einer auch methodisch neuen und zeitgemäßen Zusammenarbeit von Wissenschaft und Ausstellung. Der nach lebhaften Streitgesprächen gewonnene Zugriff mit pointierter Gliederung der Geschichte und der Einfügung in die symmetrischen Raumstrukturen des Ausstellungsgebäudes ist wohl ein Hauptverdienst der Ausstellung, weil er dem Menschen den Zugang auf eine eigentätige Weise mit freier Entscheidung ermöglichte.
Geistiges Abenteuer
Die Preußen-Ausstellung und der Streit um Vorbereitung und ihren rechten Weg bildeten einen bemerkenswerten, konstanten Kontrast zur turbulenten, aufgeregten innenpolitischen Lage der Stadt im selben Jahr. Die Behebung von politischen Krisen und alltäglichen Übeln gewannen Vorrang vor den Visionen von Berlin als wegweisendem Ort mit besonderen in die Zukunft gerichteten Aufgaben. Das Preußen-Unternehmen als geistiges Abenteuer gehört ganz eindeutig als Höhe- (und hoffentlich nicht Schluß-)punkt in die Reihe vieler Initiativen, für Berlin eine Perspektive und Überlebensstrategie zu entfalten. Fragen der historisch-aktuellen Identität der Stadt, der weltweiten Ausstrahlung, der Aufbewahrung geschichtlicher Erfahrungen waren die Auslöser für das Preußen-Projekt. Die Überlegungen erwiesen sich als richtig; die Anteilnahme hatte die zu erwartende Heftigkeit. Die eigenen Erlebnisse, Leiden und Hoffnungen der Menschen, hier lebend oder hierher pilgernd, mischten sich fruchtbar in das gewaltige Epos der spannungsreichen preußischen Geschichte.
Die oft gestellte Frage, warum 1981 zum Preußenjahr wurde, löst sich zweifach: Der Zeitgeist gab den Termin. Hinzu kam der Wiederaufbau des Gebäudes. Denn es kam nach dem Konzept der Ausstellung darauf an, den Bau zum Zweck der Raum-Inszenierung in einem rohen, narbigen Zwischenzustand zu benutzen; und dies war eben nur im Jahr 1981 möglich.
Preußen – ein Kunststück: Das ganze Projekt glich einem Balanceakt im labilen Gleichgewicht von Meinungen, Interessen, Urteilen und Vorurteilen. Das Artistische im Kunststück charakterisiert sowohl diesen Drahtseilakt, der alle Vorbereitungen prägte, als auch etwas Spezifisches an Preußens Geschichte: das seltsam Unwirkliche und Unfaßbare in Preußens Nachwirkungen – offen dem Zugriff jeder Ideologie, allen Deutungen zum Nutzen jeweiliger aktueller politischer Standpunkte. So ist Preußen uns zugleich so nah und doch so fern. Der Gegenstand unseres Interesses, unserer Zuneigung wie unserer Abwehr ist noch lange nicht tot, noch lange nicht ausgeschöpft in seinen komplizierten Verzweigungen und Zusammenhängen. (…)
Der große preußische Aufklärer Moses Mendelssohn, dessen Weg nach Berlin 1743 hier am Ort der Preußen-Ausstellung vorbeiführte, gab der selbstkritischen Einstellung der Preußen-Organisatoren den besten Ausdruck: „Man kann niemals überzeugt sein, wenn man niemals mit Vernunft gezweifelt hat“ (1755).
Ulrich Eckhardt, Typoskript 1982
➞ Ein lesenswerter Artikel über die Ausstellung aus dem „Spiegel“
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