Kulturpolitik als Entspannungspolitik

„Der Tagesspiegel“ über 28 Jahre Intendanz von Ulrich Eckhardt (2000)

In den viel zu guten alten Zeiten, als wir wunschlos glücklich schienen, erzählte man sich in Berlin einen jetzt auch wieder zur Jahreszeit passenden Witz: Berlin, gemeint war natürlich West-Berlin, feiert 364 Tage im Jahr Festspiele. Und wegen des einen festspielfreien Tags, dem 24. Dezember, verhandelt Ulrich Eckhardt mit einer Off Theatergruppe aus Bethlehem …

Ulrich Eckhardt und Nele Hertling – Foto Erika Rabau

Tempi passati, seit über zehn Jahren schon. Es ist vielleicht die erstaunlichste Tatsache in Ulrich Eckhardts Laufbahn, dass er sämtliche Ost-West-Phasen im Amt erlebt hat. Als er 1973 die Berliner Festspiele übernahm, damals aus Bonn kommend, wo er Kulturreferent war, ging der Kalte Krieg zu Ende. Eckhardt verstand Kulturpolitik als Entspannungspolitik. Während der späten siebziger und achtziger waren Gastspiele aus Osteuropa bereits Normalität. Zu den großen Glücksfällen der Ära Eckhardt zählt die Teilnahme der DDR am Theatertreffen im Mai (!) 1989 – eine historische Setzung.

Der Blick ging in diesen goldenen West Berliner Zeiten eines zugleich saturierten und lebendigen Kulturbetriebs nicht nur nach Osten, hinter den Eisernen Vorhang. Eckhardts Team hob das Horizonte-Festival aus der Taufe: die Parade der außereuropäischen Kulturen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas. Ariane Mnouchkine, Peter Brook, Tadeusz Kantor, Andrzej Wajda, Anatoli Wassiljew – es gab einmal eine Zeit, da war das bedeutende internationale Theater hier an der Tagesordnung, auch der Tanz.

Die Schlagworte vom Schaufenster West Berlin und von den Festspielen als „Kompensationsveranstaltung für Inselbewohner“ treffen jedoch die damaligen Verhältnisse kaum. Gewiss, die Festspiele hatten einen politischen Auftrag. Sie waren lange Zeit eine West-Berliner Spezialität wie das KaDeWe und die Kneipen ohne Sperrstunde. Aber allein mit politischen Vorgaben hätte sich das Eckhardtsche Universum niemals füllen lassen.

Eckhardt begriff die paradoxe Lage der geteilten Stadt als Chance. Der Festspiel-Blick war auch stets nach Innen gerichtet, auf Berlin und die deutsche Geschichte. „Berlin um 1900“, „Die zwanziger Jahre“, die „Jüdischen Lebenswelten“ und die Preußen-Ausstellung, die 1981 den Prototyp abgab für die Festspiel-Panoramen, waren Bildungsstätten. Da wurden Perspektiven eröffnet und, ganz handfest, Häuser wiedergewonnen – der Gropius-Bau, das Haus der Kulturen der Welt, vorübergehend das Schiller-Theater und nun die Freie Volksbühne sind direkt oder indirekt mit Festspiel-Initiativen verbunden. Auch das Hebbel-Theater: Dessen Intendantin Nele Hertling, eine alte Weggefährtin und gelegentliche Widersacherin Eckhardts, holte Tanz und Performance in das lange leer stehende Kreuzberger Schmuckstück. Auf ihre Art ist Hertling das Pendant zu Eckhardt: ebenso ausdauernd und einflussreich, eine Autokratin hinter den Kulissen.

Sanfter Festspiel-Furor

Aus Programmen wurden permanente Bühnen, und diese Bühnen konzipierten wieder Festspiel-Programme, eine fortlaufende Selbstvervielfältigung. So erklärt sich die Wahrnehmung, dass in West-Berlin seinerzeit Festspiele in Permanenz veranstaltet worden sind. Ein Phänomen: Es lag nicht nur an der Fülle des Angebots, sondern es ging um das Eckhardt-Prinzip. Die Festspiele überzogen die Stadt mit einem dichten Netz von Kooperationen, und sie erfanden Spielräume, wo nie zuvor Musik und Theater aufgeführt worden waren – auf Straßen und Plätzen, in Gärten und Kellern, in Museen. Bei aller Weltläufigkeit unterwarfen sich die Festspiele dem deutschen Gründlichkeitsgebot. Zumal in der Musik wurden ein ums andere Mal Zyklen aufgelegt – Gustav Mahler, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg -, die auf Vollständigkeit zielten. Bei den großen kulturhistorischen Ausstellungen überboten sich die Festspiele mit Begleitprogrammen immer wieder selbst. Die 750-Jahrfeier bildete 1987 den Höhepunkt dieses sanften Festspiel-Furors. Das Eckhardt-Prinzip richtete sich gegen das Konsumverhalten in der Kultur. Und doch haben die Festspiele auch befördert, was sie verhindern wollten: die Events und die Highlights.

Ulrich Eckhardt geht nach 28 Jahren in den Ruhestand. Eine enorme Zäsur. Wie vielen großen Männern fällt Eckhardt der Abschied schwer. Das letzte Jahrzehnt brachte den Festspielen nicht mehr die glänzenden Erfolge. Es schien, als habe sich das Paradox der Berliner Situation gegen Eckhardt und seine kleine, schlagkräftige Organisation gekehrt. Der Festspielbetrieb vibrierte, solange in der Stadt politischer Stillstand herrschte. Als die Mauer fiel und die Vereinigung vollzogen war und Berlin in den Einfluss neuer Zentrifugalkräfte geriet, lief der Festspiel-Motor nicht mehr rund.

Eine Institution war Eckhardt längst, als die neue Zeit begann. Man hat hat ihn als heimlichen Kultursenator bezeichnet, der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen hörte auf seinen Rat, und das will etwas heißen. Wann immer es in Berlin einen Grund zu feiern gab, zuletzt das Millennium, hat Diepgen seinen Meister Eckhardt geholt. Halb zog es ihn, halb sank er hin: So verhielt es sich mit Eckhardt und der Repräsentationskultur. Sponsoren hat er geholt, als noch keiner sonst davon redete. Wo andere sich mit Arroganz und Wichtigtuerei panzern, pflegt Eckhardt eine beinahe schon buddhistische Ruhe – und eine Bescheidenheit, die provozierender wirken kann als alle Eitelkeit.

West-Berlin war ein Provisorium. Aber nichts ist so haltbar wie provisorische Lösungen. Und so ergaben sich, anderswo undenkbar, diese kleinen Ewigkeiten. Zwanzig Jahre lang leitete der gestern zu Grabe getragene Götz Friedrich die Deutsche Oper. Moritz de Hadeln, im kommenden Jahr noch ein letztes Mal Berlinale-Chef, kommt auf eine ähnlich lange Dienstzeit. Eberhard Diepgen regiert schon in der zeitlichen Dimension eines Helmut Kohl. Aber übertroffen hat sie alle, uneinholbar, Ulrich Eckhardt. Und er hat sich mit der Schau der „7 Hügel“ einen Schlussstein gesetzt, der noch einmal alles in den Schatten stellte, was je in Berlin kulturell aufgeführt wurde. Weit über 30 Millionen Mark kostete die Ausstellung. Wer, außer Eckhardt, hätte sich das leisten können, leisten dürfen, in diesen Zeiten? Der Senat, die Lotto-Stiftung, die Medien, das Publikum – alle haben noch einmal mitgespielt bei diesem letzten, späten Festspiele-Gewaltakt.

Symbol der Kontinuität

Wenn er nun tatsächlich geht, wird man die Sätze hören, die bei solchen Anlässen gesagt werden müssen. Dass er sich um die Stadt verdient gemacht hat, dass Berlins Kultur sich ohne ihn anders entwickelt hätte und dass man seinesgleichen nicht findet im internationalen Festspielbetrieb. All diese Nachrufe zu Lebzeiten stimmen. Sie sind nur ein wenig zu kurz gegriffen. Es ist viel berlinischer: Ulrich Eckhardt ist so etwas wie ein wandelndes Brandenburger Tor geworden, in diesen 28 Jahren. Bis hin zur Erstarrung ein Symbol der Kontinuität – aber auch der Veränderung. Kann man ein Monument kritisieren? Kann man ihm vorwerfen, dass es dort steht, wo es steht?

Wie so vielen Patriarchen war es Ulrich Eckhardt nicht vergönnt, seine Nachfolge zu regeln. Und die Ironie der Geschichte wollte es, dass Eckhardts Nachfolger nun in die Freie Volksbühne einzieht, in jenes Haus, das Eckhardt so sehr liebte, aber nicht mehr zurückgewann; dafür war die Zeit noch nicht reif. Die Ironie will es auch, dass mit der Berufung von Joachim Sartorius kein Berlin-Fremder das Eckhardtsche Erbe übernimmt. Sartorius wird im Januar seine Pläne vorstellen und sein neues Team. Altgediente Gefolgsleute Eckhardts werden ihre Plätze räumen; ein für Berliner Verhältnisse ungewohnter Vorgang. Ab dem Jahr 2001 übernimmt der Bund die Berliner Festspiele GmbH in seine Finanzregie. Auch dies ist keine Kulturrevolution, sondern Ausdruck hauptstädtischer Veränderungen.

Zuletzt klangen Ulrich Eckhardts Äußerungen allzu defensiv, wenn er von seinem Lebenswerk Berliner Festspiele sprach (er würde das Wort Lebenswerk freilich selbst nicht benutzen), ein Anflug von Bitterkeit lag in seinen Worten. Verständlich, wenn man den Zustand der Berliner Kulturpolitik betrachtet. Aktionismus, Flickschusterei und Sparpolitik waren seine Sache nie. Er sprach im Tagesspiegel davon, dass man die Festspiele zu einem Laboratorium umbauen „und wieder mehr in die Tiefe statt in die Breite gehen“ solle. In jedem Fall will der Neue das Theatertreffen erhalten und die Festwochen verkürzen. Der Laboratoriums-Gedanke dürfte Sartorius sympathisch sein. Das spricht dem früheren Leiter des Berliner DAAD-Künstlerprogramms aus dem Herzen.

Als der designierte Festspiele-Chef kürzlich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung im kleinen Kreis über die Zukunft der Berliner Festspiele diskutierte, trug man alle möglichen Wünsche und Vorstellungen an ihn heran. Dabei wurde noch einmal das alte Eckhardt Prinzip deutlich – die Festspiele als Magnet und Verteiler der Berliner Kultur zugleich. Joachim Sartorius hat aber das Glück, dass man ihn und seine Arbeit nicht an seinem Vorgänger wird messen können. Etwas Neues beginnt. Rom hat nur sieben Hügel. Einen achten Hügel gibt es nicht. Auch keinen zweiten Meister Eckhardt.

Rüdiger Schaper, Der Tagesspiegel, 20. 12. 2000