Zeit der Übergänge

Die Berliner Philharmoniker 1990-1991

Scharouns visionäre Philharmonie, nach der Teilung Berlins am östlichen Rand der westlichen Stadt gebaut, liegt jetzt im Herzen der neuen Stadt, die sich mit dem angestammten Umland wieder verwurzelt und sich neue mitteleuropäische Kraftlinien erschließt. Das Berliner Philharmonische Orchester soll und will seinem kulturpolitischen und künstlerischen Auftrag gerecht werden: Aktualisierung der fortschrittlichen, innovativen Berliner Traditionen, historische Erinnerung, Erneuerung und Veränderung sowie – besonders wichtig in der Zeit der Selbstbespiegelung – Weltoffenheit und Internationalität Als Botschafter eines in rascher Veränderung befindlichen Gemeinwesens und dessen geistiger und politischer Grundlagen war das Orchester jetzt in Israel, wird es nach Dresden, Leipzig, Prag, Warschau, Moskau, Wien, Paris, London, Spanien und New York, aber auch in die Kulturstadt Europas 1990 Glasgow, nach Japan und wieder nach Israel reisen. Berlin bleibt angeschlossen an den Kreislauf der Weltmusik auch durch Einladungen an zeitgenössische Komponisten und führende Interpreten. Ab 1991 werden die Salzburger Osterfestspiele wieder von den Berliner Philharmonikern bestritten.

Wandel und Veränderung hat auch das Orchester selbst erfahren: Die Orchesterrepublik wählte sich einen neuen künstlerischen Leiter und ständigen Dirigenten, Claudio Abbado, noch Musikdirektor der Wiener Staatsoper, dessen Amtszeit am 1. September 1990 beginnt. Er wird neue Akzente in die musikalische Arbeit bringen. Die neue Ära ist auch mit dem Generationswechsel innerhalb des Orchesters verbunden.

Die Konzertprogramme der zwei bevorstehenden Spielzeiten spiegeln erst in Ansätzen die Bemühungen um eine neue Musikdramaturgie, die mehr als bisher Zusammenhänge aufzeigen, die Orchestermusik mit der Kammermusik enger verflechten möchte.

Viele jetzt in Gang gesetzte Projekte lassen sich erst im Lauf der kommenden drei Spielzeiten realisieren (z. B. Konzerte mit Leonard Bernstein, Sir Georg Solti, Nicolaus Harnoncourt und Pierre Boulez sowie besondere Programmschwerpunkte des künstlerischen Leiters Claudio Abbado). In dieser Zeit des Übergangs wird die Planung erheblich beeinträchtigt durch die reparaturbedingte Schließung des großen Saals der Philharmonie im Jahre 1991 (bis voraussichtlich Ende Januar 1992). Die hohe Zahl der Abonnenten … macht es notwendig, die in den Kammermusiksaal verlegten Konzerte jeweils vierfach durchzuführen…

Für Sonderkonzerte konnte dank solidarischer Kooperation das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt gewonnen werden. Damit wird ein wesentliches Ziel erreicht, wegen der neuen Topographie und Nachfrage das Kartenangebot im freien Verkauf zu vermehren…

Besondere Aufmerksamkeit sei auf diejenigen Konzerte gelenkt, die Kompositionen der zeitgenössischen Komponisten Hans Werner Henze, György Kurtag, Sofia Gubaidulina, Alfred Schnittke und Aribert Reimann präsentieren.

Die Arbeit am Programm ist als work in progress zu verstehen. Ergänzungen, Erweiterungen und Begleitveranstaltungen werden im Verlauf der musikdramaturgischen Weiterentwicklung noch hinzugefügt werden. Selbst in einem so hoch organisierten Apparat, wie es die Philharmonie darstellt, muß der Freiraum bleiben, um aktuelle Entwicklungen der Musik aufgreifen zu können.

Ulrich Eckhardt, zur Spielzeit 1990/91 des Berliner Philharmonischen Orchesters