Torsten Maß über die Arbeit der Berliner Festspiele und das Vergnügen mit ihnen (2014)
I. Ein Kind des ‚Kalten Krieges‘
Rückblickend bewertend ist zu sagen: es waren gute (um nicht zu sagen) goldene Zeiten – für die Kunst, die Kunstvermittler und die Kulturpolitiker.
Denn es gab eine tolle Vision in einem untollen Koordinatensystem.
Wovon spreche ich? Ich spreche von der Aufgabe der (West)Berliner Festspiele von den 1970er Jahren bis zum Mauerfall bzw. zum Jahrtausendwechsel. Von der Aufgabe, die Mauer zu überwinden.
Der folgende Abriss ist keine Chronik der Berliner Festspiele. Die gibt es, zumindest für die ersten 50 Jahre. Sie hat den Schwerpunkt Berliner Festwochen, umfasst die Jahre 1951 bis 2000 und erschien zum Jahrtausendwechsel, der mit dem Ende der Ära des Intendanten Ulrich Eckhardt einherging. Der folgende Abriss sind deutsch-deutsche Momentaufnahmen, Schlaglichter eines Beteiligten auf eine besondere Zeit, ‚eine Zeit als das Wünschen noch geholfen hat‘ und Kunst und Politik eine einzigartige Symbiose zum beiderseitigen Nutzen eingingen.
Die Berliner Festspiele waren ein Kind des ‚Kalten Krieges‘. Gegründet 1951 waren sie zuerst das ‚Schaufenster des Westens‘, das ‚Schaufenster der freien Welt‘, der kulturelle Leuchtturm der westlichen Welt auf der Insel West-Berlin, ‚dem Atoll inmitten des Roten Meeres‘. Die Strahlkraft des Westens sollte leuchten, Imponiergehabe war angesagt, die Inszenierung bediente sich beim Nachkriegs-Pathos von Ernst Reuter: „Völker der Welt schaut auf diese Stadt“.
Berlin sollte versuchen, die Lücken, die die nationalsozialistischen Verheerungen gerissen hatten, wieder aufzufüllen.
Die große Zeit der Berliner Festspiele begann Anfang der 1970er Jahre mit der ‚Neuen Ostpolitik‘.
Willy Brandt hatte den ‚Wandel durch Annäherung‘ auf die politische Agenda gesetzt. Jetzt schlug die Stunde der neuen Festspiele. Denn sie stellten sich selbst die Aufgabe, Brücken nach Osten zu bauen und aus Berlin eine kulturelle Drehscheibe Ost-West zu machen. Die Festspiele waren sozusagen der Fachbetrieb für den Brückenschlag.
Ihre Organisationsform war hierbei hilfreich. Als zu gleichen Teilen vom Bund und vom Land Berlin getragene GmbH hatten sie kaum Staats-Stallgeruch und konnten unter dem „Deckmantel einer quasi kommerziellen Agentur“ Kontakte in den Ostblock knüpfen, Vertrauen zu Künstlern und Institutionen aufbauen und Verträge schließen. Offiziell inoffiziell. Unterhalb der staatlichen Ebene.
II. Ulrich Eckhardt
Die Initialzündung war die Berufung von Ulrich Eckhardt zum Intendanten der neuen Berliner Festspiele. Diese Berufung war ein Glücksfall. Für Berlin und die europäische Kulturwelt. 28 Jahre währte dieser Glücksfall, von 1973 bis ins neue Jahrtausend. Eckhardt war – und ist – Jurist, Pianist, Kapellmeister, Organist und Kulturmanager. Eine seltene, eine außergewöhnliche Kombination.
Ich hatte das Glück, 25 von diesen 28 Jahren mit ihm zusammen zu arbeiten. Die letzten 17 Jahre war ich als Leiter des Künstlerischen Büros Eckhardts Stellvertreter mit kuratorischer Verantwortung für Darstellende Künste, Literatur und alle Wortprogramme sowie interdisziplinäre Projekte. Deshalb liegt der Focus in meinen Ausführungen auch auf den Theater- und Wortveranstaltungen.
Eckhardt setzte die richtigen Themen und baute die Festspiele um – und vor allem aus. Zum Kerngeschäft, den Stammfestivals Internationale Filmfestspiele, Musik-Biennale/Metamusik Festival, Theatertreffen, Festwochen, Jazzfest, Jugendprojekte, Horizonte Festival der Weltkulturen kamen temporäre Festivals und Veranstaltungsreihen, deren Anlass ein aktuelles politisch-historisches Datum oder ein kulturpolitischer Auftrag war (z. B. Preußen 1981, Stadtjubiläum 750 Jahre 1987, Kulturstadt Europas 1988, 50 Jahre Kriegsende 1995, Millennium 1999/2000).
Hierzu drei Beispiele. 1992 jährte sich zum 50. Mal das Datum der Wannseekonferenz. Es wurde zum Anlass für das interdisziplinäre Festival Jüdische Lebenswelten, für den erfolgreichen Versuch, Reichtum, Vielfalt und Vitalität jüdischer Kulturen zu zeigen.
Die Komplexität des Unterfangens will ich an dem extremsten Projekt des Festivals erläutern, an dem Gastspiel „Arbeit macht frei“ vom Theaterzentrum in Akko. Alles daran war ungewöhnlich, Dauer, Ort, Inhalt, Interaktion, Gastspiel – Vorlauf, Nachspiel.
Ich hatte im Sommer 91, also sechs Monate vor Festivalbeginn, in Israel eine der Endproben gesehen und war erschüttert. Selten hatte mich Theater tiefer berührt. Mein Entschluss stand fest, die Veranstaltung musste nach Berlin. Kurz nachdem ich die Einladung ausgesprochen hatte, versuchte die israelische Regierung und bald danach auch die deutsche, alles, um das Gastspiel zu verhindern. Der kritische Umgang der Gruppe um Dudi und Madi Mayan mit der einheimischen ‚Holocaust-Industrie – There is no business like Shoahbusiness‘ war nicht für den Export bestimmt. Wir blieben standhaft und organisierten Vorbereitungsveranstaltungen.
Den 1. Teil der Performance, der in Israel im Holocaust-Museum spielte, ließen wir in der Gedenkstätte Wannseevilla stattfinden, den 2. Teil, der in der alten Kreuzritterfestung in Akko angesiedelt war, in einem muffigen Kellergewölbe in einer stillgelegten Brauerei auf dem Prenzlauer Berg. Dort hatte die Stasi im Herbst 89 Demonstranten zusammengetrieben und verhört.
Epilog: Das Gastspiel wurde von der Fachzeitschrift theater heute mit Abstand zum ’besten Gastspiel des Jahres‘ gewählt. Die Gruppe erhielt zahlreiche Einladungen zu Festivals. Andres Veiel drehte den Film „Balagan“ über das Gastspiel und die Gruppe und erhielt dafür einen Berlinale-Preis.
Oder die Sonderveranstaltungen im Frühjahr 1995 zu 50 Jahre Frieden in Deutschland. Selbstredend war auch diese interdisziplinäre Veranstaltungsreihe in typischer ‚Festspiel-Handschrift‘ konzipiert: nicht staatstragend, sondern reflektierend, ost-west-verbindend.
Und: Das Horizonte – Festival der Weltkulturen mit den Themen Schwarzafrika (1979), Lateinamerika (1981), Süd-Ost-Asien (1985), Orient-Okzident (1989). Besonders bemerkenswert war folgende Entwicklung: Der sogenannte Nord-Süd-Dialog wurde für die Politik in den 80ern so wichtig, dass man entschied, dieser Austausch solle nicht nur alle drei Jahre per Festival stattfinden – sondern täglich. So wurde in der ehemaligen Kongresshalle, dem Symbol der deutsch-amerikanischen Freundschaft, ein ganzjährig tätiges Haus der Kulturen der Welt eingerichtet.
Die Strategie ging auf. Die Organisation der Berliner Festspiele war nahezu ganzjährig als Veranstalter – und darüber hinaus quasi als Agentur mit der Herstellung von Netzwerken – tätig. Sie machte sich kulturpolitisch unentbehrlich.
Eckhardt hat acht Berliner Kultursenatoren und sieben Regierende Bürgermeister überdauert. Er hat Bundes-Kulturpolitik gemacht. So hatte die West-Berliner Kulturpolitik einen Namen und eine Adresse, in Zeiten, als die Kultur des Bundes in Berlin noch kein eigenes Ressort hatte, sondern als Annex beim Innenministerium angesiedelt war.
Die Berliner Festspiele gaben der Stadt das, was in Berlin defizitär war, gaben der Stadt Metropolenkultur, dort wo sie in vielen Bereichen doch nur Provinz war. Und das waren nicht nur die Highlights, die Stargastspiele, es war vielmehr ein kulturelles und künstlerisches Nachdenken und Ermöglichen des Neuen, Ungewohnten, Unerprobten, das eine Stadt wie Berlin von anderen unterscheiden sollte.
Die Berliner Festspiele waren drei Jahrzehnte DIE Institution des Ost-West-Dialogs. Geschätzt, gewürdigt, unentbehrlich. Dann fiel die Mauer und die Situation war plötzlich ganz anders. Manch eine vorlaute, vorschnelle Stimme wurde laut, ob sich die Aufgabe der Berliner Festspiele nun – erfolgreich – erledigt habe. Die Festspiele entgegneten, eine Aufgabe habe sich erfüllt, nun müsse das nächste angepackt werden. Denn bis man von ‚Innerer Einheit‘ sprechen könne, würde es lange dauern.
So begleiteten und beförderten die Festspiele den Weg zur ‚Inneren Einheit‘ und führten die Institution durch alle existenziellen Gefährdungen der Nachwendezeit.
Und als dann die Regierung umzog und Berlin wieder Hauptstadt wurde, erhielten die Berliner Festspiele eine neue Bestimmung. Die Festspiele wurden zentraler Baustein der neuen Politik. Die Festspiele einschließlich der Filmfestspiele und des Martin-Gropius-Baus wurden mit dem Haus der Kulturen der Welt unter dem Dach der KBB (Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin) zu einer noch schlagkräftigeren Institution zusammengefasst, die – nun ganz vom Bund finanziert – die Kulturpolitik des Bundes in Berlin umsetzen sollte. Dazu erhielten die Festspiele auch ein eigenes Haus, das Haus der Berliner Festspiele, die ehemalige Freie Volksbühne in Wilmersdorf, in der Schaperstraße.
III. Filmfestspiele, Theatertreffen, Festwochen
Die Internationalen Filmfestspiele / Berlinale (Seit 1951)
Es gibt Festivals weltweit die allen, die dafür empfänglich sind, das Herz höher schlagen lassen.
Die Filmfestspiele/Berlinale sind so ein Beispiel. Was für ein Wetter auch immer im Februar herrscht, ganz Berlin erfasst zehn Tage lang ein Filmtaumel. Hunderttausende stürzen sich rund um die Uhr auf fremdsprachige Filme von und mit Künstlern, von denen die Meisten noch nie etwas gehört haben. Fast eine halbe Million Filmbesuche stehen am Schluss in der Bilanz.
Ost-west-brückenbauend gelang diesem Festival ganz viel. Die DDR-Schauspielerin Renate Krößner z.B. erhielt 1980 den Silbernen Bären für ihre Rolle in „Solo Sunny“ (Regie Konrad Wolf / Wolfgang Kohlhaase, DDR, 1980). Aber bisweilen ging es auch hochdramatisch zu. Die Russische Delegation sah 1979 in dem amerikanischen Vietnam-Anti-Kriegs-Film „The Deer Hunter / Die durch die Hölle gehen“ (Regie Michael Cimino) eine ‚Provokation und Verhöhnung des heldenhaften vietnamesischen Volkes‘, forderte die Absetzung des Filmes und reiste, das Festival boykottierend, demonstrativ ab, als Wolf Donner, der damalige Leiter der Filmfestspiele dieser Forderung nicht nachkam – und das Festival stand kurz vor seinem Abbruch.
Das Theatertreffen
Etwas später im Jahr, im Mai, sind die Theaterbegeisterten in freudiger Erregung. In knapp drei Wochen werden die zehn bemerkenswertesten deutschsprachigen Theaterinszenierungen präsentiert. Die wichtigsten, nicht ‚die schönsten‘ oder die an der Kasse erfolgreichsten. Bei keinem anderen Berliner Festival wird seit 50 Jahren so leidenschaftlich gestritten, so meinungsstark diskutiert, sind die Erwartungen so hoch. Denn: Keine Auswahl wird regelmäßig so in Frage gestellt wie die Auswahl der Kritikerjury. Und jeder neue Kulturpolitiker überlegt in seinen ersten 100 Tagen, ob das Theatertreffen nicht grundsätzlich verändert werden sollte – worauf deutschlandweit ein Veto-Sturm losbricht, mit dem Ergebnis, das Alle befinden: Gäbe es das Theatertreffen nicht, man müsste es erfinden.
Gegründet wurde das Theatertreffen 1964, es sollte den Berlinern in der geteilten und isolierten Stadt Ersatz für das fehlende Hinterland sein und zugleich ein Leistungsschaufenster nach Osten.
Doch je mehr sich der politische Impuls, der Berlin-Auftrag aufbrauchte, umso stärker rückte der künstlerische Auftrag in den Vordergrund. Es wurde zum wichtigsten Forum der deutschsprachigen Bühnenszene überhaupt.
Der einzige Schönheitsfehler war zu Mauerzeiten nur das Fehlen der DDR-Bühnen.
Zum Durchbruch kam es in der Nachbereitung der 750-Jahr-Feier 1987. Erich Honecker und Eberhard Diepgen begegneten sich auf der Leipziger Messe im Herbst 1987. In einem Moment der Erschöpfung – oder war es ein schöpferischer Moment? – stellten beide Staats-/Stadtoberhäupter fest, auf beiden Seiten habe man es mit der ‚Musterschülerhaftigkeit‘ doch etwas übertrieben. Wir nahmen dieses Zeichen auf und machten einen erneuten Vorstoß, dass die DDR nun doch endlich am Theatertreffen teilnehmen könnte, versprachen dem sehr liberalen DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann gar, dass wir Sorge tragen würden, dass das Festival international sein würde durch die Teilnahme eines Theaters/von Theatern aus Deutschland, Österreich und/oder der Schweiz.
Hoffmann sagte nicht kategorisch nein – und die Dinge nahmen unter unserer tätigen Mithilfe ihren Lauf. Die Theatertreffen-Jury und wir erhielten ein Dauervisum (ich hüte dieses Stück Papier bis heute wie eine Reliquie) und besuchten viele Theateraufführungen in der DDR, in der Hauptstadt und in der Provinz.
Der erste Schritt war, dass die DDR einwilligte, die großartige „Nibelungen“-Aufführung vom Staatsschauspiel Dresden (Regie Wolfgang Engel) zu den internationalen Festwochen im September 1988 reisen zu lassen. Das Gastspiel im Schillertheater war ein Triumph, künstlerisch und kulturpolitisch. Das Publikum skandierte: “Hier-blei-ben! Hier-blei-ben!“ Da aber keiner der Beteiligten türmte und hier blieb, konnten wir den nächsten Schritt initiieren, der dazu führte, dass die DDR im Frühjahr 1989 mit drei(!) Aufführungen am Theatertreffen teilnahm. Mit dem Staatstheater Schwerin (Nikolai Erdmann, „Selbstmörder“, Regie Horst Havemann), mit dem Deutschen Theater Berlin (Heiner Müller, „Lohndrücker“, Regie Heiner Müller) und mit dem Maxim Gorki Theater Berlin (Volker Braun „Übergangsgesellschaft“, Regie Thomas Langhoff.) Die Aufführungen fanden in der Freien Volksbühne und im Hebbel Theater statt – und veränderten die Welt.
Die Festwochen
Ging und geht es beim Theatertreffen um das deutschsprachige Theater, war die Aufgabe der Berliner Festwochen seit ihrer Gründung 1951, zu Saisonbeginn im September ein interdisziplinäres Ausrufezeichen zu setzen: „Alljährlich auf allen Gebieten der Kunst Impulse zu geben, ständig Neues zu fördern, die künstlerischen Aktivitäten der Stadt zusammenzuführen, als Kristallisationsfaktor zu wirken und die wesentlichen Strömungen der internationalen kulturellen Entwicklungen einzufangen und nach Berlin zu bringen.“ (Zitat aus der Festwochenchronik.)
Um diese gewaltige Aufgabe zu strukturieren, gab es immer ein Thema, ein Motto, einen kulturpolitischen Rahmen.
- 1974 Arnold Schönberg und der Beginn des 20. Jahrhunderts
- 1975 Mare Nostrum – Kultur des Mittelmeers
- 1976 Berlin – New York
- 1977 ‚Die 20er Jahre‘
- 1978 ‚Zirkus – Artisten und Akrobaten in der Kunst‘
- 1979 Max Liebermann und der Naturalismus in Berlin
- 1980 ‚Opus Strawinsky‘
- 1981 ‚Preußen – Versuch einer Bilanz‘
- 1982 Gustav-Mahler-Zyklus anlässlich der 100-Jahr-Feier des Berliner Philharmonischen Orchesters.
- 1983 ‚Sieg über die Sonne – Der russische Symbolismus und Futurismus, Grenzüberschreitungen zwischen visuellen Künsten und Musik‘
- 1984 Berlin um 1900
- 1985 300 Jahre Johann Sebastian Bach
- 1986 Zeitgenössische Kunst aus Moskau
- 1987 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin. Erinnerung – Erneuerung – Gespräch
- 1988 Berlin- Kulturstadt Europas
- 1990 Fest der Einheit
- 1991 In der Mitte Europas Paris – Budapest
- 1992 Prag und die Rückgewinnung Mitteleuropas
- 1993 Japan und Europa
- 1994 Leitmotive des 20. Jahrhunderts
- 1995 50 Jahre Frieden in Deutschland – Berlin-Moskau/Moskau-Berlin
- 1996 Marianne und Germania
- 1997 Deutschlandbilder
- 1998 Wien
- 1999/2000 Fest der Demokratie
Das Neue Berlin / Der Jahrhundertschritt / Der Jahrhundertklang
Große Themen also, großer Anspruch, große Formate – bei den Ausstellungen, den Konzertgastspielen, den Theater-, Opern- und Tanzgastspielen.
Das Einschwören der Berliner Kulturinstitutionen auf das Festwochenthema, sprich deren Beitrag zu den Festwochen, sei an zwei Beispielen gezeigt, einmal kurz und schlaglichtartig und einmal ausführlich.
1992 war das Thema ‚Prag und die Rückgewinnung einer europäischen Kulturtopografie‘. Die Deutsche Oper steuerte die Uraufführung der Oper ‚Das Schloss‘ (Regie Willy Decker) nach Kafka von Aribert Reimann bei, die Festwochen übernahmen, lockend/stützend, das Honorar für den Komponisten.
1997 war das Thema der 47. Berliner Festwochen „Deutschlandbilder“. Neben den Ausstellungen, den Konzerten und dem Filmprogramm gab es Theater, Tanz, Oper, Literatur und Gespräche.
Mein Konzept für dieses Programm fasste ich im damaligen Festwochenmagazin unter dem Titel „Wege durch ein halbes Jahrhundert“ wie folgt zusammen:
Wer die Geschichte nicht fürchtet, schrieb Goethe, „sondern kühn darauf losgeht, fühlt sich, indem er weiter gedeiht, höher gebildet und behaglicher.“ Wenn die 47. Berliner Festwochen 1997 kühn auf Geschichte losgehen, so wie es der Weimarer Meister in seinen ‚Maximen und Reflexionen‘ vorschlug, dann wird sich Bildung und Einsicht durch das bessere Verstehen historischer Vorgänge sicherlich einstellen, Behaglichkeit dagegen kaum. Denn es geht um den Weg der Künste in fünfzig Jahren deutscher Nachkriegsgeschichte. „Deutschlandbilder“ also in Literatur und Theater, festgehalten in Gespräch und Debatte, in öffentlicher Begegnung vielfältigster Art. Auf welche Weise sich Schriftsteller und Dramatiker gegenüber Faschismus, dem Krieg und dem Nachkrieg, der politischen Spaltung und dem schwierigen Weg in eine neue nationale Einheit verhalten haben und verhalten, wird sich dabei erweisen.
Das ist eine besondere Herausforderung. Politischen Streit nicht zu leugnen, aber sich von ihm auch nicht die Sicht auf Bedingungen und Leistungen künstlerischer Arbeit in West und Ost verstellen zu lassen, hat sich das Wort- und Theaterprogramm der Festwochen zur Aufgabe gemacht. Es will die Begegnung fördern, es scheut vor Widerspruch und Einrede nicht zurück. Es will ins Gedächtnis rufen und lebendig halten, was uns die deutsche Literatur eines halben Jahrhunderts zur Verfügung gestellt hat.
„Diskurse in drei Reihen“ streben dabei keine Vollständigkeit an und sie verstehen sich nicht als akademische Lehrveranstaltung. Belehrung wird es nicht geben, sondern sinnliche Erfahrung.
„Die einen über die anderen“ – das sind zehn Berichte deutscher Schriftsteller über deutsche Schriftsteller, Ost über West, West über Ost. Beziehungen werden aufgedeckt, die sich durch die Ost-West-Konfrontation auf besondere, widersprüchliche Weise aufgebaut und erhalten haben.
Von Nähe und Ferne wird die Rede sein, vom Versuch, den im jeweils anderen Teil Deutschlands arbeitenden Kollegen aus den besonderen Umständen des eigenen und des ‚fremden‘ Lebens und Schaffens heraus zu verstehen – und den Lesen von heute nahe zu bringen.
Es sprechen: Günter de Bruyn über Heinrich Böll, Max von der Grün über Erwin Strittmatter, Birgit Vanderbeke über Inge Müller, Karl Mickel über Gottfried Benn, Stefan Heym über Johannes Mario Simmel, Christoph Hein über Arno Schmidt, Luise Rinser über Anna Seghers, Hartmut Lange über Bertolt Brecht, Monika Maron über Uwe Johnson und Volker Braun über Peter Weiss.
„Dialoge. Reibungen“ stellt, in ebenfalls zehn Veranstaltungen, für das Theater geschriebene Texte von 1938 bis 1997 einander gegenüber. Stücke, die etwa zur gleichen Zeit in West und Ost uraufgeführt worden sind und eine verwandte Thematik haben, werden auf ihren ‚Eingriff‘ in gesellschaftliche Prozesse, ihre ganz und gar unterschiedlichen (oder ähnlichen) Geschichten, ihre ästhetischen Herausforderungen hin untersucht – wieder nicht theoretisch, sondern durch ein Zusammenführen von Kommentar, Lesung und Debatte. Schauspieler des Deutschen Theaters stehen für die Vorstellung von Szenenausschnitten zur Verfügung; Dramatiker, Regisseure, Schauspieler werden über Geburt und Lebensweg der dramatischen Texte auf den deutschen Bühnen berichten.
Der Dramaturg Christoph Funke setzt auf folgende Reibungen:
- Brecht „Furcht und Elend des Dritten Reichs“ vs. Borchert „Draussen vor der Tür“;
- Zuckmeyer „Des Teufels General“ vs. Schmitthenner „Ein Jeder von uns“;
- Hochhuth „Der Stellvertreter“ vs. Matusche „Der Regenwettermann“;
- Walser „Eiche und Angora“ vs. Hacks „Moritz Tasso;
- Fassbinder „Katzelmacher“ vs. Braun „Die Kipper“;
- Brasch „Rotter“ vs. Plenzdorf „Die neuen Leiden des jungen W.“;
- Sperr „Jagdszenen aus Niederbayern“ vs. Strahl „Ein irrer Duft von frischem Heu“;
- Weiss „Die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat…“ vs. Müller „Germania Tod in Berlin“ sowie
- Strauß „Schlusschor“ vs. Hein „Die Ritter der Tafelrunde“.
„Ruhestörungen“ schließlich widmet sich an zehn Abenden dem deutschen Umgang mit deutschen Fragen in der Literatur von 1945 bis 1990. Nicht nur Deutschland-Debatten im Nachkrieg oder die Berührung der Schriftsteller mit dem kalten Krieg sollen an wichtigen Texten nachgewiesen werden, es geht um eine grundsätzliche, Ruhe und Behaglichkeit störende Befragung der Literatur in einer Zeit tiefgreifender politischer Konflikte.
In enger Beziehung zu diesem reichen, um die Entwicklung der Künste gruppierten Programm stehen die „Berliner Lektionen“ 1997 und die „Gespräche im Gartenhaus“ der ehemaligen Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Hannoversche Straße. Die vom Haus Bertelsmann gemeinsam mit den Berliner Festspielen 1987 gegründete Reihe „Berliner Lektionen“ beschäftigt sich diesmal mit dem Thema „Deutschlandbilder – Innenansichten und Außenansichten“. Lektionen erteilen Richard von Weizsäcker, Walter Kempowski, Walter Laqueur, Peter Sloterdijk, Cathérine David und Cees Nooteboom.
Zu den Gesprächen im Gartenhaus treffen sich Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Publizisten als Zeitzeugen – die Räume des Gartenhauses waren seit der Einrichtung der Ständigen Vertretung im März 1974 eine wichtige Begegnungsstätte in einem geteilten Land.
Für diese Begegnungen, Debatten, Vorträge, Gespräche liefert ein aufregend vielschichtiges Theaterprogramm ein Zentrum des Erlebens. Theater erzählt immer über das Verhalten von Menschen in geschichtlichen Prozessen, auch dann, wenn Politik (scheinbar) gar nicht vorkommt. Versucht wird eine „Deutsche Bilanz“, Vergangenes aufnehmend, Gegenwärtiges ins Spiel bringend, Zukünftiges prüfend. Fünf Gastspiele geben einer Reihe von 22 Auftrags- bzw. Koproduktionen mit Berliner Theatern Weite und Perspektive.
Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin zeigt die beiden „Totentrompeten“-Produktionen „Drei Alte tanzen Tango“ und „Drei alte Schachteln am Abend“ von Einar Schleef – Stücke, die über das Phänomen Sprache Befindlichkeiten in der DDR-Provinz fassen und sehr eigenwillig deuten.
Vom Schauspiel Leipzig kommt eine überraschende, verstörende Heiner-Müller-Interpretation. Konstanze Lauterbach siedelt die Geschichte einer Revolution, „Der Auftrag“, in einem Altersheim an, dessen Insassen – mühelos als Politbüroveteranen erkennbar – sich ihrer revolutionären jugendlichen Heldentaten erinnern.
Eine Hörtheater-Klanginstallation von Isabella Mamatis und Peter Tucholski, „Der Tisch im gelben Zimmer“, setzt wiederum einen besonderen Akzent: Deutsch-deutsche Geschichte als Erzählung eines Tisches aus einem „Tal der Ahnungslosen“.
Das theater 89 in der Berliner Torstraße bringt eine ganze Serie von Stücken zur (Wieder)Aufführung, in denen die deutsche Frage eine entscheidende Rolle spielt. Alfred Matusches „Regenwettermann“ steht am Anfang, es folgen Georg Seidels Kondensmilchpanorama“, Oliver Bukowskis „Londn-L.A.-Lübbenau“, eine Bühnenfassung von Christa Wolfs Roman „Medea“ und Paul Gratziks dramatische Ausformung epischer Texte von Johannes Bobrowski: “Litauische Claviere“.
Das Grips-Theater dichtet seine Vorwende-Inszenierung von „Auf der Mauer auf der Lauer“ ins Heute fort und ergänzt dieses ‚tief bewegende, kodderschnäuzige Zeittheater‘ (SFB) durch die Wiederaufnahme seiner legendären „Eine linke Geschichte“ über Träume und Erlebnisse der in die Ereignisse von 1968 verwickelten Generation.
Eine Uraufführung gibt es im carrousel Theater an der Parkaue: Manuel Schöbel schreibt einen Text für Kinder im Raster der Zeit: “Tautropfenliebe“.
Die Aufführungen und Projekte der Theaterreihe suchen Entfernungen deutlich zu machen und Näherungen zu zeigen. Kennzeichnend dafür sind die beiden Hochschulprojekte. Zum einen das der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch:“Benn/Becher: Doppelleben Deutsch“. Den Weg zweier Lyriker, die es nach gemeinsamen Anfängen weit auseinandertrieb, wird das Phänomen deutscher Zerrissenheit und sich ausschließender Auffassungen über Kunst und Wirklichkeit besonders deutlich. Die Hochschule der Künste stellt Texten von Rainald Goetz eine Auswahl von Liedgut aus beiden deutschen Staaten gegenüber. „Was schläft in meinem Hirn“.
Auch das Tanztheater ist den politisch-ästhetischen Widersprüchen der deutschen Nachkriegszeit auf der Spur. Im Hebbel-Theater und Theater am Halleschen Ufer kommt ein „Deutschlandprojekt 1997“ mit Uraufführungen von Jo Fabian und Gabriella Bußacker heraus, Sasha Waltz & Guests zeigen in den geschichtsgetränkten Sophiensälen In Berlin-Mitte „Zweiland“, einen neuen Beitrag zum Alltag in deutschen Landen. Diesmal ist die Szene nicht eine Plattenbauwohnung wie in der „Allee der Kosmonauten“, sondern Kiosk und Straße. Einen Solo-Abend gibt Reinhild Hoffmann unter dem Titel “Vor Ort“ – in Beziehung gebracht werden ein ‚Berliner Zimmer‘ und eine ‚Waschkaue‘ im Ruhrgebiet. Das Tanztheater der Komischen Oper rekonstruiert u.a. eine Choreografie von Gerhard Bohner(„Angst und Geometrie“) mit der Musik von Walter Zimmermann, die 1990 mit den Tänzern des Prager Kammerballetts im Hebbel-Theater uraufgeführt wurde.
Die Theaterreihe entzieht sich, schon durch die Vielfalt der an ihr beteiligten Theater und Gruppen, jeder engen Festlegung. Das kleine, extreme Selbstausbeutung betreibende Orph-Theater im Prenzlauer Berg ist mit „Der Findling“ von Ernst Barlach dabei, das Theater Affekt mit „Gärten des Grauens“ von Daniel Call und die junge Mannschaft der Baracke des Deutschen Theaters mit „Deutschlandbilder“ – einer Einladung an drei junge Dramatiker aus Frankreich, Großbritannien und Rußland, die mit unbefangenem Blick die deutsche Hauptstadt Berlin entdecken.
Noch nicht genug: Die Charlottenburger Vaganten-Bühne hat eine Bild-Text-Collage „Augen der Grosz-Stadt“ erarbeitet, die sich an den ‚Goldenen Zwanziger Jahren“ orientiert. Die Tribüne bringt ein Gastspiel mit Liedern gegen die Finsternis sowie Texte von Wolfgang Borchert, der mit „draußen vor der Tür“ das erste Stück der Anklage gegen das Vergessen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb.
Das Maxim Gorki Theater bringt zwei Premieren heraus, in engem Zusammenhang mit dem Anliegen der Festwochen stehen: Im Bankettsaal des ehemaligen Staatsratsgebäudes „Atem“ von Samuel Beckett und im Studio die Uraufführung „Kalpak“ von Vera Kissel. In „Atem“ erreicht Beckett mit dem Verstummen aller Worte die Grenze zum Schweigen – und dieser „Atem“ weht für wenige Tage im Herbst 97 durch den ehemaligen Amtssitz des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. „Kalpak“ ist eine dramatische Begebenheit aus dem Jahr 1945, dem archimedischen Punkt unserer gemeinsamen deutschen Geschichte – der Titelheld ist ein aus dem KZ entflohener russischer Häftling.
Auf dem Spielplan der Berliner Bühnen finden sich im Herbst viele Stücke, die auf ihre Art „Deutschlandbilder“ entwerfen, von Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“, Brussigs „Helden wie wir“, Botho Strauß‘ „Ithaka“ über Jens Sparschuhs „Der Zimmerspringbrunnen“, bis „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf. Die deutsche Hauptstadt erlebt zu den Festwochen also ein Theaterprogramm, das entschlossen auf die Geschichte zugeht und sich an den Konflikten der Gegenwart reibt.
Das gilt selbstverständlich auch für den weiten Bereich des Musiktheaters. Das ‚Zeitgenössische‘ hat es hier noch schwerer, und gerade deshalb sind die Berliner Festspiele schon seit Jahrzehnten zuverlässige, bewährte Helfer bei der Aufführung neuer Werke. Hans Werner Henzes Oper „Der Idiot“ nach einer Dichtung von Ingeborg Bachmann kam 1952 im Hebbel-Theater als Koproduktion mit den Berliner Festspielen heraus – in diesem Jahr wird das Musikdrama durch die Zeitgenössische Oper Berlin erneut aufgeführt. In der Deutschen Oper Berlin hat am 21. September ein weiteres Werk von Henze Premiere: „Der Prinz von Homburg“ nach Heinrich von Kleist (Libretto Ingeborg Bachmann). Die Regie von Götz Friedrich wird die zeitübergreifenden, aktuellen Bezüge und Gültigkeiten sicher stark herausarbeiten. Das große Thema des Theaterprogramms spielt in besonderer Weise auch in Mauricios Kagels Musikepos „Der Mündliche Verrat“ eine Rolle – mit balladenhaft aneinander gereihten Szenen über die Nachtseite der menschlichen Existenz, den Aberglauben, den Verlust der vom Verstand gesetzten Ordnungen. Träume, schwarze Träume als Urgrund des menschlichen Seins – wie schon bei Kleist. Das Musikepos bringt ebenfalls die Zeitgenössische Oper Berlin zur Aufführung.
IV. Die Stadt als Spielstätte
Aus der nahezu unendlichen Fülle der bemerkenswerten Festwochenereignisse will ich unter dem kulturpolitischen Blickwinkel nur die internationalen Theatergastspiele von Ariane Mnouchkine und Peter Brook herausgreifen. Diese Gastspiele im Stadtraum haben im Langzeitgedächtnis der Zuschauer Spuren hinterlassen, Spuren an Orten, an denen vorher und nachher nie wieder Theater gespielt wurde. Die Festwochen-Besucher, die sich aufmachten, um dabei zu sein, wurden belohnt. Mit Einmaligkeiten in jeder Hinsicht. Topografisch, denn die magische Verwandlung des Ortes durch den Theaterzauber ereignete sich nur einmal, eben in der Zeit des Gastspiels.
Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil aus der Pariser Pulverfabrik Cartoucherie verwandelten 1984 mit ihrer asiatisierten Shakespeare Trilogie die (inzwischen abgerissene) Deutschlandhalle in ein blaues Wunder. Jenen 30er Jahre Bau, in dem der spezifische Duft von Parteitagen, Radrennen und anderen Massenveranstaltungen in der Luft liegt. Viermal wurde der Shakespeare Zyklus gegeben (Richard II, Was ihr wollt, Heinrich IV) abwechselnd inspiriert durch Kabuki, Nô und Kathakali Ästhetik.
Die 12 Vorstellungen waren im Nu ausverkauft. Bereits an den Ausgängen der nahen U-Bahn-Station Kaiserdamm liefen die glücklichen Kartenbesitzer Spalier zwischen Theaterenthusiasten mit dem Schild „Karte gesucht“ in der Hand. Und an den Abendkassen spielten sich dramatische Szenen ab um den Erwerb der wenigen zurückgegeben Karten. Einige Entschlossene versteckten sich nach der besuchten Vorstellung in den Katakomben, um am nächsten Tag noch einmal dabei zu sein. Eine Fanatikerin kletterte gar aufs Hallendach, und drohte sich herabzustürzen, wenn ihr Kartenwunsch nicht ermöglicht würde. (Wir luden sie für die restlichen Vorstellungen ein.)
Kulturpolitisch essentiell war die Wahl des Spielortes für das Gastspiel der „Atriden Trilogie“ 1991, „ein Monumentalprojekt des Welttheaters, in dem die Sonnenkönigin Ariane die Tragödie tanzen ließ“ (Benjamin Henrichs). Spekulanten hatten nach dem Fall der Mauer auch vor den heiligen Filmhallen in Potsdam-Babelsberg nicht Halt gemacht. Das Filmgelände stand kurz vor einer ziemlich feindlichen Übernahme, die Filetstücke waren schon fast verkauft. Deshalb mieteten wir die historische Marlene-Dietrich-Halle einen Monat lang an und beauftragten die arbeitslosen Babelsberger Mannschaften mit der Umsetzung des Gastspiels. Der Erlös brachte so viel Geld in die leeren Babelsberger Kassen, dass die Zerschlagung abgewendet werden konnte.
Für Mnouchkines fundamentalistischen Tartuffe, den Gerhard Stadelmaier in Tartuffistan, einem Land gleich um die Ecke ortete, entdeckten wir 1996 die Treptower arena. Falk Walter und Jakob Klaffke, zwei Prototypen der vom Aussterben bedrohten Spezies „Veranstalter, vom Virus der Tollkühnheit befallen“, hatten soeben das heruntergekommene ehemalige Busdepot im Industriegelände an der Spree für Rockkonzerte angemietet. Franz Ahrens hatte es 1927 als Omnibushauptwerkstatt Berlins gebaut.
Unvergesslich der erste Ortstermin. Klaffke stand allein und einsam in der riesigen, fünfschiffigen Halle (100 m Länge, 70 m Breite) auf einer Leiter. Es regnete und Jakob versuchte, die Löcher im Dach abzudecken. Aber was hieß hier Löcher? Das Dach war nahezu ein einziges Loch. Malerisch flutete es von oben herab durch die Löcherhundertschaften, Licht- und Wasserspiele fanden auf dem Boden statt. Jakob rief von oben herunter, um Nachsicht bittend, er hätte wenig Zeit, denn das Rockkonzert fände in zwei Tagen statt… Als wir aber das Zauberwort Théâtre du Soleil in den Raum setzten, kletterte er eiligst herab und wir waren uns rasch einig, diese Wände müssten auch durch Theater singen.
Die Festwochen-Liebesgeschichte mit Peter Brook begann 1972 mit „A Midsummernight’s Dream“ im leeren Raum. Es folgten 1976 „The Iks“ im Berliner Union-Filmstudio an der Oberlandstraße, 1978 „Ubu aux Bouffes“ in der Baustelle Theater des Westens und 1979 „La Conférence des Oiseaux“ in einem luftigen Pagoden-Pavillon der Messehallen unter dem Funkturm und 1990 „Woza Albert“.
1993 setzten wir ein kräftiges kulturpolitisches Zeichen, als wir die Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg suchten und gemeinsam „Impressions de Pelléas“ im DOK-Babelsberg, einer wunderbaren Halle der ins Aus manövrierten DEFA-Filmstudios in Potsdam, präsentierten. Der Spielort, den wir in jenes warme Brook-Karmesinrot getaucht hatten, lag neben einem verwunschenen Maeterlinkschen Park an einer Straße mit dem schönen slawischen Namen Alt-Nowawes. Unvergesslich wird den Theaterpilgern bleiben, wie Brook es gelang, die Geschichte von „Pelléas und Mélisande“ mit zwei Bechstein-Flügeln in Debussys Salon zu verlegen und auch dieser in Babelsberg die Intimität der Pariser Bouffes du Nord atmete.
V. Das Stadtjubiläum, die 750-Jahr-Feier 1987
Das West-Fest bestand aus drei Teilen. Im Frühjahr waren die Bezirke dran, sie sollten sich einzeln und nacheinander in ihrer ganzen Dynamik vorstellen und aufleuchten wie unter einem großen Suchscheinwerfer. Im Sommer gab es das Stadtfest und für den Herbst waren die großen Gastspiele angesetzt unter dem Titel Die Welt zu Gast von der Mailänder Scala bis zum Royal Ballet inklusive Lady Diana mit Prinz Charles.
Das Stadtfest sollte, selbstverständlich, mit einem Umzug beginnen. Wie aber musste der gestaltet sein um sich abzusetzen von dem, den die Nazis 50 Jahre zuvor wirkungsvoll für ihre braune Propaganda nutzten? Die zündende Idee war: Wir verlegen den Umzug aufs Wasser, denn auf dem Wasser gibt es kein Marschieren im Gleichschritt.
Ein Wasserkorso also. Die historische Brücke war, dass „Berlin aus dem Kahn gebaut war“ und dass Berlin mehr Brücken als Venedig hat. Wir luden europaweit ein, Schiffe auf dem Wasserweg als Geburtstagsgruß zu entsenden. Eine der Schwierigkeiten war, die Aufbauten / Schornsteine mussten klappbar sein, um unter den Brücken durchzukommen. Der 27 km lange Wasserkorso (Leitung Andreas Schroth, 345 Schiffe / Boote / Kähne / Floße / Gondeln/ Amphicars etc., die teilweise über sechs Wochen und über tausend Kilometer unterwegs waren) ging über zwei Tage, von West Ost nach Nord Süd. Von der Lohmühlenbrücke in Kreuzberg über den Landwehrkanal bis zum Tegeler See bzw. zur südlichen Havel. Zirka eine Million Zuschauer verfolgten die Veranstaltungen auf und am Wasser.
Dass es überhaupt dazu kam, war ein kleines Wunder. Denn die DDR „kaperte überfallartig“ einen Teil der Schiffe, indem ihnen nach erfolgter Einreise die Ausreise nach West-Berlin verweigert wurde. Große Aufregung, vor allem in den Springer-Zeitungen. Aber mit stiller Diplomatie wurden die Schiffe rechtzeitig wieder befreit, denn die DDR ging auf unseren Vorschlag ein, dass die Schiffe auch im Ostteil der Stadt eine Parade abhalten sollten.
VI.
Einschub: Anhand dieser nicht geplanten, aber sehr effektiven Ost West Zusammenarbeit, will ich über geplante Versuche der Zusammenarbeit sprechen.
Als die Berliner Festspiele Anfang der 80er Jahre das Angebot des Berliner Senats annahmen, die 750-Jahr-Feier inhaltlich und organisatorisch auszurichten, sahen wir dieses Datum als DIE Gelegenheit zu deutsch-deutschen Kooperationen. War es doch gelungen, das alljährliche interdisziplinäre Herbstfestival, die Berliner Festwochen seit Anfang der 70er Jahre zu einer Drehscheibe für und mit dem gesamten Ostblock zu machen, gab es bezüglich der Teilnahme der DDR daran ein stetiges striktes NEIN.
Wir sahen im Stadtjubiläum das Vehikel, an diesem Punkt voranzukommen, denn so eine geschichtliche Steilvorlage würde so schnell nicht wiederkommen.
Also zogen wir los, trafen uns mit unseren Ostberliner Theaterfreunden von Heiner Müller über Wolfgang Engel bis Alexander Lang und schmiedeten konspirative Pläne für Ost-West-Kooperationen.
Um es kurz zu machen, es war weniger als erhofft und geplant. Aber es gelang dann doch mehrfach bei der Gastspielserie Die Welt zu Gast – obwohl die Künstleragentur der DDR den Ensembles Honorarzuschläge bot, wenn sie ausschließlich in der DDR gastierten, oder die Einladung an die Bedingung knüpfte, nicht in West-Berlin aufzutreten.
Da aber unsere Freunde Claudio Abbado, Giorgio Strehler, Patrice Chéreau und Riccardo Muti wie wir dachten, gelang es, dass z.B. die Mailänder Scala mit „Nabucco“ in der Westberliner Deutschen Oper gastierte und mit dem Verdi-Requiem im Ostberliner Schauspielhaus. Chéreau zeigte im Westen Koltès, Tschechow und Kleist und im Institut Francais Unter den Linden seine Filme…
Also ein Anfang war im Herbst 1987 gemacht, der Durchbruch sollte mit der Teilnahme der DDR am Berliner Theatertreffen im Frühjahr 1988 kommen.
VII. SternStunden
Höhepunkt des Festes zum 750-Jahre-Jubiläum der Stadtgründung waren die SternStunden am Großen Stern mitten im Tiergarten. Die selbstgestellte Aufgabe kühn: Rund um die Siegessäule war ein Freiluft-Theater für 25.000 Besucher zu bauen. An einem Ort, der täglich 60.000 Fahrzeuge zu bewältigen hatte und so nur stundenweise gesperrt werden konnte – und dessen technische Infrastruktur in einem einzigen Stromanschluss für die Leselampe der ABM-Kraft bestand, die den Einlass zur Besteigung der Siegessäule regelte – ein Open-Air-Theater also zu errichten für vier verschiedene Berlin-Revuen, die die Geschichte der Stadt anspruchsvoll-augenzwinkernd Revue passieren ließen. Der Produktionsplan war eine Herausforderung: Montag technische Einrichtung, Dienstag bis Donnerstag Proben, Freitag Premiere, Samstag zweite Vorstellung und Sonntag Reserve, falls es regnet, und am Montag wieder alles von vorne für die nächste Uraufführung. Pro Revue zwischen 500 und 1.000 Mitwirkende, pro Revue 50.000 Zuschauer.
- Erste SternStunde „Hoppla wir leben. Die Goldnen Zwanziger“. Regie Hansgünther Heyme.
- Zweite SternStunde „Da machste wat mit – Berlin seit 1945“. Regie Helmut Baumann.
- Dritte SternStunde „Preußen – Ein Traum. Romantik in Berlin“. Regie Winfried Bauernfeind.
- Vierte SternStunde „Meistersinger am Großen Stern. Die Opernstadt Berlin“. Regie Götz Friedrich.
Alle acht anspruchsvollen Abendunterhaltungen fanden statt, obwohl es während der Woche häufig regnete.
VIII. Die Berliner Lektionen
Zur 750-Jahr-Feier haben wir auch die Berliner Lektionen erfunden, ein Format, das so erfolgreich war, dass es ein Viertel-Jahrhundert lang fortgeführt wurde. Ausgangspunkt war, dass wir alle großen Industrieunternehmen der BRD fragten, was sie denn Berlin zum Geburtstag schenken wollten. Daimler-Benz z.B. schenkte der Stadt das Glockenspiel im Schulthes-Turm am Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten, der bis heute regelmäßig Carillon-Konzerte anbietet.
Mit dem Haus Bertelsmann konzipierten wir die Berliner Lektionen – als ‚Anti-Talk-Show‘: Eine Persönlichkeit des politischen oder kulturellen Lebens hielt am Sonntagvormittag im Berliner Renaissance Theater eine druckreife, später in Buchform nachzulesende Rede – über in Berlin Erlebtes oder über etwas, das der Stadt ins Stammbuch geschrieben werden sollte – eine Stunde lang – und hinterher keine Diskussion. Alle Reden wurden vom damaligen SFB (heute rbb) aufgezeichnet und gesendet und lagen zur folgenden Saison in einem Sammelband vor.
Zwei Themen beherrschten die Lektionen, deutsch-jüdische und deutsch-deutsche Aspekte – z.B. Ruth Berghaus, Wolf Biermann, Willy Brandt, Gräfin Dönhoff, Günter Kunert, Helmut Schmidt, Manfred Stolpe; unerwartet starke Reflektionen lieferten u. a. Hildegard Knef und Udo Lindenberg. Genau 100 Berliner Lektionen wurden in der von Ulrich Eckhardt und mir verantworteten Zeit erteilt.
Torsten Maß
aus: Berlin|Berlin, Kunststücke aus Ost und West
Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2014
Torsten Maß
Jahrgang 1951 (wie die Berliner Festspiele), studierte Romanistik, Germanistik und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und war zuvor als Regisseur und Dramaturg in Dinkelsbühl, Memmingen, im Tübinger Zimmertheater und am Theater der Altstadt in Stuttgart engagiert.
Die erste Tätigkeit bei den Berliner Festspielen war 1976 die Betreuung des Festwochengastspiels von Patrice Chereau mit La Dispute im Schillertheater. Er war Leiter der 1978 gegründeten Internationalen Sommerfestspiele, die bis 1981 stattfanden. Von 1979 bis 2000 leitete er das Künstlerische Büro der Berliner Festwochen und war in dieser Funktion der Stellvertreter des Intendanten, u. a. verantwortlich für die Veranstaltungen der 750-Jahr-Feier 1987 und zum Millennium 1999/2000.
Das Theatertreffen leitete er von 1989 bis 2001.
2002 bis 2016 war er Leiter der Allgemeinen Projektförderung der Kulturstiftung des Bundes in Halle/Saale.
Er war Kurator des Festivals Theater der Welt 2008 in Halle/Saale.
Er ist Gründer und Vorstand der Alfred-Kerr-Stiftung, die alljährlich den Alfred-Kerr-Darstellerpreis im Rahmen des Berliner Theatertreffens vergibt.
Seit 2017 ist er im Stiftungsrat und Mitglied der Jury der Von-Brochowski-Süd-Nord-Stiftung. Die Stiftung hat das Ziel, Künstler aus afrikanischen Ländern zu fördern, die mit ihrem Schaffen einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Länder leisten.