Fünfzig Theatertreffen

Zum Jubiläum 2013

Was ist das Einzigartige des Theatertreffens, was ihm seinen besonderen Rang und die Sicherung seiner weiteren Existenz verschafft?

* Dass es so unvollkommen und so widersprüchlich ist – umstritten, angefeindet und geliebt – und so bereit, sich im Lauf der Zeit zu verändern und neu zu formulieren.
* Dass es am richtigen Ort stattfindet: Berlin braucht als kultureller  Leuchtturm das TT ebenso wie das TT Berlin als Resonanzraum.
* Dass es auch dieses Mal wieder unter blühenden Kastanien (mit einer sechsjährigen Unterbrechung) am selben Ort stattfinden kann, wo seine (Vor-)Geschichte am 1. Oktober 1963 begonnen hat (in der zwei Wochen zuvor mit Erwin Piscator eröffneten, von Bornemann entworfenen Freien Volksbühne); da war bereits Peter Zadek, der Meistgeladene, aus Bremen dabei – neben Kortner aus München, Barrault aus Essen, Ponnelle aus Baden-Baden und Stroux aus Düsseldorf. (Scharouns Philharmonie, der andere Ort gebauter Demokratie, wurde am 15. Oktober eröffnet – ebenfalls mit einer wegweisenden Rede von Adolf Arndt.)
* Dass es mediale Öffentlichkeit herstellt für die Belange des Theaters – ein wichtiger lebenserhaltender Schritt war in dieser Hinsicht die Einbeziehung des Fernsehens durch das Bündnis mit 3Sat seit 1996.
* Dass es sich durch Konsequenz den Charakter einer theaterpolitischen Instanz erwarb, sich durch Seriosität unentbehrlich gemacht hat.
* Dass es sein Programm einer diskursiv und streitbar geführten kollektiven Entscheidungsfindung verdankt – fernab vom Geschmack Einzelner oder von partikularen theaterpolitischen Ambitionen. Für mich unvergesslich, die zahllosen Pro-Contra-Briefe zu lesen – wahrlich eine hohe Schule des Disputs über Schauspielkunst. Diese Strenge und Ernsthaftigkeit garantierte die Existenz auch in bedrohlichen Situationen – verursacht sowohl durch den Egoismus von Theaterleuten 1979/80 als auch durch Ahnungslosigkeit, Ignoranz und Desinteresse der Bonner Ministerialbürokratie 1991/92 – als es den Staatsminister für Kultur noch nicht gab und die Berliner Festspiele im Bundesinnenministerium im fernen Bonn verwaltet wurden.

Die Strenge im Verfahren, die zum künstlerischen Nutzen das TT insgesamt auszeichnet und von anderen Theaterfestivals unterscheidet, charakterisiert auch das Verhältnis zwischen Intendant und Jury: Der argumentativ allein auf die jeweilige Inszenierung orientierte Entscheidungsprozess innerhalb der Jury bleibt vollständig frei von praktischen Erwägungen des organisierenden Festspielleiters; die Entscheidung der Jury hat ihre künstlerische und theaterpolitische Bedeutung auch unabhängig von der Realisierung der ausgesprochenen Einladungen. Der Leitung des Theatertreffens kam – neben der selbstverständlichen Pflicht zur optimalen Umsetzung des Jury-Willens – insbesondere die –Aufgabe zu, die Freiheit der Jury zu garantieren, das Verfahren flexibel zu halten und die organisatorischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die inhaltliche Zielsetzung des Treffens so weit wie möglich erreicht werden konnte.

* Dass es durch eine stringente Verfahrensordnung strukturiert ist und bis heute blieb. Dieses Grundgesetz des TT wurde mehrfach modifiziert und den Veränderungen angepasst, aber niemals im Kern angetastet.
* Dass es die offene Zauberformel „bemerkenswert“ (bitte nicht im Superlativ) als Kriterium gewählt und durchgehalten hat. Bemerkenswert kann ebenso meisterhaft wie umstritten, experimentell, innovativ, sogar am hohen Anspruch gescheitert sein – fern einer Olympiade mit Preisen, silbernen oder goldenen Bären. Das TT hält sich prinzipiell von Einzelehrungen, Gesamtwürdigungen, Preisen, Auszeichnungen oder von einer wettbewerbsorientierten Rangfolge innerhalb des Tableaus ausgewählter Inszenierungen fern. Da das TT aber auch solchen Glanz braucht, stiftete die Preußische Seehandlung zum 25jährigen Jubiläum 1988 auf Vorschlag der Intendanz den Berliner Theaterpreis, der alljährlich während des TT an einen oder mehrere Theatermacher für eine Gesamtleistung verliehen wird – unter Beteiligung eines Jurymitglieds.
* Dass es eben kein Festival ist, sondern ein festlich-heiteres Treffen – zudem auch eine Börse oder Durchlauferhitzer; selbst Peymann muss zugeben, dass es ihm bei seiner Etablierung und Durchsetzung half. Alljährlich auf Zeit versammelt sich in der Hauptstadt eine Verdichtung von Theaterarbeit, um Trends zu erkennen und zu diskutieren, Erneuerungen zu ermutigen und Risikobereitschaft zu unterstützen.
* Dass es organisch gewachsen ist, 1963/64 beginnend mit der Abnabelung von den Berliner Festwochen – seligen Angedenkens. Das TT ist ein Kind der Berliner Festwochen – das sei festgehalten, nachdem diese als universelles Gefäß für alle Künste leider abgeschafft worden sind. Das TT entstand als Weiterführung einer von den Berliner Festwochen schon Jahre zuvor begonnen Einladungspraxis an deutschsprachige Schauspielbühnen. Ermutigt durch Senator Joachim Tiburtius lud Gerhart von Westerman, der Intendant der Berliner Festwochen, auf Anraten Berliner Theaterkritiker die Bühnen von Frankfurt und Wuppertal zu den Festwochen 1962 ein. Die Berliner Festwochen 1963 erhielten dann „einen weiteren besonderen Akzent dadurch, dass noch systematischer als zuvor Gastspiele wesdeutscher Schauspielbühnen nach einer sorgfältig getroffenen Auswahl der besten Inszenierungen zusehen sein werden“ (so Senator Adolf Arndt im Almanach 1963). 1964 war es dann soweit: Die vorsichtig erprobte, allmählich herangereifte und als tragfähig befundene Praxis führte zur eigentlichen Gründung eines Theatertreffens, das zunächst noch für ein Jahr Berliner Theaterwettbewerb genannt wurde. „Die Repräsentation des deutschsprachigen Theaters findet eine neue Form: Anerkannte Kritiker nominieren 10 Inszenierungen, die ihnen während der Spielzeit 1963/64 in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz besonders bemerkenswert erschienen“ (Senator Werner Stein im Almanach der Festwochen 1964). Erst 1965 wurde aus praktischen Gründen das TT verselbständigt und in den Mai verlegt; es blieb jedoch in der Verantwortung des jeweiligen Festwochenintendanten, der seine Entscheidungskompetenz vollständig an die autonom wirkende Jury aus zunächst 10, später 7 Theaterkritikern abtrat.
* Dass es seinen spezifischen kulturpolitischen Auftrag erkennt, wahrnimmt und mit geeigneten Präsentationsformen ausfüllt – im Wandel der Zeit sich ändernd, jeweils neu formuliert – zu meiner Zeit ging es primär um die Anerkennung, Stärkung und Erneuerung des föderalen Stadttheatersystems.
* Dass es seine Entstehung der Weisheit einer klugen politischen Kultur und weitsichtigen Kulturpolitik, einer ernsthaften wohlüberlegten Verabredung zwischen Politik und Kultur zum wechselseitigen Nutzen verdankt, angestiftet von engagierten Theaterkritikern – denn sie waren es, nicht die Theaterleute, die dem Berliner Kultursenator Tiburtius 1963 den Vorschlag der Gründung eines „Theaterwettbewerbs“ unterbreiteten.

Dazu Rolf Michaelis: „Dass diese Veranstaltung alle Gefährdungen durch Politik, alle Schwankungen westlicher und bundesdeutscher Einstellung im Verhältnis zum Osten, alle Wechsel von Regierungen in Bonn und Berlin – vielleicht nicht unberührt, aber – unbeschadet überstanden hat, lässt sich damit erklären, dass das TT weniger ein kulturelles, sondern ein entschieden politisches Unternehmen ist, ja, eine politische Tat. … Das TT ist sichtbar gemachte Deutschland-Politik. Nur deshalb hat das TT eine (für die Geschichte des Theaters durchaus ansehnliche) Vergangenheit, und deshalb hat es auch eine Zukunft, weil es eben nicht nur von Theaterleuten, von Intellektuellen und von Politikern gewollt ist, unabhängig von Wandlungen an deutschsprachigen Bühnen oder Launen der dort arbeitenden Leute – ganz ohne nationale Nebentöne nur dem gemeinsamen Sprachraum gewidmet… Ist das TT also das einzige politische Festival, ohne ein solches zu sein,  von kultureller Bedeutung und zukunftsfrohem politischen und kulturellen Anspruch, so ist es doch – zu seinem Glück – kein Festival im üblichen repräsentativen oder touristischen Sinn.“

* Dass es also ein Lehrstück zum Verhältnis zwischen Kultur und Politik ist – ein signifikanter Fall einer positiven kreativen Beziehung – und insofern auch eine bemerkenswerte Hinterlassenschaft West-Berlins, dieses im aktuellen Bewusstsein verdrängten, zuweilen geschmähten und mit Sicherheit unterbewerteten eigenständigen Gemeinwesens und seiner politisch-gesellschaftlichen Lage und der geleisteten kreativen zukunftsfähigen Arbeit.

50 Jahre TT bezeugen, wie klug, perspektivisch und substantiell der Einfall aufgeschlossener Kulturpolitiker, Theaterkritiker und Theatermacher war,  mit der Gründung eines Forums der deutschsprachigen Theaterarbeit gleich zweifachen Nutzen zu stiften. In diesem Zusammenhang von einem Relikt des „Kalten Kriegs“ zu sprechen – wie Frank Castorf bis heute schwadroniert – ist historisch verfehlt und verkennt die Motivation der Gründer, kein deutsches, sondern ein deutschsprachiges Theatertreffen zu stiften – ausdrücklich von Anfang an mit der Einladung an die Schauspielbühnen in der DDR, deren Regisseure bereits deutliche Spuren im Westen gesetzt hatten und starken Einfluss auf die westliche Theaterpraxis ausübten. Was die Kulturpolitiker Berlins in jenen Jahren als vitalisierende Funktionen anstifteten, waren zum Glück keine kurzatmigen Verlegenheitsgesten demonstrativer Berlinpolitik oder mildtätige Gaben aus Subventions- oder Notopfermentalität. Also war keine Demonstration westlicher Überlegenheit beabsichtigt (wie bei der Gründung der Berliner Festwochen 1951), sondern Brückenbau über die Grenze hinweg. Berlin brauchte nach dem Mauerbau 1961 eine Stärkung seiner Lebenskraft und suchte nach einer Rolle als Vermittler zwischen feindlichen Lagern. Mit der Gründung des Theatertreffens sollte der Gefahr von Isolation Westberlins begegnet werden – als Forum des Dialogs in der Mitte Deutschlands und Europas an der Nahtstelle der Systeme; so war ganz selbstverständlich, nicht die staatliche Nationalität, sondern den gemeinsamen Sprachraum durch Einbeziehung von Österreich und der Schweiz als Resonanzraum zu bestimmen.

Der andere und gleichrangige Nutzen des TT: Es sollte ein den kritischen Dialog begünstigender Ort der Auseinandersetzung und Herausbildung von Maßstäben und Entwicklungslinien entstehen, weil das Theater vor einer markanten Zäsur im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen, vor einem radikalen Wandel und Generationswechsel stand. Es herrschte Aufbruchstimmung an einigen Brennpunkten des Theaters.

Hierzu Günther Rühle: „Die Gründung des TT geschah – wie sich später herausstellt – auch in einem besonders günstigen künstlerischen Moment. Mitte der 60er Jahre trat eine ganz neue Generation von Regisseuren und Schauspielern in Erscheinung, die eigene Vorstellungen von einem künftigen Theater hatte. Sie löste die Theatermacher der Nachkriegsgeneration ab. Barlog, Buckwitz, Stroux, Schalla waren nur noch mit ein oder zwei Inszenierungen vertreten. Als Einziger behauptete sich Rudolf Noelte unter dem Andrang der Jungen. Das TT erhielt seine Lebendigkeit zwischen 1966 und 1976 von den Neuerern, Peter Palitzsch, Zadek, Neuenfels, Peter Stein Peymann, Hollmann, Grüber, Tabori,  Rudolph. Sie wurden beim TT bestätigt und konnten daheim Konflikten begegnen, die sich aus dem Widerspruch der neuen ästhetischen Setzungen zum heimischen Kunsthorizont ergaben. In Berlin wurde eine Art Segn erteilt; er war das Glück für alle.“

Das TT hat nur zum Teil Theatergeschichte geschrieben; es kann  nur eingeschränkt für die Durchsetzung des sogenannten Regietheaters (das doch immer zugleich von jungen Schauspieler/innen mit gewandeltem Selbstverständnis getragen war) in Anspruch genommen werden. Gewiss hat es aber geholfen, Wege zu ebnen, Verständnis zu wecken, kulturpolitische Unterstützung zu erwirken, zu Risiken zu ermutigen und Entdeckungen zu ermöglichen. Mit Reinhild Hoffmann – noch vor Pina Bausch – wurde das neue Tanztheater einbezogen. Ihr Erscheinen auf dem TT war übrigens überschattet vom einzigen Zwischenfall in der 50jährigen TT-Geschichte: Die Bauaufsicht Charlottenburg (geleitet vom berüchtigten Baustadtrat Antes), Feuerwehr und Polizei verhinderten kurz nach Beginn die Fortsetzung ihrer Aufführung in der alten Mensa der TU in der Hardenbergstraße. Wer dabei war, wird nie den Aufmarsch der Polizisten vergessen, die in Mannschaftsstärke von hinten die Bühne besetzten; das Publikum hielt das zunächst für Teil der Inszenierung, noch gesteigert vom wutentbrannten Auftritt des brüllenden Bremer Intendanten Wüstenhöfer.

Chronik einer Revolte im Originalton

1979 erhob sich eine heftige Kritik einer Gruppe arrivierter Theaterleute, die 1980 zu einer Boykottdrohung eskalierte.

Aus dem Brief vom 8. April 1980 an den Intendanten:
„Das TT hat seine maßstabsetzende, richtungsweisende Funktion verloren. Es war einmal: eine Versammlung der zupackendsten, nach neuen Wegen suchenden, auch sich irrenden, aber in der Mehrzahl ästhetisch/schauspielerisch/dramaturgisch wagemutigen Aufführungen. Es ist geworden: eine mehr und mehr unmutige Zusammenstellung von teils wichtigen, teils modischen, teils wohl auch nur durchschnittlichen Aufführungen… Wir wollen uns nicht versagen zu formulieren, dass die Theatermacher einer Jury, die sich aus Journalisten mit unterschiedlichen Kriterien und Urteilsvermögen zusammensetzt, ihre Arbeiten nicht als Material für ein lustloses Festival anvertrauen mögen… – einem Festival der Theaterkritiker, nicht des Theaters.“

Der Intendant antwortete in einem Interview mit C. Bernd Sucher (SZ Mai 1980):
„Das Theatertreffen ist anders strukturiert als ein Festival; es ist eine ziemlich rabiate Veranstaltung, da wird aufgrund des Austausches von harten Argumenten, auf Grund sehr unterschiedlicher Positionen in einem strengen Verfahren ein Beschluss gefällt: Eine Aufführung wird nach Berlin zitiert, und dann wird sie hier in einen Diskussionszusammenhang gestellt. Das ist etwas vollkommen anderes als ein Theaterfestival, wie es Ivan Nagel in Hamburg gemacht hat oder Thomas Petz in München. Ich bin nicht bereit, dem TT seine Strenge zu nehmen und ich bin auch nicht gewillt, und auch niemand, der kulturpolitisch denkt, ist dazu bereit, diese Formeln zu ändern. Die Strenge des TT soll erhalten bleiben, und aus diesem Grund bleibt es auch bei der Struktur der Auswahl. Über Verbesserungen wird allerdings nachgedacht.“

Dazu Benjamin Henrichs (im Mai 1980 in der ZEIT): „Wenn die Theatermacher ehrlich wären, müssten sie zugeben, dass das TT immer eine Börse war, dass sie persönlich davon profitiert haben (immer profitieren wollten) und dass es schon seltsam klingt, wenn nun ausgerechnet die Marktführer über die Verderbnis der Marktwirtschaft klagen. Tatsächlich sind die sportlichen, wettkampfähnlichen, börsenhaften Züge des TT nicht der geringste Grund für seine nach wie vor immense Attraktivität. Über die (Fehl-)Entscheidungen der Jury kann man streiten, lachen, heulen. Die kompetente Entscheidung des ominösen kompetenten Festivalleiters aber würde von der Öffentlichkeit mit einem gelassenen ‚ach ja’ zur Kenntnis genommen werden. Es gäbe ein Festival mehr – und einen Streitgegenstand weniger.“

UE Vorwort im TT-Magazin 1981: Das Theatertreffen reagiert 1981 auf Anregungen und Kritik, die ein Jahr zuvor von Theaterleuten und Besuchern formuliert wurden. Im Kern war es richtig, dem TT mehr Möglichkeiten der Begegnung und des Gesprächs , mehr Einblicke in die örtliche Arbeit der eingeladenen Bühnen abzuverlangen. Denn das TT gehört dem Publikum und den Ensembles der (eingeladenen) Theater – nicht den Kritikern. Die Verbesserungen zielen auf eine dichtere Folge von Aufführungen, auf mehr Information durch Gelegenheiten zur erweiterten Selbstdarstellung der nach Berlin eingeladenen Bühnen. Das in seiner bisherigen Form überholte Eröffnungsritual wird ersetzt durch Übergabe der Urkunde nach der ersten Aufführung und durch mehr Gesprächsrunden. Die Reform bleibt diesmal noch unvollständig, weil geeignete Spielorte fehlen, die nebeneinander benutzt werden können. Die Begrenzung auf 10 Produktionen wurde aufgehoben

Dazu Henning Rischbieter für die Jury: Innerhalb des gleichen Zeitraums von drei Wochen gibt es drei Mal so viel Theater zu sehen als zuvor – an 21 Tagen alle 12 von der Jury eingeladenen Aufführungen – außerdem 7 Darbietungen (Lese- und Liederabende), die die eingeladenen Theater – dazu  aufgeordert – als Beigaben selbst auswählen durften – quasi Bindeglieder zwischen der Kunstproduktion und ihrer gesellschaftlichen Funktion – und vor allem auch unterhaltsam. 

Strategien der Reform: weitgehend Verzicht auf Protokollarisches, keine staatstragenden Reden oder deklaratorische Absprachen eines Jurymitglieds vor der Aufführung, auf die Theaterleute und Publikum nicht selten allergisch reagierten, Transparenz der Juryentscheidungsprozesse durch das TT-Magazin, in dem für alle Interessierten das Pro und Contra aus der Jury nachzulesen und damit nachvollziehbar wurde und jeweils zum Abschluss die große Diskussionsrunde, wenn sich die gesamte Jury der Auseinandersetzung mit Publikum und Theatermachern stellte – vor allem aber die Geheimwaffe Spiegelzelt erst im Garten, dann auf dem Parkdeck der Freien Volksbühne (jetzt Festspielhaus).

Die Verfahrenordnung wurde mehrfach revidiert, z. B. die Jury verkleinert, das Quorum verringert, die Wiederberufung modifiziert und die Begrenzung auf 10 Produktionen zeitweise aufgehoben. Das Spektrum des TT wurde durch Zusatzprogramme der eingeladenen Bühnen erweitert, um mehr Informationen und Erfahrungen zum Arbeitsfeld zu vermitteln. Ein Stückemarkt war schon im Jahr 1978 eingerichtet worden, um die Versammlung zahlreicher Theaterleiter dazu zu nutzen, jungen Autoren mit unveröffentlichten Theaterstücken Aufmerksamkeit zu verschaffen. Weil das TT immer auch ein Forum der Debatte über Tendenzen, Strömungen und Experimente sein soll, werden im Beiprogramm neben den ausgewählten großen Produktionen kleine Arbeiten oder Studioproduktionen der eingeladenen Bühnen gezeigt, um einen Einblick in den Kontext und in die Zusammenhänge, auch der örtlichen Behinderungen und Konflikte zu ermöglichen. Den Bühnen wird Gelegenheit gegeben, besondere Anliegen, Gefährdungen und ideologische Auseinandersetzungen um die Arbeit am Heimatort darzustellen – ebenso außergewöhnlich Experimente zu zeigen.

Dem Ziel, ein Forum der Theatergegenwart zu sein, dienen die Theatergespräche für Fachleute und die Publikumsgespräche mit den Ensembles nach den Aufführungen im Spiegelzelt (ab 1982) als einem heiteren Ort lockerer Kommunikation im anmutigen Rund. Auch kulturpolitische Themen standen bei Bedarf auf dem Beiprogramm.

Claus Peymann träumt indessen noch immer von einer Auswahl durch einen Einzelnen als Juror. Nach meiner Überzeugung wäre das TT in solcher Struktur längst abgeschafft worden. Und auch praktische Gründe sprächen dagegen. Nur eine zehnköpfige Jury vermag die Fülle an Inszenierungen bis hinein in die letzten Winkel und kleinsten Bühnen und Spielstätten freier Gruppen wirklich zu sehen. Und nur nach dem tatsächlich Gesehenen und der darüber entfachten Debatte kann gewählt werden, um einigermaßen gerecht zu urteilen. Einfache Rechnung: Ein Festivalleiter kann nicht – wie sieben Jurymitglieder – 423 Inszenierungen auf 69 Bühnen gesehen und daraus in relativ kurzer Zeit zehn Produktionen als bemerkenswert auswählen, die dann auch noch logistisch zu realisieren sind.

Ein Wortführer der Rebellen Claus Peymann behauptet bis heute, Theaterkritikern fehle die Liebe zum Theater und sie seien doch außerstande, die quasi erotischen oder spirituellen Prozesse in der Probenarbeit nachzuvollziehen oder zu verstehen; aber das sollen sie gar nicht , sondern prüfen,  was davon über die Rampe kommt. Proben sind kein Selbstzweck, der in die Wertung einfließen könnte, nur die Aufführung selbst zählt – und hier sind professionelle Kritiker die klugen und erfahrenen Vermittler nach beiden Seiten – und auch sie müssen eine Liebe zu dieser schönsten Sache der Welt haben; ihr Beruf ist entbehrungsreich in mehrfacher Hinsicht, und gar ein Jurytätigkeit beim TT mit Reisen  ist zeitaufwendig, kräftezehrend und mit viel alltäglichen Mühen und Hindernissen gepflastert.

Zum Schluss:
Die unvergessene sprachmächtige theatersüchtige Karena Niehoff (SZ Mai 1982): „Noch einmal und noch einmal ein vertrauter Klassiker, ist er nur irgendwie ‚schön’ und ‚abgerundet’, im besten Fall auch ‚neu erzählt’. Neugier auf neue Stücke, solch unfeines Kriterium wird uns nicht zugebilligt“ – und lobt Hans Hollmanns Fiesco-Inszenierung: „Manche fanden es ‚widerwärtig’. Aber das Wärtige, das ammenhaft Gewartete ist es ja nicht, was uns die Juroren hegerisch servieren sollen. Sondern rüde sollen sie sein und auch das ‚Wider’ , das Widrige hinknallen“ – das sei ein widriger Marschbefehl ins Utopia großer Kunst für die nächsten 50 Jahre.

Ulrich Eckhardt