Zwei Wochen im Dezember 1989

Claudio Abbado wird Nachfolger von Herbert von Karajan

Am 8. Oktober 1980 wurde Claudio Abbado als Nachfolger Herbert von Karajans zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker (damals noch: Berliner Philharmonisches Orchester) gewählt. Zwei Monate später, am 7. Dezember 1989, trat er zusammen mit dem damaligen Intendanten Ulrich Eckhardt vor die Presse. Neu war, dass ihm im Vertrag erstmals in der Geschichte des Orchesters die gesamte Künstlerische Leitung für die Philharmonie übertragen wurde. – Foto Reinhard Friedrich

1989/1990 war Ulich Eckhardt doppelter Intendant: Zusätzlich zu seinem Amt bei den Berliner Festspielen übernahm er diese Position interimsweise auch bei den Berliner Philharmonikern. In dieser Zeit begleitete er den Übergang von Herbert von Karajan zu Claudio Abbado als Chefdirigenten. Mit beiden war Eckhardt in enger künstlerischer Zusammenarbeit verbunden. Für die Stiftung Berliner Philharmoniker hat er die Zeit an der Schwelle zu einer neuen Epoche beschrieben:

Am 5. September 1989 musizierte Claudio Abbado mit dem Berliner Philharmonischen Orchester im Eröffnungskonzert der Berliner Festwochen Werke von Johannes Brahms. Unter dem Eindruck dieser Begegnung wählte ihn die Vollversammlung des Orchesters – entgegen aller Prognosen – zum Nachfolger Herbert von Karajans, der im Juli verstorben war. Voller Enthusiasmus über die neuen Perspektiven, die sich ihm hier boten, kam Claudio Abbado im Dezember 1989 wieder nach Berlin. Der Vertrag wurde zügig besprochen und abgeschlossen.

Anders als sein von ihm hochverehrter Vorgänger nahm der neu gewählte Chefdirigent einen ständigen Wohnsitz in der Stadt am Ludwigkirchplatz und sagte alle anderen Verpflichtungen ab, um in permanenter Präsenz den anstehenden Generationswechsel im Orchester gestalten und neue musikdramaturgische Linien einführen zu können. Im Vertrag wurden wichtige Details anders geregelt als es bisher üblich war. Insbesondere legte er Wert auf die zusätzliche Funktion als für alle philharmonischen Programme verantwortlicher Künstlerischer Leiter; darüber hinaus dachte er bereits daran, die Philharmonie als Stiftung zu verselbständigen, um einen universellen künstlerischen Anspruch realisieren zu können.

Zwei Wochen im Dezember 1989 – die tatsächliche Öffnung und Schleifung der Berliner Mauer war noch in vollem Gange – waren eine intensive Zeit der Weichenstellung. Am 16. und 17. Dezember 1989 dirigierte er als Auftakt die ersten kurzfristig anberaumten Konzerte – mit einer öffentlichen Generalprobe nur für Publikum aus der DDR. Die Aufbruchstimmung dieser Tage erfaßte den politisch denkenden Musiker Claudio Abbado, der seine Arbeit stets auch als gesellschaftlichen Auftrag verstand. Der richtige Mann zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle – so war er selbst überzeugt, und er handelte danach.

Gesellschaftliche Verantwortung

Am 7. Dezember 1989 trat er zusammen mit dem damaligen Intendanten (Ulrich Eckhardt) vor die Presse und berichtete, wie er, vom Flughafen abgeholt, zum ersten Mal das Zimmer des Chefdirigenten betrat und vom Fenster aus den seinerzeit noch wüsten und leeren Potsdamer Platz sah, wo zuvor die Stadt im Konflikt der Weltmächte schmerzlich geteilt war. Jetzt befand sich Berlin geopolitisch in einer neuen Lage, wo die Idee von Mitteleuropa wieder Wirklichkeit wurde, wo Berlin unverhofft in die Mitte zwischen Paris und Moskau rückte, Prag und Warschau zu Nachbarn wurden. Sein historisches Bewußtsein war durch diese Konstellation herausgefordert und angesprochen, und er war entschlossen, auf die neue Topographie geistig und künstlerisch zu reagieren. Jahre zuvor war schon die Gründung des Gustav-Mahler-Jugendorchesters durch die europäische Utopie motiviert, die jetzt Realität werden konnte – und nirgendwo so handgreiflich und hautnah wie im vereinigten Berlin. „In dieser neuen Phase einer Politik für Deutschland und Berlin übernimmt das Orchester, das immer als Botschafter des Landes galt, mit einem politisch bewußten Chef eine erweiterte kulturpolitische Rolle. Nichts, was in dieser Zeit in dieser Stadt künstlerisch geschieht, ist ohne gesellschaftliche Verantwortung denkbar. Dementsprechend sind neben der ganz außerordentlich wichtigen ersten Israel-Reise Konzerte in der (damals noch existierenden) DDR, in Polen und in der (damaligen) Sowjetunion zügig geplant.“

Langfristig konzipierte dramaturgische Programmüberlegungen nahmen bereits in der Pressekonferenz zum Start der neuen Ära breiten Raum ein: „Mein Anliegen gilt der Kammermusik – nicht nur weil dadurch die Spielkultur von Orchestern allgemein gefördert wird, sondern weil man gerade auf dem Gebiet der Kammermusik auch Zusammenhänge darstellen kann, damit Programme nicht der Zufälligkeit irgendwelcher aktueller Wunschlisten folgen, sondern durch langfristig angelegte Musikdramaturgien künstlerische Wechselwirkungen verdeutlicht werden. Dann ist es eben erforderlich, zu einem Orchesterwerk die zugehörige Kammermusik oder zu einer bestimmten Epoche Werke verschiedener Besetzungen zusammenzubringen – sowie bildende Kunst, Theater, Tanz, Film und Literatur einzubeziehen.“ Es entstanden die großen interdisziplinären Projekte: ‚Prometheus’ 1991, ‚Hölderlin’ 1992, und ‚Antike’ 1993.

Das war für das Haus eine völlig neue und ungewohnte Herangehensweise. Binnen weniger Monate intensiver Planung im Diskurs mit anderen Kulturinstitutionen entstanden Konzepte für die in den folgenden Jahren realisierten thematischen Zyklen, mit denen Abbado und die Philharmonie Furore machten und Maßstäbe setzten. Es begann eine nachhaltig wirksame Phase des Übergangs und der Erneuerung – eine glückhafte Verbindung von Personen und Institutionen, die die nächste Epoche der philharmonischen Geschichte bereicherte und prägen sollte.

An der Schwelle zu einer neuen Epoche

Im Stadium der Reife hatte sich Claudio Abbado der Stadt Berlin verpflichtet – an einem historischen Wendepunkt. Nach reichen internationalen Erfahrungen fand er in der Berliner Philharmonie seine ideale Wirkungsstätte – den richtigen Ort für einen nachdenklichen Musiker. Die Verbindung zu Berlin erfüllte sich an der Schwelle zu einer neuen Epoche in der Geschichte der Stadt und der Nation. Begonnen hatte die Verbindung Abbados mit Berlin 25 Jahre zuvor, als er in der Reihe „RIAS stellt vor“ am 27. Oktober 1963 das damaligen RSO dirigierte. Herbert von Karajan besuchte das folgende Konzert am 18. August 1964, beobachtete den aufstrebenden jungen Maestro und lud ihn unverzüglich nach Salzburg zum Dirigat von Mahlers 2. Symphonie ein. Bei den Berliner Festwochen musizierte er seit 1974 regelmäßig mit dem Berliner Philharmonischen Orchester. Berlin inspirierte ihn. Als Künstler mit historischem Bewußtsein fand Abbado in Berlin die Offenheit für Gegenwart und Zukunft in geschichtsträchtiger Umgebung und politischem Kontext. Hier, in harter Realität, wurde er angeregt durch die Synthese west-östlichen dialogischen Denkens – gewiß nicht ohne Folgen für Interpretation überlieferter Werke der abendländischen Musikgeschichte.

Das Pathos der Nüchternheit und die Strenge der Fragestellungen, die Zuhören verlangen, die Zuwendung aus Distanz und Respekt vor dem Anderen, vor dem Anderssein, die Genauigkeit in Phantasie und Wahrnehmung, die den Ort als Menschenwerkstatt kennzeichnen, die Lust auf das Neue, die der Ort verlangt – all dies entsprach dem Wesen und Wirken des Musikers und Zeitgenossen Claudio Abbado. Er war sich der Notwendigkeit bewußt, Musik zu aktualisieren, sich für die Gesellschaft und Gegenwart zu engagieren und als Künstler Zeichen der Humanität zu setzen – so sein Credo: „Die freie Entfaltung der schönen Künste ist nicht ein luxuriöses Resultat von gesellschaftlichem Reichtum, sondern umgekehrt: Die Kultiviertheit schafft erst den Reichtum.“

Ulrich Eckhardt, Erinnerungen an Claudio Abbado, Stiftung Berliner Philharmoniker 2014