Bundesverdienstkreuz für Torsten Maß

Torsten Maß bei seiner Dankesrede am 4. Oktober 2024 im Haus der Berliner Festspiele

Laudatio von Ulrich Eckhardt zur Verleihung am 4. Oktober 2024

Wir sind zusammengekommen, um Torsten Maß zu ehren u. a. für 25 Jahre Arbeit an den Berliner Festwochen. 

Ihn zu ehren, ist Vergnügen und macht Lust, Bilder und Erinnerungen, Ereignisse und Gedanken vorbei ziehen zu lassen und zu vergegenwärtigen, was wir gemeinsam erlebt haben – mit leichter Beklommenheit. Denn es geht um die letzten zwei/drei Jahrzehnte des vorigen Jahrtausends, eine Zeit, die weitgehend schon im Dunst einer abflachenden Geschichtsschreibung versickert und schließlich als erlebte Wirklichkeit ganz verschwindet. 

50 Jahre sind vergangen, ein halbes Jahrhundert, eine spannungsreiche, historisch aufgeladene turbulente Zeit, eine Blütezeit der Berliner Festspiele – eine für alle Beteiligte glückliche und arbeitsame Zeit. 

Wie fange ich an, um den reichen Stoff zu bündeln? Zuerst die Anrede: Lieber Herr Maß oder lieber Torsten? Heute und schon lange sind wir Freunde und rufen uns mit unseren schönen Vornamen. Im Dienst pflegten wir einen achtungsvollen, diskreten Umgang – also eine Sie-Beziehung, verstanden uns nie als verschworene Kumpane, sondern als vertraute Partner, die höchst effektiv nach der Strategie der freien Hand gemeinsam wirkten und einander fest vertrauten – in ethischer Übereinstimmung. 

Wann, wo und wie nahm dieser singuläre Glücksfall einer erfüllten beruflichen Zusammenarbeit seinen Anfang? Gleich nebenan in Sichtweite von hier: Internationale Filmfestspiele Berlin und Berliner Festwochen – zwei künstlerisch selbständige Abteilungen einer zunächst Behörde, dann einer GmbH mit den beiden Gesellschaftern Bundesrepublik und Berlin – lebten in befruchtender Nähe unter einem Dach: Bundesallee 1-12. Dort auf den weitläufigen Fluren traf man sich gelegentlich im Vorbeigehen. Unsere Geschichte begann hier eher zufällig über Francesca Spinazzi, eine elegante polyglotte Weltbürgerin, die bei den Filmfestspielen zur Betreuung ihrer Gäste und Künstler engagiert war. Und da stand eines heiteren Tages ihr Kommilitone Torsten im Gang, um sie zu besuchen. Ich kam vorbei, sah ihn an und erkannte intuitiv: er passt zu mir und zu unseren neuen Aufgaben. Vertrauen auf den ersten Blick. 

Vielleicht war es ganz anders; aber die Geschichte ist zu schön als dass sie nicht erzählt werden sollte.

Die Berliner Festwochen waren auf Expansionskurs, erweiterten ihren Aktionsradius wie die Formate, und eine studentische Hilfskraft, offenbar begierig auf alles Neue und Andere, war hoch willkommen. Umstandslos – ohne die Prozedur einer Bewerbung mit Dokumenten,

Bewerbungsschreiben, Zertifikaten, Empfehlungen oder Befähigungsnachweisen – stieg er ein und setzte Gestaltungskräfte frei, die grenzenlos schienen. Torsten erwies sich als Naturtalent in Organisation, Durchsetzungsfähigkeit und Kreativität. Ihm war keine Aufgabe zu schwer, keine Dimension zu groß, um sie nicht mit Bravour und Grazie bewältigen zu können, keine Mühsal zu lästig, kein Weg zu beschwerlich, um ans Ziel zu gelangen. Und die Ziele waren ambitioniert und gingen weit hinaus über das herkömmliche Pensum eines tradierten Kulturinstituts. 

Er wurde Leiter des Künstlerischen Büros und Stellvertreter des Intendanten mit kuratorischer Verantwortung für Darstellende Künste, Literatur und Wortprogramme einschließlich der Berliner Lektionen sowie für interdisziplinäre Projekte im Kontext der prägenden großen kulturhistorischen Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau.

Und sei es noch nicht genug übernahm er zusätzlich dann auch noch die Leitung des Theatertreffens in einer kritischen Zeit der Existenzgefährdung, stabilisierte es durch Gewinnung von 3Sat und Einrichtung des Stückemarkts. 

Schließlich schuf er sich noch selbst für einige Jahre sein eigenes Feld: die Internationalen Sommerfestspiele und den Musiksommer – mit außergewöhnlichen Ereignissen, raumgreifenden kühnen Unternehmungen: u. a. Entdeckung der Waldbühne für große symphonische Musik, Opern open air, Honegger und Beethovens Fidelio in der Kirche Maria Regina Martyrum, Klangmeile Kurfürstendamm.

Wohl ein Höhepunkt der Arbeit an neuen Formaten die vier Sternstunden zum Stadtfest 1987, komplizierte, waghalsige, mutige Unternehmungen ohne Vorbild – zugleich maßstabsetzende Muster intelligenter Unterhaltung in einer Kombination von Geschichte und Aktion, Szene und Musik. 

Hoppla, wir leben (Milva und Juhnke an der Goldelse) – Da machste was mit – Preußen ein Traum – Meistersinger. Im Nachhinein schier unglaublich, was Hunderte junger Leute für hunderttausend Besucher an vier Wochenenden schufen!

Aber es gibt weit mehr zum Staunen: Hier jetzt nur eine unvollständige Aufzählung, wie die Stadt zur Bühne wurde. Hinter jedem Titel öffnen sich reiche Bilder und hell leuchtende Erinnerungen. „Menschenbrüder“ zur Preußen-Ausstellung auf Schutthügeln am Gropiusbau, Theater im Tiergartentunnel B 96, Hansgünther Heymes peripatetischer Nathan im Tiergarten, Luca Ronconis Prozessionstheater in der Neuen Nationalgalerie, Kanzlerfest für Unicef mit Loriot, Ariane Mnouchkines Mephisto in den Messehallen, ihr Shakespeare-Zyklus in der Deutschlandhalle, Tartuffe in der Arena Treptow, Atrides in der Marlene-Dietrich-Halle Babelsberg, Peter Brooks Pelleas in der Babelsberger Dokfilmhalle, Chereaus Hamlet in der Deutschlandhalle, Abbados Jugendorchester in der Waldbühne, Taboris Theater in Zelten und der Cirque Gruss zwischen Philharmonie und Neuer Nationalgalerie, „Sinfonie der Großstadt“ in der Waldbühne, Akko mit „Arbeit macht frei“ zu den Jüdischen Lebenswelten, Habimah und Rustaveli, Taganka mit Ljubimov, Lew Dodin, Collas Marionetten, „Atem“ von Samuel Beckett 1997 im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude, Andrzej Wajda, Tadeusz Kantor, Pina Bausch, Sasha Walz, Kabarett der 20er Jahre mit Blandine Ebinger, Margo Lion, Misha Spoliansky, Begegnung mit Hans Sahl, Wasserkorso zum Stadtfest, Westhafenfest und Konvoi der 100 historischen Schiffe aus Holland mit Querelen an den Ost-West Grenzen. Schließlich noch die Theaterwelten 2000 zum Millennium, geleitet von Francesca Spinazzi mit ansteckender Theaterbegeisterung; sie pflegte auch unsere besonders engen Verbindungen mit Claudio Abbado, Peter Brook und Ariane Mnouchkine. 

Und das alles stets in einvernehmlicher kollegialer Kooperation mit dem benachbarten Konzertbüro und der jeweiligen Ausstellungsleitung, die ebenfalls in freier Verantwortung ihre Arbeit verrichteten. 

Ausführliche detailreiche propädeutische Druckwerke, Journale, Magazine, Broschüren, Zeitungen, Flugblätter und Dokumentationen begleiteten stets sorgfältig ediert jedes Programm. Zur Ausstrahlung gehörten außergewöhnliche künstlerisch konzipierte Plakate. 

Die Berliner Festwochen waren mit Torsten Maß zur Stelle, wenn historisch fundierte Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung und Selbstvergewisserung für das Gemeinwesen zu gestalten waren. So machte sich die Institution ihrem kulturpolitischen Gründungsauftrag gemäß unentbehrlich und erwarb sich das Vertrauen der Politik. Hochkomplexe interdisziplinäre Veranstaltungsreihen im großen Format waren nicht staatstragend, sondern reflektierend, ost-west-verbindend, über Mauern schauend zu gestalten. Ihr Anlass jeweils ein historisches Datum oder ein aktueller kulturpolitischer Auftrag. 

Einige Beispiele: Preußen 1981, Stadtjubiläum 750 Jahre 1987, Kulturstadt Europas 1988, 50 Jahre Frieden zum Kriegsende 1995, zwei Mal ein Fest der Demokratie zu 50 Jahre Grundgesetz und 1999, 1992 Jüdische Lebenswelten, am 3. Oktober 1990, im Auftrag der Bundesregierung das Fest der Einheit, mit dem Staatsakt in der Philharmonie und Mitternachtszeremonie auf dem Platz der Republik mit Chören, Bläser, Orgel und vier Carillons, um nationalen Überschwang zu vermeiden und Extremisten fernzuhalten, ferner Gedenkveranstaltungen 1991 zum Krieg gegen die Sowjetunion, 1994 Abschied von den Alliierten, zum Memento an die Opfer Verdis Requiem in der Waldbühne mit Rudolf Barshai und einem Weltorchester, am 1. September 1999 das Polnische Requiem mit Penderecki, Berlin – Paris, Berlin-Moskau, Prag, Georgien, Deutschlandbilder, zum Millennium 1999/2000 Sieben Hügel im Martin-Gropius-Bau und das Kunstfest am Kulturforum zum Jahrhundertschritt.

Die Strategie der Einmischung ging auf. Öffentliche Aufträge führten die Firma in die Mitte der Gesellschaft und in stadtpolitische wie außenpolitische Zusammenhänge, machten sie attraktiv für kulturpolitisch und interkulturell definierte Aufgaben.

Als das Event noch nicht erfunden war, stemmte Torsten die größten und schwierigsten Ereignisse mit Mut (zuweilen Über-Mut), Phantasie, Bravour, Eleganz, Leichtigkeit, Sensibilität und Präzision, und der Fähigkeit andere zu überzeugen. Unmöglich war ihm nichts. Er konnte erfolgreich und wirkungsvoll Bündnisse stiften und Kooperationen in Gang bringen. Er bewegte sich auf leisen Sohlen, mit leisen Tönen, ohne große Worte, setzte andere, nicht sich selbst in Szene. 

Bei solcher glänzenden Leistungsbilanz vermutet man hinter den Erfolgen einen Machtmenschen oder kalten Manager, hingegen begegnete man einem grazilen feinsinnigen hochgebildeten Mann von ausgesuchter Höflichkeit und Großzügigkeit, wacher Beobachtungsgabe, gewinnender Empathie.

Und wo finden wir den unermüdlichen Organisator, wenn die Idee sich materialisiert, das Projekt in die Öffentlichkeit kommt? Natürlich im Hintergrund, an der Seitenlinie oder in den Kulissen, freudig und selbstkritisch das Ergebnis monate-/jahrelanger Vorarbeit betrachtend. 

Ein Triumvirat leitete die Firma, der Dritte im Bunde war Hinrich Gieseler als strenger, sensibler, verständnisvoller, aufrichtiger, gradliniger Wächter der Gelder und Verträge als Stellvertreter des Geschäftsführers, der ich zum Glück ja auch war und zwar für die gesamte Berliner Festspiele GmbH einschließlich der Berlinale, was vieles erleichterte. Beide Sektoren konnten voneinander profitierten und sich gegenseitig stützen.

Die Organisation der Berliner Festwochen war inzwischen nahezu ganzjährig als Veranstalter aktiv – und darüber hinaus quasi als Agentur mit der Herstellung von Netzwerken – tätig. Sie machte sich kulturpolitisch unentbehrlich. Zu ihrer Blütezeit wurde der Firmensitz im Bikinihaus zur Drehscheibe für alle, die für Berlin etwas Neues beginnen wollten und Unterstützung benötigten. 

Auch hier war Torsten mit seinem ausgleichenden Wesen und Offenheit für neues Denken in seinem Element als einfühlsamer Vermittler und Begleiter.

Es ist kein Geheimnis, vielmehr war es reale Bedingung für Erfolge und die Befähigung zu großen Formaten, dass ein Kollegium gut ausgebildeter, hochmotivierter unerschrockener junger Leute – ohne Hierarchien am Werk war – trau keinem über 40, so hieß es. Fachlich erstklassige Experten auf ihrem Gebiet, exzellente Wissenschaftler, Architekten, Techniker, Handwerker – Debutanten allesamt, die die ihnen gestellten Aufgaben in freier Verantwortung mit Rückendeckung ausführen konnten. getragen von gemeinsamen Überzeugungen und den Idealen eines aufgeklärten Humanismus. 

Wir wussten um unser beiderseitiges Glück, in einer fast idealen Konstellation, ohne Vorprägung und Rezept so viel Neues erproben zu dürfen. An jedem der meistens sieben Tage einer Woche kamen wir mit dem Elan starker Überzeugung, mit Zuversicht und mit Freude an den Arbeitsplatz.

Fazit: Wir ehren Torsten Maß als vorbildlichen Akteur avancierter Kulturpolitik: Er lässt das Wesen der Künste und die Relevanz von Kultur und Bildung für die Weiterentwicklung der menschlichen Gemeinschaft erkennen – zwischen reflektierter Anpassung an die Realitäten und bewusstem Widerstand gegen geistige Verkümmerung und die Auflösung fundamentaler sozialer Strukturen. Er fordert zum Denken auf und vermittelt mit seiner Arbeit das Erinnern und den genauen Blick. Immer der großen Sache dienend: Wahrheit und Schönheit als verbindende mitmenschliche Kraft zur Wirkung zu bringen, Kultur nicht zum jederzeit verfügbaren Konsumartikel zu degradieren. 

DANKE, Torsten Maß, für Werk und Treue!

Ulrich Eckhardt