Claudio Abbado – Musik und Politik

Mein Verständnis von Humanität in der heutigen Welt darf nicht gleichgesetzt werden mit der Programmatik einer politischen Richtung. Damals wie heute bin ich davon überzeugt, daß Musikmachen ein Akt gesamtgesellschaftlicher Verantwortung ist, der menschliche Begegnungen und Erkenntnisse fördert.So verstanden ist der Beruf des Künstlers im Kern politischer Natur.
Gesellschaftliches Bewußtsein leitet den Künstler in der Wahrnehmung und Ausgestaltung seiner ihrer Arbeit – darüber hinaus mischt er sich aktiv in Kulturpolitik ein – durch Reformen und Innovationen.
Hat Musik Macht? Zweifel, ein Gefühl von Ohnmacht, Skepsis, Enttäuschung und Ernüchterung begleiten den Kulturschaffenden. Wird er mit seiner Botschaft gehört – oder doch nur benutzt?
Denn Musik ist nur ein Versprechen; sie kann ehrliche Fragen stellen, mehr kann sie nicht, das ist aber schon sehr viel. Musik macht Menschen bestimmt klüger, aber nicht unbedingt besser. Musik – verstanden als soziale Kunst – ist eminent politisch.
Ist das, was Künstler tun, noch reine Kunstübung oder schon Kultur-Politik? Wo geht Musik über in Politik?Wie politisch ist die Suche nach Wahrheit, Schönheit, Einfachheit und Stille?
Der Schauspieler hat nur seine Worte, sein Charisma und seine Prominenz, ein Dirigent kann darüber hinaus hierarchische Macht und institutionellen Einfluß einsetzen, der auch in Bezirke von Politik und Wirtschaft hineinreicht.
Claudio Abbado

Claudio Abbado und Ulrich Eckhardt, Mosse-Lecture, HU Berlin 2011
Foto Niels Leiser

Claudio Abbado hätte gute Gründe, nur Konzerte zu geben. Er hat alles erreicht in der weiten Welt der Musik. Seine Interpretationen (z. B. von Mahlers Schaffen) setzen Maßstäbe. „Wohin, Maestro? – Egal – ich werde überall erwartet“ – könnte für ihn ebenso wie seinerzeit für Karajan gelten. Aber er glaubt an die Veränderbarkeit der Umstände, die Verbesserung der conditions humaines, an den beharrlichen stillen Widerstand gegen als falsch und irrig erkannte Fehlentwicklungen, an die Notwendigkeit für die Künste, vor Gefahren für die Zivilgesellschaft zu warnen und die Verletzung von Menschenwürde anzuprangern. Er glaubt an die Kraft der Erneuerung. Er ist kein Rebell, steht nicht auf verbalen Barrikaden, lehnt Propaganda und Agitprop ab; aber er reformiert, wo er nur kann, die tradierten Usancen, wandert durch die Realitäten – beobachtend, Chancen witternd und zugreifend, würde niemals Parolen vor oder in Konzerten verlesen, sondern darauf vertrauen, daß seine wohlüberlegten Programme ihr läuternde, ergreifende und erhellende Wirkung entfalten.

Spuren und Stationen:
1965: UA Atomtod von Giacomo Manzoni (Piccola Scala Milano)
1965 / 1967 Canto sospeso von Nono in Perugia/Hamburg (Berlin 1992)
1972 mit Pollini „Musica nel nostro tempo“ (mit Gewerkschaften und KPI)
1973 mit Nono und Pollini „Musica/Realtà“ Reggio Emilia

„Was hat Musik mit Politik zu tun“ brüllte das Publikum, als Pollini eine persönliche Erklärung gegen den Vietnam-Krieg vor Chopin verlesen wollte. Natürlich kann Musik ihrem Wesen nach nicht direkt ein Mittel der Politik sein – oder sie verkommt zur Beschönigung oder Verschönerung -und verliert ihr Wesen als Vertonung oder Verkörperung von Widerstand gegen alles Häßliche und Böse und gegen Verletzung von Menschenwürde.

Vor über 40 Jahren rief Claudio Abbado als Chef der Mailänder Scala die „concerti per lavoratori e studenti“ ins Leben, holte Arbeiter und Schüler in den ehrwürdigen Musentempel, trat zusammen mit dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Komponisten Luigi Nono auch in Fabriken auf. Doch letztlich ist er ein Künstler der leisen Töne, zu wenig Propagandist, als daß er sich auf Dauer zum Vorkämpfer einer musikalischen Befreiungsbewegung hätte machen wollen. Um seine Ideen unter bestmöglichen Arbeitsbedingungen realisieren zu können, trat er den Marsch durch die Institutionen an, in London, in Wien und von 1989 bis 2002 Berlin.

Hier hat er die hochpolitische Zeit der radikalen Veränderung zu seiner Ära gemacht Seine Amtszeit begann gleichzeitig mit einer weltgeschichtlichen Zäsur und begleitete produktiv den anhaltenden Prozeß gesellschaftlicher Umwälzungen und politischen Neuorientierung in Mitteleuropa – durch Besinnung auf kulturhistorische Grundlagen, Offenheit für Erneuerungen und Gewinnung neuer Horizonte. Er war der richtige Mann am richtigen Platz; hier fand er den Ort der Erfüllung seiner ethischen, moralischen Grundüberzeugungen und praktischen Vorstellungen in geschichtsträchtigem, politischem Kontext; hier hat er den Paradigmenwechsel hinein ins 21. Jahrhundert eingeleitet.

Aber das Leben ging weiter, und es folgten bis heute mit nicht nachlassender Energie und Begeisterung weitere Aktivitäten und Impulssetzungen – neuerdings ein vom Freund Renzo Piano entworfenes Kulturzentrum in Bologna.

Wie gemeinsames Musizieren soziales Elend lindern kann, erlebt er seit Jahren während seiner Winteraufenthalte in Venezuela, wo 400.000 Jugendliche vom größten Education-Programm der Welt profitieren. Dieses Sistema will Abbado nun nach Italien verpflanzen. Auf einer Tagung in Fiesole wurde der Grundstein dafür gelegt. Wie in Venezuela geht es nicht in erster Linie um die Förderung von Spitzennachwuchs, sondern um soziale Integration. Das erste Musikzentrum soll in Le Piagge entstehen, einer Satellitenvorstadt von Florenz mit hohem Migrantenanteil.

Parallel bemüht sich Abbado darum, mit seinem Orchestra Mozart in Bologna die Musik stärker in der Gesellschaft zu verankern. Um ein Zeichen für besseren Unterricht an Schulen zu setzen, führte er vor zwei Jahren in einer Sportarena der Stadt mit mehr als 600 Kindern Berlioz‘ Te Deum auf.

Im Rahmen des Musiktherapieprojekts TAMINO (Terapie e Attivita Musicali Innovative Oggi) besuchen seit 2006 Orchestermitglieder regelmäßig ein Kinderkrankenhaus, wo Konzerte und interaktive Workshops für kleine Patienten stattfinden; die jungen Musiker spielen außerdem vor Heiminsassen und Strafgefangenen. In Abbados Wohnung in Bologna steht ein Segelschiff aus Streichhölzern, das ihm die Häftlinge gebastelt haben.

„…Mit Kulturarbeit versuchen wird er Banalisierung des Lebens zu widerstehen, uns gegen Trivialisierung und Mystiflzierung zu stellen. Wir wollen in einer Realität voller Musik, Kunst und Schönheit leben – con la cultura si mangial“ (aus Abbados Erklärung vom 2. April 2011 gegen Kürzungen des Kulturbudgets in Italien).

„… Kultur kann man nicht aufrechnen – sie macht uns frei – und jeder hat die Pflicht, für ihre Freiheit zu kämpfen. Mittel für Kultur zu kürzen, trägt zur Manipulierbarkeit und Unwissenheit künftiger Generationen bei. Es ist beängstigend, wenn Kultur zum Instrument der Macht wird, vielmehr ist Kultur ein Instrument, um eine bessere Zukunft zu schaffen“ (kürzlich im italienischen Fernsehen).

Die vom rebellischen Staatskanal Rai Tre ausgestrahlte Talkshow Vieni via con me erzielte Rekordeinschaltquoten, nachdem Abbado gleich in der ersten Sendung über die Kulturbanausen in Rom gesagt hatte: „Kultur ist ein Allgemeingut genau wie Wasser – Theater, Bibliotheken und Museen sind kleine Aquädukte.“

Die deutlichsten Worte fand er unter der Überschrift „Wofür Kultur gut ist“ am 8. November 2010 in „La Repubblica“:

• Wer die Kultur liebt, will alle Kulturen kennenlernen und ist daher gegen jeglichen Rassismus.
• Kultur befähigt dazu Jene besser zu beurteilen, die uns regieren.
• Wer die Fundamente eines Hauses zerstört, bringt es zum Einsturz, Wer Kulturmittel kürzt, zerstört Kultur.
• Kultur wirkt gegen das soziale Unbehagen von Menschen. Sie rettet uns.
• Kultur bedeutet, daß unsere Kinder und Enkel ins Theater gehen und den Zauber der Musik erleben können.
• Kultur gehört zur Grundversorgung wie das Wasser. Theater, Bibliotheken und Museen sind die Wasserleitungen der Gesellschaft.
• Kultur ist wie das Leben, und das Leben ist schön.

Von Claudio Abbados Intentionen, Musik im (interdisziplinären wie historischen) Kontext erklingen zulassen, zeugen die programmatischen Zyklen in den 12 Jahren seiner Berliner Amtszeit. Sie sind erfüllt von der Überzeugung, dass Musik in Zusammenhänge zu stellen und stets aufs neue zu aktualisieren ist und folgen damit einem erweiterten Kulturbegriff durch Erweiterung des musikalischen Repertoires und Herstellung von Bezügen zu Literatur, Theater, bildender Kunst und Film. Zeitgenössische Musik wird einbezogen, und Konventionen der Vermittlung werden aufgebrochen.

Deutlich erscheint ein grenzüberschreitender dramaturgischer Bogen auf der Suche nach dem Neuen im Alten:

1991 Prometheus (Beethoven, Nono)
1993 Hölderlin (Brahms)
1994 Faust (Mahler)
1994/95 Antike (Elektra, Oedipus Rex)
1995/96 Shakespeare (Otello)
1996/97 Berg – Büchner (Woyzeck/Wozzeck)
1997/98 Wanderer (Romantik, Schubert)
1998/99 Mythos von Liebe und Tod (Tristan)
2000/01 Musik ist Spaß auf Erden (Falstaff)
2001/02 Zum Raum wird hier die Zeit (Parsifal)

Innovationen, Grenzüberschreitungen und Aufbrüche auch in der Wiener Zeit als Musikalischer Leiter der Staatsoper und Generalmusikdirektor der Stadt Wien. Mit Abbados Initiative „Wien Modern“ leitete er ein neues Kapitel Wiener Kulturgeschichte ein, erweiterte er das traditionsgesättigte Musikleben um die Avantgarde.

Schließlich ist Abbados kulturpolitisches Wirken nicht zu würdigen, ohne auf seine Gründungen von Orchestern mit jungen Musikern einzugehen:
European Community Youth Orchestra 1978
– daraus hervorgegangen: Chamber Orchestra of Europe 1981
Gustav Mahler Jugendorchester 1986 (mit Orchesterakademie)
– daraus hervorgegangen: Mahler Chamber Orchestra 1997 (auch Basis für das Lucerne Festival Orchestra)
und zuletzt: Orchestra Mozart in Bologna 2004 – mit dem Projekt TAMINO

Wichtig ist dabei nicht nur die ästhetische und aufführungspraktische Komponente dieser neuen jungen Formationen, sondern die Entwicklung eines Modells kollektiver Strukturen selbstverwalteter Ensembles als kulturpolitisch motivierte Alternative zu den tradierten großen symphonischen Orchestern.

Grenzöffnung im Wortsinne war der kühne und – durch Abbados Prominenz, Beharrlichkeit und Überzeugungskraft – geglückte Versuch, durch das Gustav-Mahler-Jugendorchester auch jungen Musikern aus Osteuropa und aus der DDR die Teilnahme zu ermöglichen. Er traf sich seinerzeit sogar mit Gorbatschow, um sein Ziel durchzusetzen.

Ulrich Eckhardt, Aufzeichnungen nach einem Gespräch mit Claudio Abbado und Bruno Ganz, als „Mosse Lecture“ in der Humboldt-Universität Berlin am 19. Mai 2011