Der Blick nach Osten

Das russische Programm der Berliner Festwochen 1995

Nach einem einzigartigen Geschichtssprung hat sich Europas geistige Landkarte erneut radikal verändert. Die Teilung der Welt im Ost-West-Konflikt wurde beendet. Der Wandel kam aus dem Osten, ausgelöst durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika.

In Berlin, wo der Riß durch Europa am schmerzlichsten zu spü­ren war, wird aus einem Ort der Spannung und Teilung jetzt wieder wie einst ein Ort der Mitte und der Vermittlung. Eine offene Landschaft tritt an die Stelle der trennenden Mauer. Wieder leben, von der offiziellen Statistik kaum wahrgenommen, zwischen 30.000 und 60.000 Russen zeitweise in der Stadt. In den 20er Jahren sprach man von ‚Charlottengrad‘, Literaten aus Rußland haben die Stadt besungen, die ihnen Zuflucht und Durchgangsstation auf dem Weg ins Exil war.

Moskau heute ist wieder Weltstadt und Schmelztiegel europäi­scher und außereuropäischer Kulturen, nicht mehr die Zwingburg eines imperialen diktatorischen Herrschaftssystems. Es gärt in der Stadt. Die Not ist groß, und es fehlt an vielem, vor allem an Orientierung. Aber es herrscht ein unbedingter Wille zur Veränderung und zum Austausch mit den westlichen Nachbarn.

Berlin greift die Signale aus dem Osten auf; denn die Stadt hat nicht vergessen, wie groß der Beitrag russischer Kultur war, damit aus der preußischen Residenz und Hauptstadt des Reichs eine internationale Kulturmetropole werden konnte, ehe der faschistische Terror die jüdischen Gemeinden auslöschte und mit einem Vernichtungskrieg Tod und Zerstörung bis nach Moskau trug. Es ist also an der Zeit, sich zu erinnern, histo­rische Linien wieder aufzunehmen und neu zu knüpfen, Fremdge­wordenes wieder in die Nähe zu holen und ein neues Haus in Europa zwischen friedlichen Nachbarn zu bauen.

Das Programm der Berliner Festwochen macht deutlich, wie in­tensiv und nachhaltig Künstler aus Rußland deutsche Kultur und den Berliner Rang in Literatur, Film, Kunst, Theater und Musik geprägt haben. Beispiele großer Namen, die in den Programmen auftauchen: Majakowski, Bely, Zwetajewa, Nabokov, Eisenstein, Kandinsky, Meyerhold und Stanislawski. Alle wesentlichen Namen der russischen Musik, insgesamt 51 Komponisten aus Vergangen­heit und Gegenwart, tauchen in den Konzerten auf, die u. a. von den drei besten Symphonieorchestern Rußlands (den Sankt Petersburger Philharmonikern, dem Russischen Nationalorchester und den Moskauer Philharmonikern) und von herausragenden aus Rußland stammenden Solisten (von Svjatoslav Richter bis Nata­lia Gutman, von Viktoria Mullova bis zum jüngsten Skrjabin-Preisträger Jewgeni Mikhailov) gestaltet werden. Die bedeu­tendsten Dirigenten (von Roshdestwenski bis Temirkanov und Jansons) und die wichtigsten zeitgenössischen Komponisten (So­fia Gubaidulina, Alfred Schnittke, Edison Denissow) nehmen teil. Wie selbstverständlich wirken zwei aus Rußland stammende prominente Dirigenten, Vladimir Ashkenazy und Yakov Kreizberg, an führender Stelle in Berlin.

Michail Glinka, populärer Komponist der russischen Romantik und Begründer der national-russischen Tonsprache, hat zwei Gräber, eines in Berlin und eines in Moskau. Er starb hier 1875 während seines zweiten Aufenthalts. Sein nach der Umbet­tung leeres Grab liegt in Borsigwalde auf dem verschwiegenen russischen Friedhof mit der prächtigen Kirche, einem stim­mungsvollen Ort des Gedenkens für Freunde Rußlands. Also be­ginnen wir mit einer Glinka-Nacht, gefolgt von Borodin und Mussorgsky. Claudio Abbado und das Berliner Philharmonische Orchester, 1888/89 von Tschaikowsky dirigiert, befassen sich mit Rachmaninow, Mussorgsky und Skrjabin, dem ebenso wie Schostakowitsch umfassende Zyklen gewidmet sind. Zu entdecken ist der kühne Neuerer und Prophet der Moderne, der geheimnis­umwitterte Arthur Vincent Lourie. Er entfloh der Diktatur in seinem Land auf einer Berlin-Reise, die ihn mit Busoni zusam­menbrachte. Auch die russische Romanze und die orthodoxe Kirchenmusik, dargeboten durch die Mönche des Russischen Patriar­chats Moskau, fehlen nicht im Programm.

Ganz anders im Theater: Die junge Generation kommt zu Wort, nicht die repräsentativen staatlich geförderten Institutionen, die sich noch in einem mühsamen Veränderungsprozeß in einer gewandelten Zeit befinden. Junge Leute bringen die Nöte der Zeit auf die Bühne. Es sind geniale Regisseure wie Fokin und Fomenko und enthusiastische Ensembles, hervorgegangen aus den vorbildlichen russischen Ausbildungsstätten wie der Theater-Hochschule Gitis, die dem Theaterprogramm das besondere Ge­sicht geben. Schieres Theaterglück wird das von Reso Gabriadse geleitete Obraszov-Puppentheater vermitteln, in fruchtbarer Konkurrenz zum russischen Programm des hierzulande mehrfach gefeierten Figurentheaters der Mailänder Colla-Familie.

Bevor die umfassende, alle Aspekte vereinende, ambitionierte Ausstellung „Berlin-Moskau/Moskau-Berlin“ ihre Tore im Martin-Gropius-Bau öffnet, beginnen die Festwochen beziehungsreich mit Musik von Vladimir Vogel und Alfred Schnittke – beide wa­ren zu völlig gegensätzlichen Zeiten aus Moskau nach Berlin gekommen, um hier auf Zeit zu leben und zu arbeiten – und mit einer kunstvollen Rede des ehrwürdigen Vordenkers für den deutsch-russischen Dialog, Lew Kopelew. Er hat uns gelehrt, russischen Geist und russische Seele besser zu verstehen und deutlicher zu erkennen, was wir Rußland verdanken, wie stark der russische Einfluß auf unsere Kultur war und daß wir ganz einfach zum wechselseitigen Nutzen gute Nachbarn sein müssen. Und: Nächstes Jahr in Moskau – ein neues Kapitel des Zusam­menwachsens und der Verständigung beginnt von hier aus.

Ulrich Eckhardt, Berliner Morgenpost, 26. August 1995