Warum müssen die Berliner so viel feiern, Herr Eckhardt?

Ein Gespräch mit Paul Otto Schulz (1988)

Ulrich Eckhardt, Foto Michael Herrmann

Was zeichnet einen guten Festspielleiter vor allem aus?

Er muß ein weites Herz haben, er muß offen sein; vielleicht ganz im Gegensatz zum Intendanten eines produzierenden Kulturinstituts. Die erste Eigenschaft wäre, über eine große Spannweite nicht nur an Interessen zu verfügen, sondern auch an Verständnis, an Liberalität und Toleranz. Die zweite — das ist das Diaghilew-Moment: er muß Menschen zu gemeinsamen Aktionen zusammenbringen können. Zum Beispiel einen Theaterregisseur wie Tabori motivieren können, eine Oper zu inszenieren, wie im Fall von Viktor Ullmanns „Der Tod dankt ab“, die auch noch thematisch etwas zu der dunklen Geschichte des Nationalsozialismus in einem Jubiläumsjahr beitragen soll. Es sind also Fähigkeiten zur Koordination erforderlich. Der Festspielintendant muß gar nicht immer vorne an der Rampe singen; im Gegenteil, er ist eigentlich ein Kulissenschieber.

Muß ein Festivalintendant in allen Sätteln der Kunst zu Hause sein, oder braucht er Spezialisten?

Er soll sich auf keinen Fall einbilden, auf allen Gebieten Bescheid zu wissen. Ebenso schädlich ist es, in allen Sparten nur halb gebildet zu sein. Von dieser Gefahr sind Festspielleiter nicht ganz frei. Deswegen ist es besser, Fachleute heranzuziehen und sich dann auch wirklich auf sie zu verlassen. Er muß also die Kunst des Delegierens im großen Umfang beherrschen, nur so kann man ein Festival über Jahre leiten.

Die Reihe der Festivals ist mit den Jahren immer dichter geworden. Warum müssen die Berliner so viel feiern?

Die von der Berliner Festspiele GmbH veranstalteten Festspiele sind im klassischen Sinne gar keine. Deswegen ist die Frage falsch gestellt. Die Berliner Festspiele sind ein künstlerisches und kulturpolitisches Instrument, das zur Kompensation dafür entwickelt wurde, daß Berlin eine Insel geworden ist. Durch diese Organisation soll die faktisch noch existierende Kulturmetropole an den internationalen Kreislauf angeschlossen bleiben, sie soll Künstler aller Sparten aus aller Welt anziehen und ihnen Foren bereiten. Das hat nichts zu tun mit repräsentativen Festivals wie in Salzburg oder Edinburgh. In Berlin ist das Festival eine notwendige zusätzliche Aktivität zur Maßstabbildung, zur Herbeiführung des Dialogs mit außen, zur Vermittlung von Außenanregungen, die gerade in einer abgeschnürten Stadt, die nicht Nabelschau betreiben darf, wichtig sind. Wenn man die Namen einzelner Festivals nennt — Theatertreffen, Internationale Filmfestspiele —, wird es gleich deutlich, daß jedes seinen bestimmten Auftrag hat. Sie bringen in das jeden Tag festspielwürdige Kulturleben der Stadt Momente ein, die sich nicht von selbst einstellen würden.

Sind es nicht in der Praxis Festivals für die Berliner Elite?

Es ist richtig, daß zum Beispiel zu einem Theatertreffen nicht das normale Abonnentenpublikum kommt. Dafür ist es auch nicht konzipiert. Dieses Festival ist für diejenigen, die als Akteure oder als Rezipienten aktiv an der Weiterentwicklung der Theaterkultur teilnehmen. Sie sind nicht nur aus Berlin, sondern kommen auch aus der Bundesrepublik und aus dem Ausland, um an einer Stelle den Stand des zeitgenössischen Theaters im deutschsprachigen Raum — leider ohne die DDR — gespiegelt zu sehen. Und das auf das Wort „Elite“ zu bringen, verkürzt es zwar, ist aber nicht ganz falsch. Daß überwiegend — das schwankt zwischen sechzig und achtzig Prozent — Berliner als Besucher kommen, ist logisch in einer Zweimillionenstadt, die sich ja auch von der Bevölkerungsstruktur her dadurch auszeichnet, daß hier großes Kontingent an jüngerem Publikum zu finden ist. Und ein sehr neugieriges Publikum dazu. Das sind vor allem die jungen Leute, die jetzt nach Berlin ziehen, weil die Stadt pulsiert. Das sind anspruchsvolle Leute, die, was sie bei uns erfahren, nicht nur konsumieren, sondern für ihren Beruf und ihr Leben fruchtbar machen.

Berlin, das große Versuchslabor der Avantgarde — stimmt das noch?

Ja, das stimmt. Allerdings ist in Europa Berlin nicht das einzige Labor. Immer wieder zu laut zu sagen, man sei Metropole oder man sei das eine Zukunftslabor, ist nicht gut für die Stadt. Viel besser wäre es, sich in einem Konzert mit anderen Kulturmetropolen zu sehen. Die kulturelle Situation der zwanziger Jahre ist nicht im entferntesten wieder erreicht worden. Aber doch ist in Berlin eine auf allen Gebieten der Kunst wirksame realistische Betrachtungsweise geblieben, eine Nüchternheit im Urteil über Geschichte und Gegenwart, die Bereitschaft, in voller Offenheit auch zunächst fremd erscheinende Wege der Erkenntnis zu beschreiten.

Man kann also dem Berliner Publikum mehr zumuten als dem in München, Frankfurt oder Hamburg?

Man soll nicht sagen, daß anderenorts dem Publikum nicht auch etwas zugemutet wird. Aber trotzdem ist es in Berlin immer noch als Erbe aus der frühen Zeit günstiger, etwas Neues durchzusetzen. Manche Zumutung in einer Provinzstadt wird als Provokation wahrgenommen, sie endet aber in einer Sackgasse. In Berlin sind die Chancen groß, daß es Folgen hat.

Die Industrie hat ja Berlin. weitgehend verlassen. Spielt der Kulturbetrieb im Verbund mit der Berlin-Touristik eine Ersatzrolle?

Das kann man so sagen. Der Tourismus, von den Berlinern oft schief angesehen, wird in der Zukunft für Berlin eine wichtige Rolle übernehmen. Das wird jedoch ein Tourismus sein, der sich nicht auf kurzfristige Interessen, sondern auf ein weiter reichendes Bedürfnis der Menschen stützt: in einer urbanen Situation sich ihrer Geschichte und Gegenwart zu vergewissern. Berlin befindet sich in einer Außenseiterposition der bundesrepublikanischen und westeuropäischen Wirklichkeit, weil es die Möglichkeit des Erlebens zweier Welten bietet. Wer nach Berlin reist, bringt ein politisches und historisches Interesse mit. Er kommt nicht wegen der langen Theke, eher wegen der langen Mauer. Denn die Mauer ist auch ein Katalysator zum Verständnis der Frage „Was ist denn hier in der Mitte Europas im zwanzigsten Jahrhundert eigentlich geschehen?“. Man kann die Konsequenzen, auf beiden Seiten ablesen.

Sind die Festivals ein Mittel der Berlin-Politik?

Ganz eindeutig. Die Berlin-Politik war 1951 Anlaß für die Gründung dieser Festspielorganisation der Festwochen. Auch die späteren Festivals, das fünfundzwanzigjährige Theatertreffen, das achtjährige „Horizonte“-Festival der Weltkulturen, sind geschaffen worden, um zusätzliche Rollen für die „Hauptstadt außer Dienst“ zu entwickeln. Ich finde es gut, wenn Politik sich der Möglichkeiten erinnert, die die Kultur hat, für wohlverstandene Interessen Landes einzutreten.

Sehen Sie Erfolge?

Schon bevor die Öffnung der Sowjetunion erfolgte, hat man mit bestimmten thematisch orientierten Berliner Festwochen kleine Schritte in diese Richtung getan. Mit großem Erfolg, meine ich. Inzwischen haben die Berliner Festwochen in Moskau auf allen Ebenen sehr viel Vertrauen erworben. Deshalb können wir den Dialog führen. Denn Vertrauen ist dafür die erste Voraussetzung. Das gleiche gilt für die außereuropäischen Kulturen, etwa für China oder Japan. Von Beginn an sind mit beiden Ländern Verbindungen aufgebaut worden, die jetzt schon reiche Früchte getragen haben. Im übrigen entspricht der Ost-West-Dialog der angestammten Rolle dieser Stadt: Berlin war immer der Knotenpunkt, über den die Ost-West-Kulturkontakte gelaufen sind. Es hat ja von Osten her sehr viele Einflüsse aufgenommen und sehr viele Menschen. Berlin könnte der Bundesrepublik helfen, besser zu verstehen, was in Osteuropa vor sich geht.

Was ist ein qualitativ gutes Festival?

Wenn es nicht beliebig austauschbar ist, wenn es mit der notwendigen Qualität auch verbindliche Inhalte transportiert. Das können ästhetische Fragen sein, das Erkennen oder Zusammenfügen aktueller Tendenzen, ein Dialog unterschiedlicher Kultursprachen. Oder — was in Berlin oft geschieht — die Rückbesinnung auf kulturhistorische Zusammenhänge, aber immer auf den Nutzwert für die Gegenwart bezogen. Oder die Frage: Wo sind Traditionsstränge, die sich in die Zukunft verlängern lassen? Es darf kein folgenloses Feuerwerk stattfinden. Es muß am Ende etwas bleiben an Anstößen — meinetwegen auch Anstößigem —, auf einem Gebiet weiterzumachen; auch mit eigenen Kräften in der Stadt.

Welchen Stellenwert nimmt bei der Beurteilung eines Festivals die Kritik der Medien ein?

Alle Festspiele, mit Ausnahme jener an der Perlenschnur der Welttourneen, haben es schwer mit der Kritik. Das liegt an ihrer Komplexität, die so sehr von der regulären Form des Kulturbetriebs abweicht, daß Kritiker hinterherhinken. Eigentlich sollte man es unterlassen, Festivalproduktionen in der üblichen Geschwindigkeit zu rezensieren, man sollte sie erst einmal im Zusammenhang auf sich wirken lassen. Es gibt eine endlose Zahl von Beispielen, wo Produktionen innerhalb eines Festivals in einer emotionalen Abwehr herunterkritisiert wurden, wenn sie aber später als einzelnes Produkt wieder aufgeführt wurden, erfuhren sie eine viel höhere Bewertung. Ich gelangte dadurch zu der Überzeugung, daß die Komplexität eines Festspielangebotes, wie wir es produzieren, qualitativ etwas ganz anderes ist als die Einzelpremieren großer Ereignisse. Offensichtlich sind für die richtige Festival-Beurteilung die Kriterien noch nicht entwickelt worden. Beim Publikum allerdings hat sich der Transfer von Interessen und Neugierde von einem zum anderen Programmpunkt eingestellt. Man kann beobachten, wie die Besucher an einem roten Faden entlangwandern.

Daraus folgt, daß der Festivalgestalter dem Zeitgeist voraus ist?

Es wäre etwas kühn, ja zu sagen. Ich will es bescheidener formulieren: Ein Festivalleiter ist tatsächlich bemüht, über das einzelne hinaus die Zusammenhänge zu sehen, die innerhalb der Kulturarbeit existieren, aber auch zwischen Kultur, Gesellschaft und Politik vorhanden sind. Insofern sollte es den Festspielleiter auch charakterisieren, mit der Nase im Wind zu sein. Die Kultur wird im Leben der Menschen, der Gesellschaften, der Nationen untereinander eine viel umfangreichere Rolle einnehmen, die sich weniger definieren wird aus der Höchstleistung einzelner Artisten in der Zirkuskuppel und dem Nachvollzug durch die Rezensenten, sie wird mehr in die Breite und in die Tiefe gesellschaftlicher Arbeit hineinreichen. Wenn also Festspiele versuchen, mehr von Zusammenhängen, von Übergängen, auch von Durchlässigkeiten erkennbar zu machen, könnte es sein bei aller Vorsicht —, daß sich der Vorhang ein Stückchen öffnet für einen Blick in die Zukunft der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Da kommt dann immer wieder das Stichwort von der Freizeitgesellschaft ins Spiel, was ein schiefer Begriff ist, weil es sich nicht nur um Freizeit handelt, sondern einfach um die mentale Ausrüstung, die der Mensch der Zukunft braucht.

Wenn Sie sich große Wünsche erfüllen könnten, wie würden die aussehen?

Zu diesen Wünschen gehört die Intensivierung einer wirklich gemeinsamen Kulturarbeit mit der DDR. Es müßte eines Tages möglich sein, gemeinsam darüber nachzudenken und darzustellen, wie nach 1945 die kulturellen Entwicklungen verlaufen sind, auch vor dem jeweiligen Hintergrund der Wahrnehmung des anderen. Nicht um oberflächlichen Gemeinsamkeiten zu huldigen, sondern in dem ernsthaften Bemühen, auch in der Unterschiedlichkeit die Möglichkeiten zu erkennen, die Menschen und Gesellschaften haben, wenn sie eine solche historische Katastrophe hinter sich haben. Davon könnte die Welt viel lernen. Die Erfüllung eines anderen Wunsches ist in greifbare Nähe gerückt: Berlin zum Schnittpunkt des Nord-Süd-Dialogs zu machen, in dem sich europäische und außereuropäische Kulturen fruchtbar begegnen, um zu gemeinsamen, sich wechselseitig durchdringenden neuen kulturellen Äußerungen zu gelangen. Ich meine das „Haus der Weltkulturen“, dessen Gründung bevorsteht. Es ist ein gutes Zeichen, daß es in dieser Zeit überhaupt möglich ist, daran zu denken. Wir haben hier ein Defizit. Die Bundesrepublik hat bisher zu wenig getan, um mit Kultur auch dialogische Außenpolitik zu betreiben. Dieses Haus gehört nach Berlin. Schon durch die Tatsache, daß es herausgenommen worden wäre aus der Nähe zur Politik, bekäme es eine größere Dimension.

Was waren Ihre glücklichsten Momente?

Wenn man selig im Dunkel des Saales steht und beobachtet, was daraus geworden ist, daß man einmal eine Idee oder einen Menschen an eine Startposition gebracht hat.

Das Gespräch führte Paul Otto Schulz
veröffentlicht im F.A.Z.-Magazin Nr. 417 vom 26.02.1988.


Paul Otto Schulz, Autor von Reiseführern, Chefredakteur von Kunst- und Kulturzeitschriften, war in den 1970er Jahren einige Zeit lang Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Festspiele. Er verstarb im November 2020.