Das „Fest der Einheit“

Freude und Erinnerung, Versöhnung und Mahnung (2./3. Oktober 1990) 

40 Jahre der deutschen Geschichte können nicht durch tagespolitisches, auf wirtschaftliche Prosperität und administrative Effektivität gestütztes Management aufgearbeitet werden. Ebensowenig ist in kurzer Zeit ein der historischen Bedeutung des Tages angemessenes Berliner „Fest der Einheit“ auszugestalten. Jedoch sollen einige Akzente gesetzt werden. Denn vor unserer Haustür und in außereuropäischen Regionen entwickeln sich Not, Unruhe und daraus resultierende Konflikte. In den Stunden der größten Freude muß die moralische Herausforderung deutlich werden, die mit dem historischen Datum verbunden ist. Erst allmählich stellt sich das Bewußtsein für den tiefgreifenden Wandel ein, der in verantwortungsvollem, solidarischem Denken und Handeln zu bestehen ist. Ungetrübt kann also die Freude nicht sein.

Grund zu Übermut oder Überschwang ist nicht gegeben. Mit Augenmaß und ohne Euphorie, mit Stil und ohne sinnlosen Lärm sollte das Programm zusammengestellt sein. Ohnehin läßt der kritische, wache und nüchterne Realitätssinn der Berliner blanken Frohsinn nicht aufkommen. Der Tag kann nicht begangen werden, ohne der historischen Ursachen zu gedenken, ohne die Opfer und Verluste zu benennen, die von Deutschland und Berlin aus über Europa gekommen sind. Das zur Teilung verurteilte Land wurde unverhofft begnadigt. Die Verwandlung Europas ging von denjenigen östlichen Nachbarn aus, die am meisten unter dem Terror des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg gelitten haben. Auch die Sorgen derjenigen müssen an einem solchen Tage bedacht werden, die in der DDR die friedliche Revolution ausgelöst und mit Mut durchgestanden haben. Der Tag der Freude ist auch ein Tag der Sorge und für manche gar ein Tag der Angst. So werden die Vorbehalte sehr wohl verständlich, die allenthalben den Vorbereitungen zum „Fest der Einheit“ entgegengebracht werden. Gerade diejenigen haben sich dem Aufruf zur Beteiligung weitgehend entzogen, deren Stimme besonders wichtig gewesen wäre. Die Protokolle des Runden Tisches beispielsweise, in Auszügen von Schauspielern gelesen, hätten die Erinnerung wachrufen können an eine in der deutschen Geschichte beispiellose Anstrengung, für eine sich wandelnde Gesellschaft neue Formen des Zusammenlebens und der staatlichen Verfassung zu entwickeln. Das ging allzu schnell im Sog der ökonomischen Überwältigung unter und muß doch wieder erinnert werden, um in einem neuen gemeinsamen Land die richtigen Fundamente zu legen. Noch kein ganzes Jahr ist seit den würdigen, mutigen Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Berlin vergangen. Für eine kritische geistige Auseinandersetzung und Reflexion war noch keine Zeit, weil die Tagespolitik sprachlos und atemlos machte.

Berlin ist Mitte

Berlin ist Mitte – ein gutes Motto! Mitteleuropa soll von Berlin aus wiederbelebt werden; aber es wird noch eine Weile dauern, bis der Name der Stadt ohne Vorbehalte und Argwohn als Synonym friedlicher Zusammenarbeit insbesondere mit den östlichen Nachbarn anerkannt wird. Die Aufgabe der Bewährung in dieser neuen europäischen Rolle wird die erste und wichtigste Pflicht für die kommenden Jahrzehnte sein. Die Glaubwürdigkeit dieser Anstrengung hängt vom würdigen Umgang mit unserer Geschichte ab. Zum Auftrag des Erinnerns gehört die Achtung gegenüber den Opfern, die Toleranz gegenüber den Einwanderern, die Pflege historischer Stätten, wie insbesondere des jetzt im künftigen Regierungsviertel liegenden Gestapo- oder Prinz-Albrecht- Geländes mit der Ausstellung „Topographie des Terrors“. Die geistige Kraft Berlins stammte aus der deutsch-jüdischen kulturellen und geistigen Symbiose über Jahrhunderte hinweg. Das geschändete Grab Moses Mendelssohns befindet sich in der Mitte der Stadt auf dem alten Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße, und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ruhen viele Gelehrte, Dichter und Künstler der Aufklärung. Für das „Fest der Einheit“ wird eine historische Meile markiert, an der Stationen der Geschichte zu erleben sind. Daran anschließend ist eine Reihe von nachdenklichen Veranstaltungen geplant, die den populären Angeboten des Festes notwendig hinzugefügt werden müssen. Berlin erwartet viele Gäste. Wir wollen gute Gastgeber sein und um Sympathie werben.

Berlin ist Mitte. Also begehen wir das Fest in Berlins Mitte, wo sich Ost und West Unter den Linden, zwischen Alex und Pariser Platz, begegnen.  

Ulrich Eckhardt, Programm-Journal zum 2./3. Oktober 1990