Karl Bellenberg über ein Konzert am 28. Mai 1994
Zunächst sei zur Einleitung der Komponisten- und Werkbesprechungen von einem Else Lasker-Schüler-Kompositionen betreffenden Highlight berichtet, das am 28. Mai 1994 in Berlin stattfand. Es war der 60. Geburtstag des damaligen Intendanten der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, mit dessen Namen zugleich die Berlinale, die Berliner Festwochen, die Musikbiennale, das Jazz-Fest und bedeutende Ausstellungen in Berlin verbunden sind. Mit seiner Berliner Festspiele GmbH vermochte er weit über 150 Uraufführungen ins Leben zu rufen.624 Der studierte Jurist und Musiker, Dirigat-Schüler von Karajan und versierter Orgelspieler hatte sich zum Geburtstag ein besonderes Konzert gewünscht – wie 20 Jahre später 2014 ein Orgelkonzert. Jahrelang in führender Position im Kulturzentrum der Hauptstadt tätig, war er mit Kulturschaffenden aller Couleur weltweit vernetzt. Zugleich war ihm das Thema der verdrängten Kunst im Dritten Reich und deren Rehabilitation und Reanimation Herzensangelegenheit.625 So bestand der Wunsch des Jubilars, dass die zum Fest geladenen Komponisten Werke über Else-Lasker-Schüler-Texte zum Geburtstagskonzert um 19:30 Uhr in der Siemens-Villa, Berlin-Lankwitz beisteuern mögen.
Das Konzertprogramm wurde von seiner Frau Jo Eckhardt, Dirk Nabering, Axel Bauni, heute Leiter der Interpretationsklasse »Zeitgenössisches Lied« an der Universität der Künste Berlin, und den damaligen Mitarbeitern der Berliner Festspiele vorbereitet und zusammengestellt. Heraus kam ein Programm von Komponisten hohen Ranges, überwiegend aus Deutschland Ost und West stammend, die in den meisten Fällen zum ersten Mal und just zu diesem Anlass als Freunde Ulrich Eckhardts Texte der Dichterin Else Lasker-Schüler vertont hatten.
Das Programmheft weist neben allen Komponisten auch sämtliche Kompositionen auf – je ein Doppelblatt, links das vollständige Lasker-Schüler-Gedicht, rechts die erste Seite der Komposition – fast ausnahmslos Faksimiles der Handschriften und alle versehen mit der Widmung an den Jubilar.
Die einzige Komponistin in diesem erlauchten Komponistenkreis war die damals noch wenig bekannte,626 ja noch fast als ›Geheimtipp‹ geltende, russische Sofia Asgatovna Gubaidulina, die gerade zwei Jahre vorher nach Deutschland eingewandert war. Ihre Komposition Ein Engel… beschließt das Programmheft.
Das Programm setzte neben der »Verscheuchten« Else Lasker-Schüler als Dichterin durchaus weitere kulturpolitische Zeichen. Mit Josef Tal, Friedrich Goldmann und Alfred Schnittke waren gleich drei jüdische Komponisten vertreten, von denen der Erstgenannte 1934 ins palästinensische Exil ging, dort die Jerusalem Academy of Music and Dance gründete und der am 08.06.1940 in Jerusalem Else Lasker-Schüler persönlich kennenlernte und gesprochen hatte.627
Ein weiteres Zeichen bestand darin, dass – entgegen dem Trend der ersten Jahre nach der politischen Wende (1989), der vielen Künstlern der ehemaligen DDR in der ›aufnehmenden‹ BRD wenig berufliche Chancen ließ – Komponisten mit diesem Hintergrund bewusst geladen waren, namentlich Matthus, Katzer und Goldmann. Dies stand ganz in der Tradition des jahrelangen Bemühens von Eckhardt, kulturelle Brücken von Westberlin zur DDR zu schlagen.
So gab Ulrich Eckhardt beiden genannten Gruppen in seinem Geburtstagskonzert aus seiner übergreifenden kulturpolitischen Sicht und seinem erklärten Engagement für die Sache einen gebührenden Raum. Fast unnötig zu betonen, dass gerade Sprache und Musik in diesem Sinne bei dieser außergewöhnlichen Veranstaltung verknüpft wurden.
Für den Bereich zeitgenössischer Vertonungen von Else Lasker-Schüler-Gedichten ist dieses Projekt schon allein wegen der Gewichtigkeit der versammelten Komponisten ein für unser Thema musikhistorisch bedeutendes Unikat und in Hinblick auf die Rehabilitation der »Verscheuchten« in der BRD eine kulturpolitische Landmarke.
624 Vgl. Volker Müller: Festspiele-Intendant Dr. Ulrich Eckhardt wird 60. Der mächtige Manager mit der Musikseele. In: Berliner Zeitung vom 27.05.1994.
625 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die von Eckhardt verantworteten und maßgeblich mitgestalteten Jubiläumsveranstaltungen zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin 1987. Ihm war dabei wichtig, auch die unrühmlichen Seiten der Geschichte ins Bewusstsein zu rücken u. a. mit den Konzerten der Festwochen, die er unter das Motto »Musik aus dem Exil« stellte. Dazu wurde eine beeindruckende Dokumentationsschrift Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil (Traber und Weingarten 1987) erstellt, die alle diese Konzerte vom 31.8–14.10.1987 verzeichnet. In gleicher programmatischer Weise war es Eckhardts Anliegen, immer wieder das doppelsinnige Themenfeld »Verdrängte Musik« – physische und mentale Verdrängung im Dritten Reich – zu thematisieren. So gelang ihm, was schier unmöglich erschien, 1986 den exilierten jüdischen Ausnahmepianisten Wladimir Horowitz nach 54 Jahren zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, wo er in Berlin und Hamburg seine legendären Konzerte gab (vgl. Weingarten 2009, S. 10).
626 Die MGG1 von 1986 verzeichnet Gubaidulina noch nicht; das Brockhaus Riemann Musiklexikon widmet ihr im Ergänzungsband einen schmalen Eintrag. Vgl. Dahlhaus, Eggebrecht und Oehl 1995, S. 12.673f.
627 Eckhardt ist zudem Herausgeber der Autobiographie von Tal Tonspur. Tal 2005.
Karl Bellenberg, aus: Else Lasker-Schüler, Ihre Lyrik und ihre Komponisten, Seite 191ff. Wissenschaftlicher Verlag Berlin (wvb), Berlin 2019. ISBN 978-3-96138-132-6