Hans Pischner – Künstler und Funktionär im SED-Staat
Hans Pischner, ausübender Musiker, Musikwissenschaftler, Kulturmanager – ein exemplarischer Fall, beispielhaft für kritische Betrachtungen zur Stellung des Künstlers in einer Diktatur: Wie er überstehen kann, zwischen Anpassung und Widerstand, Selbstzensur und Überlistung, Angriff und Verteidigung. Ein Interpret aus dem Spezialgebiet der Alten Musik partizipiert als Multifunktionär auf breiter Basis am Herrschaftssystem – in latent erklärter Absicht, ein durchaus offenes, humanistisch getöntes Konzept sozialistischer Kulturpolitik zu realisieren. Er war mit allen Facetten der Realität eines repressiven SED-Staates konfrontiert, konnte und wollte ihm nicht in die Nische einer reinen Künstlerexistenz entfliehen – wie es anderen Künstlern oder Kulturschaffenden möglich war, die er dann zu schützen und zu verteidigen hatte gegen eine Diktatur des doktrinären, banausenhaften Mittelmaßes.
Ministerium für Kultur, Kulturbund, Akademie der Künste, Zentralkomitee der SED und Staatoper, größtes und teuerstes Repräsentationsinstitut des Kulturstaates DDR – das waren die Wirkungsfelder, die Pischner umfassenden weitreichenden Einfluß garantierten, den er weidlich nutzte – im Inneren zur Schaffung von Freiräumen und Privilegien – nach außen zur Einfügung seines nach Anerkennung strebenden Staates in den internationalen Kreislauf der Kultur.
Innerhalb des kulturellen Lebens in der DDR und ihrer Hauptstadt markierte das von ihm konsequent auf Vielfalt und Innovation eingeschworene Haus neben Felsensteins Komischer Oper eine alternative eigenständige Position des aktuellen Musiktheaters mit hoher Anziehungskraft – auch für auswärtige Gäste. Schließlich – ganz prosaisch gesehen – brachte seine Arbeit der Regierung dringend erwünschte Devisen aus zahlreichen Auslandstourneen ein. Der Intendant half dem maroden Staat, zugleich vermehrte er damit seinen eigenen kulturpolitischen Einfluß.
Mit Großzügigkeit und relativer, der bedrängenden Realität abgetrotzter Liberalität hat Pischner seine Ämter wahrgenommen. Ja, es stimmt, er hat einen hohen Preis gezahlt, um nach seinen Vorstellungen die Kulturpolitik der DDR über Jahrzehnte mitgestalten zu können. Wie hoch er war, haben wir, hat auch er erst im Nachhinein erfahren.
Er war Johannes R. Bechers Weggefährte in frühem Stadium. Deshalb muß es ihn besonders schmerzlich berührt haben, in dessen Text „Selbstzensur“ eine späte Konfession zu lesen: „Ich muß nicht mehr schweigen. Es gilt, nur noch die Sprache zu finden, um all das Ungeheuerlichem beredt zu machen und wiedergutzumachen, was ich duch Schweigen mitverschuldet habe. Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende und das Ende der menschlichen Tragik selber bedeute …“ So ähnlich wird auch Pischner rückblickend seine bessere Einsicht heute beschreiben können.
Bechers – wie auch Brechts und Eislers – Schicksal beschäftigt einen nachdenklichen Menschen wie Pischner noch immer. Unter seinem Vorsitz formulierte der Präsidialrat des Kulturbunds am 28. November 1989: „Das Verhalten einiger Künstler während und nach den Gesinnungsprozessen – ihr Schweigen wider besseres Wissen und ihre Anpassung an und Akzeptierung von Unterdrückung und Diffamierung aufrechter Gesinnung – wollen und dürfen wir nicht billigen. Besonders betroffen macht uns die Haltung von Johannes R. Becher. Er wandte sich nicht konsequent gegen das Unrecht. Es wird unsere Pflicht sein, die Vermächtnisse Johannes R. Bechers differenziert zu prüfen, um seine auch von Walter Janka anerkannten Leistungen als Dichter und Kulturpolitiker und sein menschliches Versagen im rechten Verhältnis zu sehen. Nicht von Johannes R. Bechers bleibendem Werk, aber von seiner falschen Haltung: Unrecht zu dulden und Willkür gegenüber Andersdenkenden nicht offensiv entgegenzutreten – sagen wir uns heute und für immer entschieden los.“ Ein schmerzliches Fazit!
Kulturbund der DDR – „Teil der Macht unseres Staates“
Die Funktion des Kulturbundes der DDR innerhalb des SED-Staates und Pischners Rolle als sein Präsident seit 1977 und bis zu seinem Ende 1989 zu analysieren, ist von besonderem Interesse für die Beurteilung seiner schicksalhaften Verstrickung. Nach Einschätzung der Parteileitung sollte der Kulturbund „Teil der Macht unseres Staates sein“. Er hatte folglich in der Volkskammer einen Fraktionsstatus. Indessen sah sich der Kulturbund nicht als blind gehorsamer Befehlsempfänger und Vollstrecker von Parteibeschlüssen, sondern als ein Forum der „Intelligenz“, auf dem auch kontroverse Debatten möglich waren und ernsthaft um den richtigen Weg zu eine „sozialistisch“ gestimmten Kultur gerungen wurde.
In seiner programmatischen Antrittsrede markierte der neugewählte Präsident die widerstrebenden Positionen: der „reale Sozialismus mit seinen Grundsätzen und Gesetzmäßigkeiten“ versus „eines nach den Maßstäben ihrer jeweiligen subjektiven Vorstellungen eingerichteten Sozialismus“. In einem Interview im „Sonntag“ reflektierte er seine mehrfachen Engagements: „Ich möchte auf keine dieser Aufgaben verzichten, denn die kulturpolitische Tätigkeit im Kulturbund gibt mir einerseits wertvolle Impulse für meine künstlerische Tätigkeit, und als Künstler würde ich mich wiederum ohne gesellschaftliche Arbeit zu sehr im Abseits befinden“ (zitiert nach Peter Jochen Winters in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Mai 1999).
Gewiß hatte die Partei die Absicht, den Kulturbund zu einem Instrument der Disziplinierung von Künstlern und Intellektuellen zu machen, und erhoffte sich vom neuen Präsidenten willfährigen Vollzug dieses ideologischen Auftrages. Doch ging die Rechnung nicht vollends auf. Verbal signalisierte er sein Einverständnis und seine Überzeugung von der Richtigkeit dieser Strategie. In seinen Taten hingegen unterlief er die auf ihn gerichteten Erwartungen der SED. Mit Hilfe seines internationalen Renommees als Musiker und Intendant konnte er Künstler vor persönlichen Beschädigungen schützen, Gefahren abwenden und Wege ebnen – das alles stets in der Überzeugung, auf diese eigenständige Weise dem lebendigen Ideal des kulturellen Sozialismus besser zu dienen, als es seine Auftraggeber (und manchmal Widersacher) in ihrem bornierten Starrsinn vermochten. Daß er damit zugleich das politische System der DDR stabilisierte – das macht die Tragik in der Ambivalenz seines Wirkens aus, ohne die persönliche Bilanz zu schmälern.
Pischner nahm am 3. Februar 1989 an einer Sitzung der Sektion Musik in der Akademie der Künste der DDR teil. Im von Siegfried Matthus unterzeichneten Protokoll ist zu lesen: „…. Die Welt von heute (ist) im Umbruch … Sich auf die Notwendigkeit zur Veränderung einzustellen, ist eine Forderung des Tages, darüber hinaus ein strategisches Problem. Es wird bedauert, daß die öffentliche und offene gesellschaftliche Diskussion solcher Fragen im Lande offenbar unterdrückt wird… Gesellschaftliche Initiative wird gehemmt, wirkliche Demokratie fragwürdig, weil alle entscheidenden Fragen nur von ganz wenigen Leuten, wenn nicht gar von Genosse Honecker allein entschieden werden… Die Parteiführung müsse endlich dazu übergehen, Fehler auch offen zuzugeben… Die Mitglieder beobachten in der Praxis einen Vertrauensverlust gegenüber der Parteiführung. Sie finden nicht gut, daß kritische Äußerungen so schnell als Defätismus ausgelegt werden… Mißtrauen und Gängelei herrschen vor… Wesentliche Fragen werden nicht verhandelt…“ Prompt wurden diese Einschätzungen am 6. März 1989 von der Akademieleitung als schädigend zurückgewiesen und denunziatorisch angemerkt: „Auch die Verantwortung eines ZK-Mitglieds wie Genosse Pischner bei solchen Diskussionen muß Erwähnung finden.“
Wer nicht selbst erlebt und erduldet hat, in einem Repressionsstaat mit Gesinnungsterror arbeiten zu müssen, kann Pischners Lebensleistung nicht gerecht würdigen. Ohne Empathie und sorgfältige Analyse geht gar nichts. Selbst besonders kritische Beobachter seiner Tätigkeit als „Parteidiener“ können nicht umhin anzuerkennen, daß er in der Zeit seiner Opernintendanz bedeutende Sänger, Regisseure und Dirigenten an das Haus band, eine rege Gastspieltätigkeit im Ausland entwickelte, den Spielplan für zeitgenössische Werke und Inszenierungen öffnete, die bei der Parteiführung auf Kritik stießen., daß er jungen Talenten Chancen vermittelte, sie förderte und gegenüber Attacken der Parteibürokratie beschirmte (s. Peter Jochen Winters, in FAZ v. 8.5.1999). Es gelang ihm, mit Charakterstärke, Überzeugungsfähigkeit, organisatorischem Talent und Schläue die Lindenoper wieder zu einem international beachteten, führenden Musiktheater zu machen.
Wie andere Intellektuelle in der DDR war auch Pischner überzeugt, daß das Ideal eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz besonders geeignet sei, das klassische Erbe des Humanismus zu schützen und weiterzuentwickeln. Als er am 31. Oktober 1989 während einer Tagung des Präsidium des Kulturbundes sein Präsidentenamt abgab, stellte Pischner in seiner Ansprache noch immer die Frage: „Wie weiter, was kann der Kulturbund leisten auf dem Wege zu einem besseren Sozialismus? Sind wir nicht einmal angetreten, in antifaschistischer Tradition mitzuwirken an demokratischer Erneuerung?“
Identität und Integrität
Hans Pischner war kein ergebener Diener der Partei, sondern legte seine Maßstäbe umso höher, je mehr ihm die real existierende DDR und ihre Spitzenfunktionäre Anlaß zu Verbitterung und auch Verachtung gaben. Besonders mußte ihn, den gläubigen und überzeugten Sozialisten, schmerzen, wie er belauert, bespitzelt, hintergangen und verraten wurde. Er hatte es geahnt, vielleicht sogar gewußt, kannte er doch die Anatomie des Systems; aber das ganze Ausmaß des destruktiven Mißtrauens erkannte er erst nach Öffnung der Stasi-Archive.
Die Staatssicherheit, „Schild und Schwert der SED“, hatte das Herrschaftsmonopol der Partei zu sichern. Sie überwachte penibel seine gesamten professionellen Aktivitäten und untersuchte sie auf ihre Vereinbarkeit mit Parteidirektiven. Selbst erst bevorstehende Aufführungen oder Personalentscheidungen ließ sie durch Informelle Mitarbeiter auskundschaften, die im Hause dicht an den Entscheidungen eingesetzt waren. An der Staatsoper trugen sie einschlägige Decknamen wie „Jenufa“, „Othello“, „Max“, „Siegfried“, „Hans Sachs“ oder „Carlos“. Jede Inszenierung wurde auf ihre ideologische „Linientreue“ hin überprüft. Schon zwei Jahre vor der Premiere von Prokofjews „Der feurige Engel“ war die Stasi über deren Interpretationskonzept informiert. Im Bericht des Führungsoffiziers über ein Treffen mit IM „Hans Sachs“ heißt es: „Auf die Frage, ob es an der Oper Tendenzen der Aufweichung gibt, erklärt der IM Folgendes: In der Oper „Der feuriger Engel“ kommt Mystizismus zum Ausdruck. Die Hauptfigur, ein Mädchen, hat sich in ihren Wahnvorstellungen mit irgend einem Gott verbündet, der alle guten Eigenschaften besitzt. Im Großen und Ganzen ist der Text dieser Oper nicht von einem Menschen von Heute ohne weiteres zu verstehen. Es dreht sich um Götter und sonstige Wesen. Man arbeitet an der Umarbeitung des Textes, um ihn einigermaßen verständlich zu machen… Der IM vertritt die Ansicht, daß von Seiten des Intendanten Pischner in der Grundkonzeption nicht eine solche Auffassung vertreten wird und daß es im Allgemeinen keine Gefahr in dieser Beziehung gibt…“
Als 1973 die Uraufführung von Dessaus Oper „Einstein“ angesetzt worden war, hatte IM „Hans Sachs“ schon lange zuvor gemeldet: „Das Libretto läßt den Atem unserer Epochenauseinandersetzung (zwischen Imperialismus und Sozialismus, Krieg und Frieden, Volksmassen und Reaktionären usw.) völlig vermissen… Die Machtkonstellationen sind oftmals so abstrakt gefaßt, daß sie auch für den Sozialismus gelten könnten – im antikommunistischen Sinne… Peinlich und geschmacklos ist die Palette der Arsch-Flüche… In diesen Szenen hat Mickel (der Autor), der keinerlei politisches Gefühl zu besitzen scheint, sich nun endlich auf das Niveau der antisowjetischen Fäkalsprache eines Wolf Biermann … hinaufgearbeitet.“ (zitiert nach: Burkhard Laugwitz „Die Partei hat immer Recht“ in: Das Orchester 5/02, S. 7 ff.)
Trotz aller Widrigkeiten und Anfechtungen hat Hans Pischner seine Identität und Integrität gewahrt. Er ist ein unentbehrlicher Zeitzeuge des Zwanzigsten Jahrhunderts, der sein Deutschland in fünffacher politischer Ausprägung erlebt hat: Kaiserreich – Weimarer Republik – Nazi-Diktatur – DDR – vereinigte Bundesrepublik. Seine Erfahrungen und Berichte sind aufschlußreich für die Erben einer schwierigen Geschichte.
Ulrich Eckhardt, Nachwort des Herausgebers in Hans Pischners Autobiografie „Tasten, Taten, Träume“, Berlin 2006
Hans Pischner (1914–2016) war 1963 bis 1984 Intendant der Staatsoper Unter den Linden, 1970 bis 1978 Vizepräsident der Akademie der Künste der DDR und 1977 bis 1989 Präsident des Kulturbundes der DDR.