Elmar Weingarten

… nichts charakterisiert sein Denken und Empfinden, seine Zuneigung, Ziele und seinen Lebensinhalt besser als ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger:

Drei Männer in steifen Hüten
vor dem Kiewer Hauptbahnhof
Posaune, Ziehharmonika, Saxophon –

im Dunst der Oktobernacht,
die zwischen zwei Zügen zaudert,
zwischen Katastrophe und Katastrophe:

vor Ermüdeten spielen sie, die voll Andacht
in ihre warmen Piroggen beißen
und warten, warten,

ergreifende Melodien, abgetragen
wie ihre Jacken und speckig
wie ihre Hüte, und wenn Sie da

fröstelnd gestanden wären unter Trinkern,
Veteranen, Taschendieben,
Sie hätten mir recht gegeben:

Salzburg, Bayreuth und die Scala
haben dem Bahnhof von Kiew
wenig, sehr wenig voraus.

Elmar Weingartens Arbeit ist gekennzeichnet durch Mut und Demut und Engagement und humanem Impuls. Er will wissen, warum und für wen. Ihm gilt: In Tönen denkt die Welt, und Musik ist eine täglich wiederholbare Utopie auf Erden. In Klängen verborgen ist das Mysterium der Empfindungen.

… Er war 44 Jahre jung, als er, ein Seiteneinsteiger, zu den Berliner Festspielen kam und Musikchef der Berliner Festwochen wurde. Antoinette und Hellmut Becker brachten uns zusammen. Heiter, Harmonisch, produktiv, inspirierend, von wechselseitigem Vertrauen getragen waren die gemeinsamen Jahre nach 1986 – mit außerordentlichen Begebenheiten und Erfolgen. Osmotisch und im Gleichklang haben wir zusammen gearbeitet.

In manchen Wendungen und Verwandlungen ist eine tiefe Weisheit des Lebens, des Lebendigen verborgen. Was ich meine: Elmar ist dem teilweise maroden, ermüdeten, ermatteten, gefährdeten Musikbetrieb glücklich entronnen und dort angekommen, wo andere Arbeits- und Verhaltensweisen, anderes Denken und Handeln, andere Programme und Entscheidungsprozesse gelten – beim Ensemble Modern, wo der frische Wind der Erneuerung weht, statt Personenkults, Geschäftemacherei, Eitelkeiten, Hoffart, Geltungssucht – Musik ohne Frack.

Platon irrt und Alfred Döblin hat recht: Musik ist eine so ernste Sache, daß man sie den Musikern überlassen muß – und dem Du-Musiker gebührt der Vorrang vor dem Ich-Musiker.

Aus den Gesprächen mit Kalypso über die Musik:

  • Der Du-Musiker will den Zuhörer. Kunst ist etwas zwischen Dir und mir. Er will den Hörer aufbeben sehen von seinem Sitz, ihn zittern machen, schluchzen, das Zeitmaß seiner Atmung bestimmen, seinen Puls stocken und wieder strömen lassen, eine Spannung über seine Knie und Kehle werfen, seine Füße im Taktschritt locken. Musik ist dem Du-Musikern Genuß, Waffe, ein kostbarer Spaß…
  • Ich-Musiker legen ihr Ich hinein in die Kunst, weil sie nur darin ihre Kraft und Größe sehen, überall sie selbst zu sein. Sie glauben an sich, sie dachten nie über sich nach. Sie meinen es so ernst, aber nicht gut mit der Kunst… machen sich die Kunst Untertan…
  • Es-Musiker dienen der Kunst… Sie sind die Sachlichen, halten sich zurück von der Musik, waschen ihre Wäsche zuhause, maskieren sich, behängen sich mit den äußeren Zeichen ihrer Kunst. Manche laufen vor sich davon, sind stolz und reinlich, sind Kenner…

Ulrich Eckhardt, Festrede zum 60. Geburtstag von Elmar Weingarten am 20. Februar 2002 beim Ensemble Modern in Frankfurt / Main


Elmar Weingarten war 1985 bis 1990 Leiter der Musikabteilung der Berliner Festspiele, danach Intendant des Deutschen Symphonieorchester Berlin, 1995 des Berliner Philharmonischen Orchesters, 2001 des Ensembles Modern, 2007 bis 2014 des Tonhalle Orchesters Zürich und bis 2017 der Festspiele Zürich.

Gedicht „Für Karajan und andere“ von Hans Magnus Enzensberger © Suhrkamp Verlag