Der „Jahrhundertschritt“ und die Ausstellung „Sieben Hügel“
Die Stadt wird zum Anziehungspunkt für junge Menschen, die das Unfertige, die Umbrüche, die Widersprüche schätzen. In der labyrinthischen Stadt, wo die offenen Fragen in schneidender Härte gestellt werden, können sie die angesichts des fundamentalen Wandels von Gesellschafts- und Wertesystem zum Überleben dringend gebrauchen. Im Dschungel der Millionenmetropole eröffnen sich Spielräume für Aktivitäten aller Art, von der Existenzgründung im Dienstleistungssektor über neue Technologien und neue Medien bis hin zur experimentellen Kunst. Die künftigen Lebensbedingungen des Menschen werden hier untersucht und getestet. (…)
Wenn im Jahre 2000 der deutsche Bundesstaat in seiner wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin angekommen sein wird, muss die geistige Ausstrahlung und Wegweisung als wesentliche Rolle einer Hauptstadt angenommen werden. Berlin ist nach Geschichte, Spannungszuständen und geistig-kulturellem Klima ein Akkumulator politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen. Zur Hauptstadt gehört es, geistige Plattform für überlokale, überregionale, supranationale Fragen zu sein. Die politische Entscheidung zugunsten Berlins als Hauptstadt war nicht zuletzt als Öffnung und Erweiterung nach Osten motiviert. Von Berlin wird die Entwicklung entsprechender Kompetenz und Vermittlungsarbeit erwartet. Aber es wird noch mehr erwartet: An einem von der Vergangenheit geprägten Ort soll sich bündeln, was neu und anders ist an der europäischen Rolle Deutschlands in einer sich verändernden Welt. (…)Ulrich Eckhardt, Das Neue Berlin – Perspektiven einer Hauptstadt des 21. Jahrhunderts, forum GKB 1997
Sieben Hügel – Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts
„Die zweite Aufklärung“ nennt Neil Postman sein jüngstes Buch, das ein Kompass für die Reise ins Morgen sein will. Humanität, Vernunft und Weisheit sind die Maximen für eine menschenwürdige Zukunft. In einer Allianz von Wissenschaft und Kunst soll die Ausstellung die Frage stellen: „Was ist der Mensch“. Sie will das Wissen der Epoche zur Anschauung bringen, Bilder und Zeichen vermitteln, die uns in das 21. Jahrhundert begleiten werden, und soll einen Beitrag zur Gestaltung künftiger Lebensbedingungen des Menschen leisten. Wenn alles machbar erscheint, wird Orientierungswissen um so existentieller. Von Mai bis Oktober 2000, bewusst während der Laufzeit der ersten deutschen Weltausstellung, wird im Martin-Gropius-Bau ein die herkömmlichen Sparten übergreifendes Projekt realisiert, an dem zahlreiche international renommierte Gelehrte und Künstler mit ihren Zeugnissen mitwirken. In Wahrheit sind es sieben Ausstellungen – analog zu sieben Säulen der Weisheit. Sieben Tage hat die Woche, und sieben Tage mag ein Besucher über sieben Hügel wandern, um zu verstehen, was die Welt zusammenhält und was aus ihr werden kann.
Es ist eine riskante, anspruchsvolle und aufwendige Ausstellung geworden. Sie breitet ein visuelles Arsenal des Wissens aus, um die Linien aus der Vergangenheit in die Zukunft weiterzuziehen. Wie in einer großen Wunderkammer werden wissenschaftliche Erkenntnisse den Visionen der Künste gegenübergestellt. Um das Kommende zu bewerten und auszuhalten, geht der Blick zurück auf die geschichtlichen Wurzeln von Mensch und Welt. Es gibt viel Altes im Neuen. Bruchstellen zwischen Tradition und Moderne sind Fundstellen des Verstehens.
Die Ausstellung soll ihre Wirkung entfalten im Kraft- und Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, Alltäglichem und Metaphysischem, Realität und Spiritualität, Körperlichem und Virtuellem, Einfachem und Kompliziertem, Himmel und Erde, Ferne und Nähe – das alles zusammengehalten vom „Kern“ in Ken Adams Lichthof. Angeboten wird kein Edutainment oder Themenpark- Entertainment mit Oberflächenreizen, sondern die fundierte Veranschaulichung von Wissenschaft als Orientierungswissen in einer immer komplexer und unverständlicher werdenden Umgebung. Eine solche Anstrengung gehört in die spezifische Berliner Überlieferung, verkörpert durch praxisorientierte Anwender wissenschaftlicher Erkenntnisse wie Robert Koch, Rudolf Virchow, die Brüder Humboldt, Leibniz und Chamisso. Fragen zu stellen gehört jetzt zur Grundausstattung zukünftigen Lebens und Zusammenlebens. Was der Besucher in der Ausstellung sieht, kann er fragend weiter denken. Es geht weniger um Bilanz als um Sichtung von Wissen, Erfahrung und Erkenntnissen auf ihre Tauglichkeit, in ein neues Jahrhundert mitgenommen zu werden. Prophetien werden nicht angeboten, keine Heilslehren oder Rezepturen, aber Messtischblätter in einem Atlas für die Reise in die Zukunft. Fortschrittsglaube weicht der Skepsis. Immer weiter fortzuschreiten und zu beschleunigen, kann die Menschheit in Vorzeiten zurückwerfen.
Die Ausstellung „Sieben Hügel“ ist Kernstück und intellektuelles Zentrum aller Aktivitäten der Jahre 1999 und 2000 unter dem Signum „Das Neue Berlin“, die den Aufbruch Berlins in eine neue Zeit als Bundeshauptstadt und europäische Metropole manifestieren. (…)
Ulrich Eckhardt, in: Sieben Hügel, Katalog Bd. 1 – Kern, Berlin 2000
➞ Ein lesenswerter Artikel über die Ausstellung aus dem „Spiegel“
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