50 Jahre Frieden in Deutschland

Zu den Veranstaltungen anläßlich des 8. Mai 1945 – 1995

Gedenktage – besonders der 8. Mai – haben ihre Tücken. Die nach dem Kalenderzwang gehäufte Proklamation oder Manifestation des guten Willens oder eines geläuterten Gewissens kann auch unge­wollt zur Neutralisierung oder Verdrängung geschichtlicher Realien führen. Ebenso leicht werden Gedenktage zur Beute der Ideologen. Am Umgang mit Gedenkdaten lassen sich gesellschaft­liche Verwirrungen, politische Konflikte und Verirrungen deut­lich ablesen.

Die Reichhaltigkeit und vielleicht schwer überschaubare Viel­falt des Programms resultiert aus der Fülle des Engagements, aus dem Willen zur Rationalität und dem Bestreben, fernab politisch-ideologischer Phrasen die Sache mit Genauigkeit, mit Gerechtigkeit, Treue zum Detail und mit Verantwortung zu be­trachten. Walter Benjamin schrieb im Kanon für den Begriff der Gegenwart: „Jeder Augenblick ist der des Gerichts über gewisse Augenblicke, die ihm voraus gegangen.“

Aus dem politischen Tagesstreit muß dieser Anlaß herausgehalten werden. Zeichen sollen gesetzt sein. Eine Zäsur zwischen Epo­chen ist zu markieren. Aber es darf kein Trennungsstrich oder Schlußstrich gezogen werden im Bewußtsein von den Zusammenhän­gen.

Der Titel will das Nachdenken und das Fragen herausfordern. Das Fragezeichen ist mitgedacht, wenn das Thema mit „50 Jahre Frie­den in Deutschland“ bezeichnet wird, sonst würde es blasphemisch klingen. Der Krieg hat Tradition in Deutschland und kam erst wirklich 1945 außer Kurs. Und doch sind Heldenverehrung und Gewaltverherrlichung noch nicht aus der Gesellschaft ver­schwunden. Noch immer gibt es mehr heroisierende Kriegerdenkmä­ler als Mahnmale für die Opfer im Lande. Kein selbstgefälliger Rückblick, sondern anhaltende Mahnung und Bewußtseins­erforschung sind die Ziele des Programms.

Der 8. Mai war in der DDR ein verordneter Feiertag der Befrei­ung. Das mag die Neigung zur Abnutzung und Abstumpfung bei Ge­wöhnung im zunehmenden zeitlichen Abstand befördert haben. Dem 50. Jahrestag kann es heute ähnlich ergehen: Eine Welle der Hi­storisierung, von Medienmacht verstärkt, kann ihn zwischen Bildern und Texten, Buchdeckeln und Archivschränken erdrücken und die rationale wie emotionale Vergegenwärtigung verhindern. Wie gesagt: Gedenktage sind tückisch.

Der Anlaß verträgt keine spektakulären Veranstaltungen. Nach­denklichkeit stellt sich in den eher intimen Orten der Kultur und der Religion ein. Aus der Stille kommen Gespräch, Bericht, Lesung und Musik.

Die Akzente der Programmgestaltung sind evident und haben ihren Niederschlag in konkreten Projekten gefunden: Der 8. Mai 1945 ist der archimedische Punkt für das Verstehen der gesamten, zeitweise zweifachen deutschen Nachkriegsgeschichte. Er erklärt die 40jährige Zweistaatlichkeit Deutschlands ebenso wie die neue europäische Ordnung. Die Kapitulation war Befreiung von selbstverschuldeter faschistischer Diktatur, deren Ursachen weiterhin erforscht werden müssen. Freiheit und Frieden kamen von außen und forderten unermeßliche Opfer schuldloser Nach­barn.

Der Frieden der 50 deutschen Jahre ist begleitet von mindestens 150 Kriegen in der Welt mit mehr, als 45 Millionen Toten (nach Angaben von amnesty international). Der Frieden bleibt gefähr­det. Der Frieden war lange Zeit vom Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg der feindlichen Weltmächte garantiert.

Der Frieden war zunächst ein Geschenk der Sieger. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte mit der Bundesrepublik die erste gefe­stigte Demokratie in der deutschen Geschichte erprobt werden. Der innere Frieden im Lande selbst ist keineswegs gesichert. Von einer gewaltlosen Gesellschaft ist die Bundesrepublik noch weit entfernt.

Das Nachdenken und Innehalten 50 Jahre nach dem 8. Mai 1945 dient auch dazu, die persönlichen Erinnerungen, das eigene Er­leben, die individuellen Biographien nicht dem Vergessen preis­zugeben, die immer weniger werdenden Zeitzeugen zu befragen, zum Reden zu bringen und dabei insbesondere die Emigrierten, die nicht aus dem Exil Heimgekehrten, die auch nach dem Kriege aus politischen Gründen im jeweiligen System Verdächtigten oder Verfolgten zu Wort kommen und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

In diesem Sinne sind kennzeichnend für die Programmgestaltung: die Ausstellung „Berlin 1945“ gegenüber der symbolträchtigen Gedächtniskirche, die Gesprächsreihen und litera­rischen Veranstaltungen, die Emigran­ten-Ausstellung am Anhalter Bahnhof, das Erinnerungs­konzert mit Musik und Wort in der Kirche Maria Regina Martyrum, die Einweihung des Centrum Judaicum in der teilweise wieder aufgebauten Neuen Synagoge in der Oranienbur­ger Straße, die Gottesdienste und Friedensandachten mit stadtweitem Glockengeläut, der Baubeginn für die „Topogra­phie des Terrors“ und die Wiedereröffnung des Museums der Kapi­tulation in Karlshorst, ferner die Aufstellung des Denkmals für den Widerstand der Frauen in der Rosenstraße und viele Konzerte gegen Krieg und Gewalt. Auch die Berliner Festwochen „Berlin-Moskau / Moskau-Berlin“ gehören in den Zusammenhang, und den Schlußpunkt des Gedenkjahres (auch 50 Jahre nach Hiroshima) setzen Arnold Schönberg und Luigi Nono im Konzert des Gustav-Mahler-Jugendorchesters mit Claudio Abbado am 9. November 1995.

Das Nachdenken über den Wiederbeginn, über den Umgang mit Schuld und den Opfern, über die schöpferische geistige Besin­nung auf streitbare Humanität und den Aufbau einer neuen Ge­sellschaft kann keinen besseren Ort haben als Berlin. Berlin ist im besonderen Maße – nicht nur weil die Hauptstadtrolle es erforderte – der Ort historischer Reflexion, wo jüngste deut­sche Geschichte noch gegenwärtig ist, wo der Krieg, seine Ursa­chen und Wirkungen noch nicht unter geglätteter Oberfläche ab­gelegt und historisch abgehandelt sind. Allenthalben in der Stadt sind die Narben zu sehen, Einschüsse in den Fassaden noch nicht säuberlich repariert. Der faschistische Terror und seine Instanzen haben noch ihre erkennbare Topographie, ihre konkre­ten Adressen in der Stadt – wenn auch in der Nachwendezeit schon manches im Baufieber oder Revisionseifer unkenntlich ge­macht wurde. In Berlin sind die unvorstellbaren Verbrechen wie der Massen- und Völkermord unentrinnbare Gegenwart. Ravensbrück und Sachsenhausen sind nicht ferne Namen weit entrückt in längst vergangenen überholten Zeiten. Von hier aus gedacht, ge­winnt aktuelle deutsche und europäische Politik eine andere Perspektive und andere Maßstäbe. Demokratische Reformen auf diesem Hintergrund weiterzuführen, ist die Aufgabe der Nachge­borenen. Konservative Manifeste von einer selbstbewußten Nation sehen in solchem Berliner Kontext dürftig und verschlissen aus.

Die zwölf Jahre vor 1945 können nicht zu einer Episode der deutschen Geschichte verharmlost werden. Was geschah, soll ge­genwärtig sein, kann nicht historisiert werden. Waches Erinnern lahmt nicht, sondern macht sensibel, wachsam und empfindlich für die Schrecken des Krieges und Terrors, der Gewaltherrschaft und Unmenschlichkeit in der Welt. Kollektiven Gedächtnisschwund darf sich dieses Land angesichts der anhaltenden Tragödien nicht leisten.

Ulrich Eckhardt, Vorwort für das Programm-Magazin, 1995