Harald Metzkes – Malen und Leben

Ein Besuch am Prenzlauer Berg 1988

Berlin, Prenzlauer Berg, Kollwitz-Platz: Das Eckhaus ist gewiß mehr als hundert Jahre alt, rußgrau und vom Krieg zernarbt. Metzkes, vier Treppen Vorderhaus. Die Hand greift zur Rechten des Treppenaufgangs unwillkürlich nach einem Holzknauf am Beginn des Geländers. Die Kugel ist von Generationen abgeschliffen, handgreiflich die Zeit im Hinaufgehen. In jedem Stockwerk wieder der Knauf in der Kehre, immer weniger verformt, ganz oben noch Kugel im schönen ebenholzfarbigen Ton.

Prenzelbergs unruhige Jugend aus Künstler- oder Kirchengruppen ist es heute nicht, die von den zahlreichen Volkspolizisten beobachtet wird. In weißen Jacken werden sie Staats­gäste offizieller Delegationen erwarten, die das offene Freiluftmuseum der herausgeputzten Husemannstraße als Sehenswürdigkeit genießen wollen – Relikt der 750-Jahr-Feier. Das Leben des Proletariats im 19. Jahrhundert wird zur Schau gestellt, Gegenstück zum Nikolaiviertel der Stadtmitte.

Die Straße döst im späten Sonnenvormittag, Spatzen bevölkern die kranken Platanen, die – wie der Künstler später sachverständig erklären wird – mit einem Virus kämpfen, der in Platanenholzkisten von Übersee eingeschleppt wurde. Er läßt wie alle Einwohner hier die wie eine Filmkulisse wirkende, rekonstruierte Husemannstraße beiseite; sie ist ihm fremd geworden. Aber er erzählt vom Wasserturm, von den Windmühlen, von der Ackerflur, die vormals den Prenzlauer Berg beherrschten. Vom roten Prenzlauer Berg, rot wie der Wedding, von Hunger und Aufruhr weiß er zu erzählen. Von der Kollwitzstraße zur Ackerstraße ist es nicht weit.

Max Liebermanns Grab unterm Küchenfenster, die »Mutter« der Käthe Kollwitz – anstelle ihres zerstörten Wohnhauses – gegenüber unterm Atelierfenster: das sind Nachbarschaften, die verpflichten. Seit er in Berlin ist, von Bautzen kommend, seit jetzt über dreißig Jahren, wohnt und arbeitet er hier, Enttäuschungen und Genugtuungen erlebend, zwischen Liebermann und Kollwitz, unter Proletariern und Bohemiens, mitten in der alten Menschen­landschaft Berlin, wo sie noch am wahrhaftigsten ist.

Das Gehäuse des Malers ist ein großer, über die Hausecke reichender Raum, kein Atelier, wie sie Künstler des Westens erwarten und verlangen, vielmehr ein vom Ruinenbau­meister zufällig herausgeschlagener tiefer Wohnraum, allen Regeln der Lichtführung und Klimatisie­rung im ordentlichen Künstleratelier hohnsprechend, kalt im Winter, heiß im frühen Sommer schon, wie eben heute, ein kreatives, chaotisches Dauerprovisorium. Die Staffelei steht quer zum Fenster, die Wohnung liegt nebenan. Hinter der Staffelei beginnt ein ungeheuerer Bildertunnel, reicher Vorrat aus langen Schaffensjahren, angesammelt, als die Anerkennung noch ausblieb.

Der Schutzbezirk, das andere Gehäuse des Malers, ist seine Familie, die ihn zu einem festen Tagesablauf zwingt. Acht Stunden hat der Arbeitstag des Malers, und geregelt ist die Zeit, die alltäglichen Besorgungen einschließend. Gehe vom Häuslichen aus und verbreite dich über die Welt, so zitiert er Goethe. Disziplin und Kontrollierbarkeit, Übung der Wahrnehmung, Banales und Triviales nicht auslassend, machen Realität und Materie greifbar. Mit Ehefrau, drei Kindern und sechs Enkeln kann der Mann sich nicht so leicht im Wortwahn und in der gedanklichen Spekulation versteigen. Sein soziales Interesse ist gefordert. Sein Realitätssinn in bester Berliner Realisten­tradition ist ausgeprägt. Im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg ist niemals zu übersehen, auf welchem Boden man steht. So wohnt und arbeitet ein heute prominenter Maler der DDR, der nichts vom Malerfürsten am Kollwitzplatz hat. Die Wohnung im Atelier, das Atelier in der zu engen Wohnung, nicht voneinander getrennt, Kunst und Brot, aufeinander angewiesen. Im Wohnzimmer hängen Bilder und Skulpturen von Freunden, unter anderem von Rolf Händler, und des eigenen Sohnes, dem er sein Steinmetzmaterial überließ. Auf engstem Raum verschmelzen Leben und Arbeit. Die beruf­liche Identität gewinnt ihre Selbstverständlichkeit. Der Künstler wird getragen und lebt mit sich im Einverständnis. Sicherheit und Konzentration der Wahrnehmung von Welt und Mensch und die Kraft zur Gelassenheit prägen seine Arbeit.

»Die Krone der Schöpfung muß eine Mütze werden.« So lautet der letzte Satz eines Essays über sich selbst, den Harald Metzkes zum Katalog »Zeitvergleich ’88« beigesteuert hat. Der Mensch als Subjekt gegenüber seinen »gewaltigen Weltbeziehungen« solle sich bewußt sein, ein wie winziges Objekt im Verhältnis zur Fülle der gegenständlichen Welt er sei. Die Liebe zum Gegenstand und zur Figur folgen aus Demut und Bescheidenheit gegenüber dem Menschen. Die Behutsamkeit im Umgang mit der Welt hält ihn ab von ihrer Zertrümmerung auch in der Vorstellung des Künstlers. Menschenfreundlichkeit anstelle des Wahns von der Größe in der Geschichte, entgegengesetzt dem Neuigkeitswahn, der vom Künstler immer das Neue will, wo er doch das Neue in seinen Reflexen aus dem Inneren auf das Neue im Äußeren gewinne. Im Kleinen, im Mangel, in der Dürftigkeit verbergen sich andere Qualitäten, andere Anregungen.

Der im Verhältnis zur Bundesrepublik kleine Staat DDR sei im Grunde ein romantisches Land mit manchen Zügen aus frühindustrieller Zeit, weil die Gegenstände hier gezählt seien. Der möblierte Herr Romantiker könne eigentlich nur in sich selbst hineinsteigen. Da gebe es nicht die imperiale westliche Gebärde, sich in der Welt umzutun und alles haben und heimtragen zu wollen. »Dürftigkeit und Bewegungsmangel« ließen in die Gegenstände eindringen, ihre Eigen­schaften untersuchen und zu neuen Produkten zusammenstellen.

Sein Denken umkreist sein Tun, um es zu sichern. Rücksicht und Behutsam­keit, Selbstgenügsamkeit und Unentschiedenheit: so bringt er im Gespräch die Dinge nicht auf den Punkt, sondern in die Fläche, weil er der Entschiedenheit mißtraut, die Möglichkeit des Andersseins von Menschen und Gedanken einschließt, um vorschnelle Antworten und eilige falsche Urteile zu vermeiden.

Er ist zufrieden mit dem imperfekten Zustand der Welt, nicht aus Resignation, sondern aus Realismus, der den Menschen nicht überanstrengen und überfordern will, mit Verboten oder Geboten nicht drangsalieren möchte. Das geduldige Abwägen ist Frucht der Erfahrungen aus Krieg und Nachkriegszeit mit schwierigem Aufbau eines Vaterlandes aus gewandelter Gesellschaft. Wie von ungefähr, aber nicht ohne Absicht, erwähnt er Kafkas »Hungerkünstler«, der am Ende keine Speise fand, die ihm mundete. Aber Unzufriedenheit ist seine Sache nicht.

Im Gesicht seiner Frau spiegelt sich seine eigene Überwindung von Ent­täuschungen, das Wissen um die Umwege und Sackgassen im Leben von Mensch und Gesellschaft. Nicht selten begleitet, bereichert und sichert professionelle kunsthandwerkliche Arbeit der Ehefrau die häusliche Gemeinschaft und das Leben bildender Künstler in der DDR. Quilt heißt eine Textiltechnik. Im winzigen Arbeitsraum zwischen Küche und Wohnzimmer entstehen große Formate, säuberlich und kunstvoll in Rollen für den Versand zu einer internationalen Textilkunstausstellung im Westen vorbereitet.

Auf seine Karriere hat der Maler lange warten müssen und seiner Familie viel abverlangt an Verzicht und Selbsthilfe. Erst war er Steinmetz und Bildhauer. Die Plastizität seiner Menschenbilder zeugt noch heute davon. Der Meisterschüler Otto Nagels und Freund John Heartfields, mit dem er nach China reiste, erfuhr Ablehnung und Kränkung bis in die frühen 70er Jahre hinein. So lange mußte er sich wie viele andere mit Buchillustrationen über Wasser halten, kein schlechter Zwang zur Ausbildung handwerklicher Fähigkeit, gut auch für die verlorengegangene Buchkunst. Der Anstoß zur Durchsetzung kam überraschend, aber vielleicht nicht zufällig vom Theater, in der Person von Benno Besson, der für Molieres »Arzt wider Willen « ein gemaltes Bühnen­bild und bemalte Kostüme bestellte, ungewöhnlich für diese Zeit eher skulpturaler, architektonischer Theaterausstattungen. Das traf auf eine Affinität des Malers, der schon immer dem Theater als Produkt aus Stangen, Lappen und viel Kunst samt Phantasie zuneigte. Das Theater blieb ihm als Thema und als Verkleidung seiner Gedanken zu aktuellen Ereignissen.

Eine monographische Einzelausstellung in der Nationalgalerie Berlin (DDR) führte schließlich zur Genugtuung und Anerkennung. Der „Sitzende Akt“ von 1966, der Kristallisa­tionsobjekt absurder Vorwürfe war, es werde die Bindungslosigkeit des Menschen dargestellt oder verherrlicht, kam 1978 in die zeitgenössische Sammlung der Nationalgalerie in den Staatlichen Museen. In der Zeit davor gab es nur wenige private Sammler. Aber auch die Anerkennung im Westen kam erst jetzt, ebenso die Aufnahme in die Museumskollektion von Peter Ludwig – man möchte hinzufügen: glücklicherweise in dieser Reihenfolge.

Im zähen Bestehen erkämpft sich die innere Freiheit, wer hier lebt. Maler und Komponisten haben andere Wege als der Dichter. Mit dem Wort liegen die Konflikte offener zutage. Die Romane des Malers, der offensichtlich ein besonderes, fast erotisches Verhältnis zum reflektie­renden und umkreisenden Wort hat, blieben ungedruckt, weil die Lektoren sie nicht mochten. Im Skizzenbuch, das stets neben der Staffelei liegt, finden sich neben Zeichnungen lange Wortpassagen, die der Maler für sich selbst schreibt.

In der DDR zu leben, bedeutet eine tägliche Herausforderung, über Legalität und Legitimation nachzudenken. Warum lebt und bleibt man hier. Warum ist das eine Heimat, wenn sie doch so viele Verletzungen und Kränkungen, Erschwernisse und Einschränkungen bereithält. Warum hält man das aus? Die Frage treibt jeden um, und es kommt stets sehr schnell die Sprache darauf. Stärker als im selbstgefälligen, unbekümmerten Westen ist das bewußte Nachdenken vorhanden, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Zusammenbruch (West-Formel) bzw. nach der Befreiung (Ost-Formel) verliefen. Auch ein Maler weiß, warum vieles anders ist, warum man hier ärmer ist, ohne daß das Materielle gleich verlocken würde. Die bewußte, geplante gesellschaftliche Umwälzung durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nach Volksentscheid sei der Grund für die öffentliche Armut, die das Leben ästhetisch noch immer prägt. In der DDR dauert die Nachkriegszeit noch an; der Krieg und seine Zerstörungen sind noch sichtbar. Die Bundesrepublik konnte effektiver wirtschaften, weil die Kontinuität des Staatsapparates ökonomischer funktionierte.

Die drei Instanzen des arrivierten Malers: Künstlerverband, Kunsthandel und Akademie der Künste. Der Kunsthandel öffnet auch den Westmarkt – wegen der Devisen. Der Verband führt die Kaderakten. (Was ist ein Kader?) Die Instanzen unterhalten ein verzweigtes System von Aufträgen, Stipendien, Sicherungen, Hilfen, Vergünstigungen und Vermittlungen als materielle Voraussetzungen für die Kunstproduktion; sie regulieren die Rezeption und den Markt, verteilen Privilegien, vergönnen die begehrten Studienreisen in den Westen. Die DDR umsorgt ihre Künstler, vielleicht zu viel, zu früh und zu falsch. Das Akademiemitglied darf mit seinen Meister­schülern das begehrte Privileg von Westreisen zum Studium nutzen. Der spät anerkannte Maler, der sich durchbeißen mußte, erscheint prädestiniert für die Leitung einer Meisterklasse, wie sie die DDR in preußischer Tradition für ihre Akademie der Künste wieder eingerichtet hat.

Metzkes ist heute prominent. Im zweiten Generationsring ist er international dabei, wenn die DDR über ihren rührigen, aktiven Staatlichen Kunsthandel auf den Kunstmarkt geht. Bei der Documenta und bei »Zeitvergleich I« fehlte er noch. Jetzt folgt er nach einer Zeitverschiebung der ersten Gruppe: Tübke, Mattheuer, Heisig, Sitte. Inzwischen hat sich die Generationsfolge beschleunigt; Jüngere sind eingetreten. Die Befassung mit der Kunstrezeption im Westen macht offenbar ein gutes Stück der Selbstvergewisserung aus. Darin spiegelt sich DDR-Realität selbst Denn in einem Staat, wo abends per Knopfdruck westliche Welt als zweite (Schein-) Realität in Gefühle und Gedanken unaufhaltsam eindringt, ist der Mensch fast hilflos der Fremdbestimmung durch die Gewalt des Massenmediums ausgesetzt, weit stärker und gefährlicher als im Herkunftsland selbst. Die gelebte Realität wird vorübergehend ausgeblendet und dadurch verunsichert. In der DDR verwurzelte Kunst findet auffallendes Interesse bei westlichen Sammlern und öffentlichen Samm­lungen. Dies ist offenbar eine Reaktion aufeinander im Bewußtsein gemeinsamer Wurzeln, die sich auseinanderentwickelt, aber auch wieder aufeinander zu bewegt haben. Den Westen interessiert am Osten die Kontinuität ohne Traditionsabbruch, das Anknüpfen an die Zwanziger Jahre.

Und immer wieder kehrt das Gespräch zurück auf den Freiheitsbegriff des Künstlers und seine Absolutierung. Er sieht, daß im Westen allzufrüh der Künstler zur Entwicklung eines eigenen Markenzeichens gezwungen wird, eines Reizpunktes am überfluteten Markt. Über­anstrengung durch den Wahn von den Freiräumen. Selbstdarstellungszwang lenkt ab, überanstrengt, macht innerlich verkrampft und unfrei, unruhig und anfällig für Bewußtseins- und Schaffenskrisen. Die handwerkliche Gesinnung in der Tradition von Vorbildern gibt den DDR-Malern Gelassenheit, die hart erkämpfte Fähigkeit gesellschaftlicher Selbstbehauptung, die Kunst, soziale Kritik in Bild­sprache zu verschlüsseln und zu vermitteln, Distanz und Ironie einzusetzen.

Gerade ist auf der Staffelei eine großangelegte Theaterszene zu sehen, Commedia dell’arte-Figuren, in den ersten Malschichten herausgebildet. Das Theater dient als Mittel, einen komplizierten Sachverhalt aus den Beziehungen des Individuums zur Gesellschaft zu über­mitteln, auch zu verschlüsseln. Die Inszenierung von Gleichnissen als Sprache gegen den äußeren Druck, der auch verbindet, solidarisch macht.

Schönheit und Handwerk, zunehmende Helligkeit der Bilder, Klarheit, Heiterkeit und Leichtigkeit und ein unendlicher Themenvorrat aus dem Gegenständlichen und Figürlichen der Welt, die das Ich sich vorstellt: das sind die Kennzeichen des Schaffens von Harald Metzkes. Im größten Schrecken soll Glanz in der Malerei bleiben, so meint der Maler. Sie soll Gegenkräfte entfalten, nicht die Objektzerstörung abbilden. Sie soll Hoffnung weitertragen, in der Tradition stehen, einen langen Atem haben, gegen Bodenwellen gefeit sein.

Ulrich Eckhardt, aus: Berliner Begegnungen, Journal zur Ausstellung „Zeitvergleich ’88 – 13 Maler aus der DDR“, Hg. Berliner Festspiele, Berlin 1988